Wenn am Sonntag Europawahl wäre… Grüne legen zu

Von Manuel Müller
Der Historiker und Politikwissenschaftler Manuel Müller erstellt seit 2014 regelmäßig Sitzprojektionen zur Europawahl.

Ein gutes Jahr ist es noch bis zur Europawahl vom 6. bis 9. Juni 2024, und allmählich wird der Ton zwischen den europäischen Parteien rauer. Anfang Mai sagte die sozialdemokratische Fraktionschefin im Europäischen Parlament, Iratxe García Pérez, mit der christdemokratischen EVP sei „keine Zusammenarbeit mehr möglich“. Frans Timmermans, Kommissionsvizepräsident und sozialdemokratischer Spitzenkandidat von 2019, legte nach und warnte vor einer „neuen politischen Dynamik“, in der die EVP „mehr nach rechts schaut“.

EVP-Pressesprecher Pedro López de Pablo wies Timmermans Aussage zurück und warf umgekehrt der sozialdemokratischen S&D-Fraktion eine Nähe zur „extremen Linken“ vor. Der italienische Außenminister, EVP-Vizevorsitzende und frühere EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani warb derweil offensiv für eine verstärkte Zusammenarbeit der EVP mit der Rechtsfraktion EKR.

Informelles Bündnis zwischen EVP und S&D

Dass das informelle Bündnis aus EVP und S&D, das seit jeher im Mittelpunkt der Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament steht, wirklich am Ende ist, ist jedoch unwahrscheinlich. Tatsächlich rief die S&D schon 2016 einmal das „Ende der Großen Koalition“ aus, ohne dass sich in der Praxis allzu viel änderte. Die EU ist strukturell auf Konsens angelegt: Mehrheiten im Europäischen Parlament, die eine der großen Parteien ausschließen, sind punktuell möglich, aber nicht dauerhaft tragfähig. Das zeigt sich schon am Spitzenkandidatenverfahren, in dem das Parlament gegenüber dem Europäischen Rat nur dann eine Chance hat, wenn es geschlossen auftritt.

Doch mit einer solchen Ansage lässt sich allerdings schlecht Wahlkampf betreiben. Damit die Wähler erkennen können, wofür die unterschiedlichen Parteien stehen, ist ein gewisses Maß an Polarisierung und Konflikt notwendig. Und so gehört es zum Ritual, dass EVP und S&D sich vor der Europawahl öffentlich ihre wechselseitige Abneigung erklären – und sich anschließend schnell wieder zusammenraufen müssen, um im Parlament handlungsfähig zu sein.

Mehrheitsverhältnisse sind diesmal knapper

Hinzu kommt, dass auch die Umfragen in diesem Jahr knapper sind als bei vielen früheren Wahlgängen. Wenn jetzt Europawahl wäre, käme die EVP im Basis-Szenario der Sitzprojektion auf 162 Sitze, die S&D auf 137 (beide unverändert gegenüber der letzten Projektion von Ende März). Im dynamischen Szenario – das mögliche Fraktionsbeitritte von nationalen Parteien berücksichtigt, die bei der Europawahl erstmals Sitze gewinnen könnten – ist das Polster der EVP etwas komfortabler (172 zu 137 Sitze). Aber entschieden ist diese Wahl noch lange nicht.

Schon jetzt zeichnet sich allerdings deutlich ab, dass ein Bündnis aus EVP und S&D allein auch nicht genügen wird. Bei der Europawahl 2019 verlor die Große Koalition im Europäischen Parlament erstmals ihre Mehrheit und ist seitdem auf eine Zusammenarbeit mit der liberalen Fraktion Renew Europe (RE) oder den Grünen angewiesen. Daran dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern.

In der aktuellen Projektion verlieren die Liberalen leicht und kommen nun auf 92 Sitze (-2 gegenüber März, dynamisches Szenario: 99 Sitze). Formal wären sie damit weiterhin die drittstärkste Fraktion im Parlament. Durch ihre Schlüsselstellung in der Mitte des europäischen Parteiensystems ist ihr tatsächlicher Einfluss jedoch deutlich größer, da nicht nur die Große Koalition, sondern auch nahezu jede mögliche Mitte-links- oder Mitte-rechts-Allianz ihre Unterstützung benötigt.

Bester Wert seit zwei Jahren für die Grünen

Die Grünen wiederum haben zwar in ihrer Hochburg Deutschland gerade eine Menge Ärger. In vielen anderen EU-Mitgliedstaaten konnten sie in den letzten Wochen jedoch dazugewinnen, sodass sie in der Projektion nun auf 50 Sitze klettern (+8, dynamisch: 54). Das ist ihr bester Wert seit zwei Jahren. Auch die europäische Linke legte nach Umfrageverlusten im Frühjahr zuletzt wieder zu und kommt auf 49 Sitze (+5, dynamisch: 50). Das entspricht in etwa ihrem langfristigen Durchschnitt in dieser Wahlperiode.

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums setzt sich die traditionell Nato-freundliche Rechtsfraktion EKR weiter gegenüber der traditionell russlandnahen ID ab: Die EKR kommt auf 79 Sitze (+1), die ID auf 67 (-⁠1). Im dynamischen Szenario, das einen möglichen Beitritt der derzeit fraktionslosen ungarischen Regierungspartei Fidesz zur ID berücksichtigt, liegt diese hingegen noch knapp vor der EKR (83 zu 82 Sitze). Die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten geht auf 33 zurück (-⁠5), im dynamischen Szenario sogar auf 28.

Aggregierte nationale Umfragen und Wahlergebnisse

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Sitzprojektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Im Basisszenario sind alle nationalen Parteien jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet; Parteien ohne eindeutige europäische Zuordnung sind als „Sonstige“ ausgewiesen. Das dynamische Szenario weist alle „sonstigen“ Parteien jeweils einer Fraktion zu, der diese plausiblerweise beitreten könnten, und bezieht auch andere mögliche Veränderungen der Fraktionen ein.

Nähere Hinweise zu Datengrundlage und Methodik der Projektion sowie eine Aufschlüsselung der Ergebnisse nach nationalen Einzelparteien finden sich auf dem Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Manuel Müller ist Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki und betreibt den Blog „Der (europäische) Föderalist“. Er veröffentlicht seine Projektion zur Europawahl auf seinem Blog und bei Table.Media.

Mehr zum Thema

    Recycelte Metalle gehören in den Rohstoffclub
    What’s cooking in Brussels? Angst vor den Landwirten
    Afrika-Strategie — zwischen Ohnmacht und Pragmatismus
    Mehr Kooperation mit der kleinsten Weltmacht