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Erscheinungsdatum: 24. Juni 2025

Fünf Jahre nach Wirecard: Die EU schreckt Markt-Whistleblower weiterhin ab

Leerverkäufer waren im Fall Wirecard die Ersten, die Betrug witterten. Auch in anderen Fällen deckten sie unsaubere Praktiken auf. Doch in der EU werden sie mit vielen Hürden vom Markt ferngehalten.

Diese Woche jährt sich der Wirecard-Skandal zum fünften Mal, nachdem das Unternehmen im Juni 2020 überraschend bekannt gegeben hatte, dass 1,9 Milliarden Euro „verschwunden“ seien. Eine Gruppe von Marktteilnehmern war jedoch nicht schockiert: Leerverkäufer. Sie hatten jahrelang vor dem kometenhaften Aufstieg von Wirecard gewarnt. Sie veröffentlichten Studien, stellten die Finanzlage des Unternehmens infrage und warnten Investoren sowie Aufsichtsbehörden. Als das Ausmaß des Betrugs deutlich wurde, stürzte der Aktienkurs von Wirecard ab und vernichtete Milliarden aus den Portfolios von Anlegern in ganz Europa und weltweit.

Leerverkäufer spielten eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung des Fehlverhaltens – man könnte also meinen, dass sie als willkommene Marktteilnehmer gelten. Doch auch fünf Jahre nach dem Skandal bestehen in der EU weiterhin Hindernisse, die Leerverkäufer vom Markt fernhalten. Das ist eine verpasste Chance, zumal sich die Vorteile von Leerverkäufen immer wieder gezeigt haben. Wirecard und Enron sind extreme Beispiele – doch es gibt unzählige weniger bekannte Fälle, in denen Leerverkäufer Fehlverhalten aufgedeckt, irreführende Darstellungen infrage gestellt, überbewertete Aktienkurse korrigiert und wichtige Liquidität bereitgestellt haben, die zu stabilen und gut funktionierenden Märkten beiträgt.

Obwohl die EU die Verbesserung der Kapitalmärkte im Rahmen der Spar- und Investitionsunion priorisiert hat, wurde das Regelwerk für Leerverkäufe bislang nicht überarbeitet. Eine stärkere Integration der Kapitalmärkte lässt sich jedoch nur erreichen, wenn Maßnahmen zur Förderung von Unternehmens­transparenz, Meinungsvielfalt, effektiver Marktaufsicht und eines stabilen Handelsumfelds umgesetzt werden. Leerverkäufer leisten in all diesen Bereichen einen Beitrag und können somit eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung der Märkte spielen.

Sie tun dies, indem sie frühzeitig vor nicht tragfähigen Geschäftsmodellen, überzogenen Bewertungen und – wie im Fall von Wirecard – regelrechten Betrugsfällen warnen. Ihre Arbeit nützt den Anlegern, verbessert die Preisbildung und sorgt dafür, dass Kapital in die produktivsten Bereiche fließt. Außerdem ist allgemein bekannt, dass Märkte besser funktionieren, wenn ausreichend Liquidität vorhanden ist. Leerverkäufer tragen zur Liquidität bei, indem sie geliehene Aktien kontinuierlich verkaufen und später zurückkaufen, wodurch das Handelsvolumen auf beiden Seiten des Marktes steigt.

Nach der Finanzkrise von 2008 führte die EU ihre problematische Leerverkaufsverordnung (SSR) ein. Diese Vorschriften wurden seit über einem Jahrzehnt nicht wesentlich angepasst – obwohl wiederholt gezielte Verbesserungen gefordert wurden und obwohl die EU sich die Vereinfachung und Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zum Ziel gesetzt hat.

Die Verordnung schreibt vor, dass Marktteilnehmer, die Short-Positionen oberhalb eines Schwellenwerts von 0,5 Prozent der ausgegebenen Aktien halten, diese veröffentlichen müssen. Einerseits ist diese Detailtiefe für Investoren wenig hilfreich; andererseits setzt sie Leerverkäufer öffentlicher Kritik aus und ermöglicht es zudem, dass andere Anleger ihre gründlich recherchierten Strategien kopieren.

I nfolgedessen setzen viele Leerverkäufer nur noch auf minimale Short-Positionen, die nicht offengelegt werden müssen, oder verzichten ganz auf diese Strategie. Das verzerrt die Funktionsweise des Marktes, erhöht die Volatilität und unterdrückt wichtige Marktsignale. Noch besorgniserregender ist, dass dadurch die frühzeitige Erkennung von Fällen wie Wirecard erheblich erschwert wird.

Die SSR ermächtigt die nationalen Behörden sogar, Leerverkäufe in Zeiten von Marktstress zu verbieten. Jüngste Erkenntnisse, darunter eine Studie der ESMA zu Verboten in der COVID-Ära, haben jedoch gezeigt, dass solche Beschränkungen die Liquidität und Preisbildung beeinträchtigen können – mit Auswirkungen, die noch lange nach Aufhebung der Verbote anhalten. Deutschland hatte den Leerverkauf von Wirecard-Aktien im Februar 2019 verboten – was vermutlich berechtigte Kurskorrekturen verzögerte und das Unternehmen vor einer genaueren Prüfung schützte. Dies schadete Anlegern, die möglicherweise zu Allzeithochs in die Aktie eingestiegen waren.

Praktische Reformen liegen in greifbarer Nähe. Das Vereinigte Königreich hat bereits einen ausgewogeneren Ansatz gewählt und in diesem Jahr Gesetze verabschiedet, die aggregierte Offenlegungen auf Emittentenebene ermöglichen. Dieses Modell liefert Anlegern entscheidungsrelevante Informationen und sorgt für Transparenz gegenüber den Regulierungsbehörden, ohne einzelne Positionen oder Strategien offenzulegen. Die EU sollte diesem Beispiel folgen und drei Schritte zur Modernisierung ihres Ansatzes unternehmen: Erstens sollte sie individuelle öffentliche Offenlegungen durch aggregierte Offenlegungen auf Emittentenebene ersetzen. Zweitens sollte sie ein einheitliches, EU-weites Meldeportal schaffen – statt der aktuell bestehenden 27 nationalen Systeme. Drittens sollten nationale Behörden verpflichtet werden, vorgeschlagene Verbote klar zu begründen und transparent zu kommunizieren.

Diese Verbesserungen würden die Leerverkaufsregeln besser mit den Zielen der EU in Einklang bringen, nämlich stärkere und integriertere Kapitalmärkte zu schaffen. Das soll durch höhere Wettbewerbsfähigkeit, geringere Compliance-Kosten, mehr Transparenz und bessere Instrumente für das Risikomanagement der Anleger erreicht werden. Besonders wichtig ist, dass dadurch auch abweichende Stimmen – wie die derjenigen, die Wirecard leer verkauft haben – gehört und berücksichtigt werden.

Die Überarbeitung der Leerverkaufsregeln sollte unbedingt Teil der EU-Agenda sein, wenn die Union das volle Potenzial ihrer Kapitalmärkte entfalten möchte. Fünf Jahre nach Wirecard ist klar geworden: Stärkere und widerstandsfähigere Märkte brauchen eine gesunde Skepsis – und eine Politik, die diese Skepsis fördert und möglich macht.

Bryan Corbett ist seit 2020 Präsident und CEO von MFA, der Managed Funds Association. MFA vertritt globale alternative Vermögensverwalter wie Hedgefonds, private Kreditfonds und andere Arten alternativer Anlagestrategien. Hauptsitz von MFA ist Washington, seit 2022 unterhält der Verband aber auch eine Dependence in Brüssel.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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