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Erscheinungsdatum: 19. April 2024

Burchardt und Karger: „Regulierung sollte nicht als Verhinderung, sondern als Ermöglichung verstanden werden“

Innovationsfreundliche Politik unterstützt Wissenschaft und Wirtschaft, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die technisch realisierbar und gesellschaftlich wünschenswert sind. Wichtig ist zudem eine von KI-Innovationen beflügelte Erkenntnis-, Diskurs- und Gründungskultur.

Politik ist gefragt, wenn wissenschaftliche Ergebnisse zu Innovationen führen, die ein hohes Veränderungspotenzial haben. Das ist bei KI als Querschnitts- und Schlüsseltechnologie der Fall. Die originäre Aufgabe der Politik ist die Sicherstellung eines prosozialen Anwendungsrahmens, und das Instrument dafür ist die Regulierung. Der Vorsatz, neben den Risiken auch die Chancen zu betrachten, ist ein Gemeinplatz in Sonntagsreden und auch in fast jedem journalistischen Beitrag, etwa über den EU AI Act.

Die mit Regulierung verbundenen Fragen zur Angemessenheit treffen momentan noch auf eine Öffentlichkeit, in der sich das Thema KI und die mögliche Leistungsfähigkeit weniger aus eigener Anschauung oder fachlichen Quellen speist, sondern eher mit einem fiktionalen Hintergrund verbunden ist. Terminator, Frankenstein, Star Trek oder Kubricks Odyssee im Weltraum lenken jedoch ab, wenn es um die realistische Einschätzung von KI-Chancen geht.

Um ein Beispiel für die mögliche Regulierung von Chancen herauszugreifen, nehmen wir die digitale Auflichtmikroskopie bei der Hautkrebsvorsorge. Diese basiert heute auf KI, diagnostiziert hervorragend, kann als zweite Meinung dem Gesundheitssystem unnötige (Folge-)Kosten ersparen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Obwohl die Betriebskosten (Abnutzung, Strom) gering sein dürften, bleibt dieser gemeinwohlorientierte KI-Einsatz de facto Besserverdienenden vorbehalten, da Kassenpatienten derzeit bis zu deutlich über 100 Euro pro Screening bezahlen müssen – eine gesundheitspolitische Entscheidung.

Um die Aus- und Nebenwirkungen solcher Entscheidungen besser einschätzen zu können, sollte der Staat selbst innovationsförderlich in die Weiterentwicklung der Technologie investieren, die er reguliert. Ein Stichwort dazu ist „Kognitive Sozialsimulation“. Dabei werden beispielsweise regionale demografische Daten genutzt und agentenbasierte Prognosen ermöglicht, die für die politische Arbeit bedeutend sein können.

Regulierung sollte nicht als Verhinderung, sondern als Ermöglichung verstanden werden. Sie sollte durch Rechts- und Verfahrenssicherheit Investitionen schützen, Investitionstätigkeit anregen und Erfindungen bewirken. Der politische und mediale Regulierungsdiskurs darf nicht auf abstrakte Technologie fokussieren, sondern muss leitende Grundsätze in den Mittelpunkt stellen.

Zu den sehr nachvollziehbaren, risikobasierten Regulierungsprinzipien gehört, dass KI-Anwendungen nicht für die automatisierte Bewertung von Menschen eingesetzt werden dürfen und dass deshalb sensible Bereiche wie Human Ressources, Kreditvergabe oder Strafbemessung einen herausgehobenen Status haben. Dies wird dadurch umgesetzt, dass Letzt-Entscheidungen von Menschen zu treffen sind und für die Betroffenen nachvollziehbar sein müssen.

Die Autorschaft und damit die Haftung für die Folgen verbleiben bei der Entscheiderin oder dem Entscheider, die sich der persönlichen Verantwortung nicht durch den Verweis auf ein KI-Ergebnis entziehen können. Bei genauerem Hinsehen ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn Maschinen können nicht wirklich selbst entscheiden – so wie ein Navi nicht entscheiden kann, jetzt links zu fahren, auch wenn es sich manchmal so anfühlt.

Die Beispiele illustrieren Herausforderungen bei der Regulierung einer Querschnittstechnologie: Die betroffenen Lebensbereiche sind praktisch unbegrenzt. Und man muss sich davor hüten, Dinge doppelt zu regulieren, wie etwa Medizinprodukte. Man muss sich unter dem bereits genannten Stichwort der Angemessenheit immer wieder zwingen, den Anteil von KI an neuen Regulierungslücken möglichst genau zu benennen und sich dabei nicht von Begriffen wie „selbstlernend“ blenden zu lassen.

KI ermöglicht Werkzeuge als Fähigkeitsverstärker. Für die technische Einschätzung der möglichen Zielerreichung benötigt man informierten Werkzeugrealismus. Hier kann die Politik aufklärerisch den Aufbau von KI-Informiertheit und damit die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger fördern. Wobei darauf zu achten ist, dass die erkenntnisorientierte Stimme der Wissenschaft nicht durch die umsatzorientierte Stimme der wirtschaftlichen Akteure überlagert wird.

Um KI-Chancen zu ergreifen, ist es wichtig, inhaltliche Ziele zu benennen und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Deshalb ist es hilfreich, mit Moon Shots zu arbeiten, also mit visionären Projektkonzepten, die im Erfolgsfall ein hohes Maß an Verbesserungen mit sich bringen und gleichzeitig demokratisch legitimiert sind. Krebs und Demenz besiegen, Strom bedarfsgerecht einsetzen, Mobilität erhalten gehören zu potenziellen Zukunftserfolgen von KI. Sie werden aber nur erreicht, wenn es einen gesellschaftlichen Konsens über die faire Erhebung, Sammlung und Nutzung von Gesundheits-, Verbrauchs- oder Mobilitätsdaten gibt und KI-Forschung auf dieser Basis intensiviert werden kann.

In der kommenden nationalstaatlichen Umsetzung des EU AI Acts wird es darum gehen, auch zukünftig agil auf aktuelle KI-Weiterentwicklungen reagieren zu können. Politik agiert dann innovationsfreundlich, wenn sie Wissenschaft und Wirtschaft unterstützt, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die technisch realisierbar und gesellschaftlich wünschenswert sind. Und die perspektivisch die Lebensqualität sichern, verbessern oder Lösungspfade für die großen Herausforderungen unserer Zeit anbieten.

Wir brauchen Freiräume für Wissenschaft und Start-ups und eine von KI-Innovationen beflügelte Erkenntnis-, Diskurs- und Gründungskultur, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und die gesellschaftlichen, geopolitischen und ökologischen Herausforderungen zu meistern.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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