Analyse
Erscheinungsdatum: 01. August 2024

Eskalation in Nahost: Weshalb die Doktrin gezielter Tötungen Israel strategisch nicht weiterbringt

Nach der Trauerfeier für Ismail Hanija in Teheran haben Vertreter der von Iran geführten „Achse des Widerstands“ am Donnerstag ihr weiteres Vorgehen gegen Israel miteinander abgestimmt. Die Militärführung in Tel Aviv bereitet sich auf simultane Angriffe aus dem Jemen, Libanon, Irak und Iran vor.

Knapp zehn Monate nach dem Terrorüberfall der palästinensischen Hamas auf den Süden Israels hat das israelische Militär zwei der drei wichtigsten Führer der Islamistenorganisation getötet. Am Donnerstag gab ein Sprecher in Jerusalem bekannt, dass der Hamas-Militärchef Mohammed Deif bereits Mitte Juli bei einem Angriff im Gazastreifen ums Leben gekommen sei. Neben dem politischen Führer der Organisation, Ismail Hanija, der in der Nacht auf Mittwoch in Teheran getötet wurde, und dem Hamas-Chef im Gazastreifen, Jahia Sinwar, bildete Deif die Führungstroika der 1988 während der ersten Intifada gegen die israelische Besatzungsmacht gegründeten Hamas.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte Mossad-Direktor David Barnea unmittelbar nach dem Terrorüberfall im Oktober 2023 autorisiert, Kader der Hamas zu eliminieren, an welchem Ort auf der Welt auch immer. Damit unterstrich er das erklärte Kriegsziel Israels, die militärischen Strukturen der Hamas zu zerschlagen.

Doch nicht nur, dass die Tötung Hanijas auf iranischem Territorium erfolgte, könnte für Israel strategisch noch Nachteile bringen, so Yossi Melman, Sicherheitsfachmann der israelischen Tageszeitung Haaretz. „In der Vergangenheit hat Israel gezielte Tötungen von palästinensischen Terroristen oder iranischen Atomwissenschaftlern als letztes Mittel genutzt und als Teil einer größeren Strategie“, sagte er Table.Briefings. „Aber seit dem Beginn des Krieges scheint es so, dass die Doktrin gezielter Tötungen zum Selbstzweck geworden ist.“

So habe Netanjahu bis heute keinen Plan für ein Ende des Krieges gegen die Hamas im Gazastreifen vorgelegt, sondern sei getrieben von Rache – was dazu führen dürfte, dass das „Ping-Pong-Spiel von Angriff und Gegenangriff mit Hisbollah und Iran“ immer weitergehe. Ganz zu schweigen von Fortschritten bei den von Katar geführten Verhandlungen über die Freilassung der im Oktober 2023 in den Gazastreifen entführten israelischen Geiseln. „ Wie können Verhandlungen erfolgreich sein, wenn eine Seite den Verhandler der anderen umbringt?“ fragte der Premierminister von Katar, Mohammed Al Thani, am Mittwoch.

Das gilt umso mehr nach dem Doppelschlag gegen die Spitzen von Hamas und Hisbollah diese Woche, der Iran und seine Verbündeten nach Melmans Einschätzung „noch sturer und entschlossener machen“ werde: Nur sieben Stunden vor dem Beschuss des Gästehauses der iranischen Regierung in Teheran, in dem Hanija untergebracht war, war in Beirut am Dienstagabend der Militärkommandeur der Hisbollah, Fuad Shukr getötet worden. Unweit des Gebäudes, in dem sich die Nummer zwei der schiitischen Parteimiliz, die mit 15 Abgeordneten im libanesischen Parlament vertreten ist, befand hatte Israel bereits Anfang des Jahres zugeschlagen: Saleh al-Arouri, einer der Stellvertreter Hanijas, kam im Januar bei einem Drohnenangriff ums Leben.

Um ihr weiteres Vorgehen gegen Israel abzustimmen, kamen am Donnerstag in Teheran iranischen Quellen zufolge Vertreter der sogenannten „Achse des Widerstands“ zusammen. Neben der Hisbollah und der Hamas zählen dazu die jemenitischen Houthi-Rebellen, aber auch der palästinensische Islamische Dschihad und irakische Schiitenmilizen. Bereits am Vortag hatte der Oberste Führer Irans, Ajatollah Ali Khamenei, Israel mit „harter Vergeltung“ für die Tötung Hanijas gedroht: „Wir sehen es als unsere Pflicht an, sein Blut in diesem bitteren und schwierigen Vorfall auf dem Gebiet der Islamischen Republik zu rächen“, sagte der 85-Jährige.

Angeblich soll Khamenei einen Angriff auf Israel bereits angeordnet haben. Auch politische Beobachter in Israel und Libanon rechnen mit einem solchen Schritt, die israelische Militärführung ordnete für Flugabwehrkommando und andere Einheiten am Donnerstag die höchste Alarmstufe an. Im April hatte Iran mehr als 300 Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen Richtung Israel abgefeuert. Es war der erste direkte Angriff Irans auf Israel, das sich seit Jahrzehnten in einem Schattenkrieg aus gezielten Tötungen, Sabotageakten und Cyberattacken mit der Islamischen Republik befindet.

Mit dem Großangriff hatte Teheran im April auf die Tötung mehrerer hoher Offiziere der iranischen Revolutionsgarden auf dem Botschaftsgelände des Landes in Damaskus reagiert – allerdings erst zwölf Tage später. Dass der israelische Sicherheitsapparat auch dieses Mal hingehalten werden könnte, ehe eine Reaktion erfolgt, dürfte Teil der Drohkulisse sein, die Teheran aufbaut, um Israel im Unklaren über sein weiteres Vorgehen zu lassen. „Wie der Iran und die Widerstandsfront reagieren werden, wird derzeit geprüft“, sagte der iranische Generalstabschef, Generalmajor Mohammed Baqeri, am Donnerstag im staatlichen Fernsehen. „Das zionistische Regime“, wie Israel seitens der iranischen Führung bezeichnet wird, werde das „zweifellos bedauern“.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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