Mathew Guest, britischer Soziologe, Professor für Religionssoziologie und Dekan der Fakultät für Theologie und Religion an der britischen Durham University, fordert, dass es auf dem Campus von Hochschulen mehr „provocative encounters“ geben müsse, bei denen Studierende wie Lehrende mit kritischen Debatten konfrontiert werden, welche ihnen helfen, ihre eigene Weltsicht infrage zu stellen und die dazu anregen, eigene tief verwurzelte oder gar ‚vererbte’ Annahmen zu überdenken.
Doch in seinen eigenen Forschungen kommt er zu den ernüchternden wie herausfordernden Ergebnissen, dass nur zwölf Prozent der Studierenden häufig, 49 Prozent nie und der Rest äußerst selten solche „provocative encounters“ im Studium oder auf dem Campus erlebten. Er fordert deshalb, dass wir nicht nur die Fähigkeit „to disagree well“ wieder erlernen sollten, sondern dass hier das Herz akademischer Bildung adressiert werden muss, wie Hochschulen solche Encounter ermöglichen.
In Wellen werden Hochschulen in der westlichen Welt und auch in Deutschland seit Jahren von ideologischen, ja weltanschaulichen Kämpfen erschüttert. Beginnend mit „blacklife matters“ und erbittertem Streit über postkoloniale Vergangenheit wie auch Verantwortung, über hasserfüllte Corona -Kampagnen und dann die Frage von Gender, Transgender und wie viel Geschlechter es gibt, bis hin zu feindseliger Auseinandersetzung zu Israel und Palästina.
Norbert Bolz, emeritierter Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin schreibt „Von rechts hört man ,Ausländer raus!‘ und von links ‚Nazis raus! – es ist derselbe Wutstarrkrampf.‘ Er fasst zusammen: „Der Streit, ob es Meinungsfreiheit gibt, wird so aggressiv ausgetragen, dass man gar keine Zweifel mehr daran haben kann, wie sehr die Meinungsfreiheit gefährdet ist“.
Monatelang war Kathleen Stock, Philosophieprofessorin an der University of Sussex in den sozialen Netzwerken als transphob gebrandmarkt worden. Sie wurde zur Zielscheibe der Kritik, weil sie öffentlich die Ansicht vertritt, das biologische Geschlecht einer Person könne nicht geändert werden. Eine Gruppe anonymer Onlinenutzer, die sich selbst als „Trans-Aktivisten“ bezeichnen, forderte aggressiv ihre Entlassung. Sie wurde massiv beschimpft und bedroht. Die international renommierte Professorin kapitulierte vor den öffentlichen Anfeindungen und trat von ihrem Posten zurück.
Damals wurde „ Cancel Culture “ in Großbritannien von einem Randbegriff zu einem medial bekannten Begriff. Dezember 2021 wurde Jo Phoenix, Professorin für Kriminologie an der britischen Open University entlassen, nachdem über 360 Professorinnen und Professoren ihrer Universität ihre Entlassung wegen Gründung des Gender Critical Research Networks (GCRN) in einem offenen Brief gefordert hatten. Ihr Dekan verglich sie mit einem „racist uncle.“
Im Januar 2024 fällte das Gericht – ohne dass Revision eingelegt wurde – das Urteil, dass die Universität die Professorin persönlich und in ihrer Forschung nicht geschützt habe gegen ein „hostile environment“. In Deutschland veröffentlichte die steuerfinanzierte Heinrich-Böll-Stiftung schon 2017 unter dem Namen „Agent*In“ Informationen über Organisationen und Personen, die antifeministischer und genderkritischer Positionen angeklagt wurden. Nach heftigen Protesten wurde das Portal geschlossen.
Die Berliner Humboldt-Universität darf eine eigene Wissenschaftlerin nicht öffentlich abqualifizieren. Das entschied jüngst das Berliner Verwaltungsgericht auf Antrag der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht. Die Universität hatte 2022 deren öffentlichen Vortrag zur Biologie der beiden Geschlechter wegen Protesten linker Aktivisten und einer befürchteten Eskalation abgesagt.
Damals erklärte die Universität, die Aussagen der Biologin zum Transgender-Streit und zum Transgender-Erklärvideo der „Sendung mit der Maus“ „stehen nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“. Diese Äußerung wurde nun vorläufig untersagt, da Marie-Luise Vollbrecht in der Folge massiv angefeindet worden sei und das Statement geeignet sei, das Ansehen der Frau herabzusetzen.
Gender-Studies stehen natürlich unter massivem Druck, weil ihre Grundannahmen – Geschlecht sei eine von der Biologie unabhängige soziale Konstruktion – umstritten sind und politisch zur Veränderung von Bildungseinrichtungen benutzt werden. In einer Bundestagsrede im Dezember 2020 habe ich gegen einen AFD-Antrag den Gender-Wissenschaften die Freiheit und das Recht zugesprochen, sich durch demonstrierte wissenschaftliche Güte zu einer anerkannten Wissenschaft zu ‚mendeln‘. Aber das steht noch aus.
Der Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda hat in seinem Blog „Harvard und die Folgen“ außerordentlich differenziert diesen Kulturkampf von rechts wie von links – egal ob man ihn Tribalisierung oder Polarisierung nennt – in den USA beschrieben, und zwar anlässlich der Rücktritte der MIT-Präsidentin Sally Kornbluthund der Präsidentin der University of Pennsylvania, Liz Magill.
Nach ihrer Befragung durch trumpistische Kongressabgeordnete, ob der Aufruf zum Völkermord an Juden gegen universitäre Richtlinien zu Mobbing und Belästigung verstoße. Ich meine: ein Kulturkampf von rechts gegen den Kulturkampf sogenannter ‚linksliberaler‘ Universitäten. Man könnte auch sagen, wer Wind sät, wird Sturm ernten!
Wir müssen Maß und Mittel bewahren. Deshalb unterstütze ich auch den Deutschen Hochschulverband (DHV) darin, dass er sich nicht vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit distanziert, weil ein (!) irrlichterndes Mitglied an dem berüchtigten Potsdamer Treffen teilgenommen hat. In seiner Presseerklärung von Dienstag hat der DHV erneut deutlich gemacht, dass er sich von Rechtsextremismus abgrenzt, aber dennoch für ein sehr breites Spektrum an Positionen einsteht, sofern sie sich innerhalb des allgemeinen Rahmens des Rechts bewegen. Der DHV kommentiert: „Unliebsame, den eigenen Überzeugungen zuwiderlaufende Ansichten und Meinungen sind im Diskurs zuzulassen und zu respektieren.
Für pointierten argumentativen Streit basierend auf Fakten ist in der Wissenschaft Platz, für Einschüchterungen, Mobbing oder Boykott dagegen nicht“. Erika Steinbach war 27 Jahre CDU-Bundestagsabgeordnete und fünf Jahre parteilos, bevor sie in die AfD eintrat. Jede politische Organisation hat solche Grenzgänger, die sich dann irgendwann so wie der frühere grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der frühere SPD – Finanzsenator Thilo Sarrazin oder eben Erika Steinbach anders einsortieren. Das muss eine Demokratie ertragen können.
Wenn die Präsidentin der TU Berlin, Geraldine Rauch zudem kommentiert, die Äußerungen des Netzwerks stärkten das Narrativ der neuen Rechten, dann muss man ihr vorhalten, dass sie aus einer grün-gefärbten Position heraus spricht, was sie nicht kenntlich gemacht hat. Ich finde es auch nicht gut, wenn sich Medien – wie auch Table.Research – hier parteiisch aufstellen.
Wie klug dagegen, dass der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), Professor Christoph Markschies, die Kritik an der Vermietung des Einsteinsaales der BBAW an das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit mit dem Argument zurückwies, dass eine Ablehnung bestätigt hätte, dass bestimmte Positionen gecancelt werden.
Innovating Innovation: Das britische Office for Students (OfS) ist eine unabhängige, politische Einrichtung, die nicht Teil der Regierung ist, aber das britische Parlament über das Department for Education (DfE) unterrichtet. Typisch für angelsächsische Arbeit – nicht alles politisch direktiv regulieren, sondern unabhängige Expertinnen und Experten nutzen. Weiche Regulierung (soft law) anstelle von teutonischem Durchgriff des Staates.
Im Sommer 2023 wurde Arif Ahmed, Cambridge-Professor für Philosophie zum, wie es die Briten nennen „First Free Speech Tsar“ im OfS ernannt. Als Direktor of Free Speech and Academic Freedom muss er die Sprache beschützen, "that some may find controversial, offensive or distasteful, as long as what is being said, is within the law“. Welch grundsolide Betrachtung der Dinge.
Egal, ob hochvulgär oder akademisch geschwängert – es zählt Gesetz und Verfassung, nicht Stil! Er kann Strafen verhängen, wenn Hochschulen oder studentische Initiativen Rednerinnen und Redner ohne gute Gründe verhindern oder auch wenn akademische Institutionen ihren Mitgliedern Zwangsverhalten verordnen oder sie bestrafen, für das, was sie auf Social Media sagen. Welch freiheitliche Attitüde!