am Dienstagvormittag spricht Bundeskanzler Olaf Scholz im Europaparlament. Das Datum 9. Mai ist ein historisches, nicht nur, weil an diesem Tag in Russland und anderswo der Sieg über Nazi-Deutschland begangen wird. Am 9. Mai 1950 stellte Robert Schuman seine Idee einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Dass die Rede von Olaf Scholz am Europatag ähnlich visionär sein wird, ist eher nicht zu erwarten. Wesentliche neue Impulse seien in Straßburg jedenfalls kaum zu erwarten, heißt es in Berlin. Seine europapolitischen Vorstellungen hatte Scholz bereits im vergangenen Sommer in Prag vorgetragen.
Von seinen Prager Plänen hat der Kanzler bislang wenig umgesetzt. Ähnlich ernüchternd fällt die Zwischenbilanz für die Konferenz zur Zukunft Europas aus. Am 9. Mai 2022 war die von Bürgern mitgestaltete Zukunftskonferenz mit einem Festakt im Straßburger Plenum zu Ende gegangen. Aber nur die EU-Kommission hat mit Blick auf die 49 Reformvorschläge bereits etwas vorzuweisen, wie Markus Grabitz analysiert.
In Berlin zu Besuch ist heute Margrethe Vestager. Robert Habeck hat die Vizepräsidentin der Kommission zu sich ins Wirtschaftsministerium eingeladen, um öffentlich zu diskutieren über das Zusammenspiel von Staat und Markt bei der ökologischen Transformation. Besonders interessieren dürfte sich die Wettbewerbskommissarin für Habecks Konzept eines Industriestrompreises. Mehr dazu finden Sie in den News.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche!
49 Punkte enthielt der Abschlussbericht der “Konferenz zur Zukunft Europas”, die im vorigen Jahr am 9. Mai – dem Europatag – mit einem Festakt im Straßburger Plenum zu Ende ging. Inzwischen zeigt sich: Eine echte Reformdynamik hat die Zukunftskonferenz nicht ausgelöst. “Ein Jahr danach sind so gut wie keine Ergebnisse vorzuweisen”, sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Die Zukunftskonferenz habe nicht dazu geführt, dass die Institutionen die untereinander bestehenden Widersprüche aufgelöst hätten, stellt der Forschungsgruppenleiter fest. Stattdessen hätten sich Rat und Parlament weiter im Klein-Klein verhakt. Der große Streitpunkt bleibt, ob Änderungen an den Europäischen Verträgen notwendig sind. Das Parlament fordert die Einberufung eines Verfassungskonvents. Unter den Mitgliedstaaten gibt es dafür aber nicht genug Unterstützung.
“Wenn es nach dem 9. Mai ein Zeitfenster für Reformen gab, dann ist es jetzt schon wieder nahezu geschlossen, weil der Vorwahlkampf für die Europawahl im nächsten Jahr begonnen hat”, sagt Ondarza. Allenfalls sei die Konferenz eine “gute Übung für das nächste Mandat” gewesen.
Welche Punkte aus dem Abschlussbericht haben Parlament, Rat und Kommission umgesetzt?
Am meisten kann die Kommission vorweisen. In den Bürgerforen der Zukunftskonferenz hatten die ausgewählten Bürger verlangt, stärker bei der Gesetzgebung gehört zu werden. Dafür hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesorgt: Wie in ihrer Rede zur Lage der Union (SOTEU) am 14. September angekündigt, wurden Bürgerforen abgehalten. Jeweils 150 Bürger – zufällig ausgewählt, aus allen Mitgliedstaaten, die Hälfte weiblich, ein Viertel unter 25 – haben jeweils an drei Wochenenden (zwei vor Ort in Brüssel, ein Wochenende virtuell) Empfehlungen zu folgenden Vorhaben ausgearbeitet:
“Die Bürgerforen sind ein Fortschritt”, sagt Ondarza. Allerdings habe sich die Kommission nicht getraut, die Bürger auf zentralen Politikfeldern etwa des Green Deal oder der Digitalisierung einzubinden. “Bei den Bürgerforen sind doch eher kleine und sehr technische Themen aufgerufen worden.”
Hinzu kommt: Nur beim Thema Lebensmittelverschwendung wird es überhaupt einen Gesetzgebungsvorschlag der Kommission geben, vermutlich Anfang Juni. Bei den virtuellen Welten und den Lernmöglichkeiten wird die Kommission nur nicht-legislative Vorschläge bringen. Eine Ratsempfehlung und eine Mitteilung sollen bis zum Herbst folgen. Bürgerforen zu weiteren Themen sind nicht angekündigt.
Das Parlament will die Reformen in Form von Vertragsänderungen angehen. Es hat noch im vergangenen Juni eine Resolution verabschiedet, die den Rat nach Artikel 48 zur Einberufung eines Verfassungskonvents auffordert. Der Rat spielt auf Zeit und hat die Position vertreten, dass eine Resolution nicht ausreicht, sondern ein Bericht beschlossen werden muss. Die Arbeiten an dem Bericht dauern an. Berichterstatter sind:
Noch wird verhandelt. Der Bericht soll im Juli-Plenum in Straßburg beschlossen werden. Als zentrale Forderungen für Vertragsänderungen zeichnen sich ab:
Die Mitgliedstaaten müssten grünes Licht geben, damit es zum Konvent kommt. Vor allem die skandinavischen Staaten, Ungarn und Polen sind gegen einen Konvent. Für die Einberufung bedarf es im Rat nicht der Einstimmigkeit – es reicht, wenn eine Mehrheit von 14 Mitgliedstaaten dafür ist. Die Bundesregierung spricht sich im Koalitionsvertrag für einen Konvent aus. Außerdem hatten Spanien, Belgien, Italien, Niederlande und Luxemburg Unterstützung signalisiert. Auch Frankreich dürfte einem Konvent zustimmen.
Ondarza kritisiert, die Bundesregierung setze sich zu wenig für ihr erklärtes Ziel eines Konvents ein. Die Ampel hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag für einen verfassungsgebenden Konvent und eine Weiterentwicklung der EU zu einem föderalen Bundesstaat ausgesprochen. “Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die Prioritäten verschoben, ein aktives Hinarbeiten der Bundesregierung hin zu einem Konvent ist aktuell nicht erkennbar.”
Die Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann (Grüne), verweist hingegen auf die Initiative für mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat: “Jetzt haben wir mit acht weiteren Mitgliedstaaten eine Freundesgruppe ins Leben gerufen, um Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen”, sagte sie Table.Media. Seit Monaten laufen in den Ratsarbeitsgruppen Verhandlungen dazu, einen Durchbruch gibt es noch nicht.
Lührmann fordert, die Zukunftskonferenz dürfe “keine Eintagsfliege” sein. “Die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU durch institutionelle Reformen ist unerlässlich.” Sie Von einem Konvent spricht sie dabei allerdings nicht.
In Düsseldorf findet in diesen Tagen die internationale Verpackungsmesse Interpack statt. Als “heiße Themen” der Veranstaltung werden Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung aufgezählt. “Nachhaltigkeit ist das Thema Nr. 1 in der Verpackungsbranche und der verwandten Prozessindustrie”, sagte Thomas Dohse, Direktor der Interpack, im Vorfeld. “Wir treffen auf eine große Entschlossenheit der Industrie, diesen Transformationsprozess aktiv zu gestalten.”
Die Industrie wehrt sich jedoch mit Kräften gegen die Pläne der EU-Kommission, um Verpackungsmüll zu reduzieren. Die Verordnung soll die bisherige Richtlinie über Verpackungen und Verpackungsabfälle ersetzen und damit in vielen Bereichen eine EU-weite Harmonisierung der Vorschriften bewirken. Berichterstatterin Frédérique Ries (Renew) erklärte am Donnerstag im Umweltausschuss des Europaparlaments, es handele sich um eines der komplexesten Dossiers ihrer über 20-jährigen Zeit als Abgeordnete.
Die öffentliche Konsultation der Kommission zählte 500 Beiträge, Abgeordnete berichten von massiver Lobbyarbeit. “Seit Beginn meines Mandats habe ich noch nie so viele Lobbyanfragen erhalten wie zur Verpackungs- und Verpackungsabfall-Verordnung”, sagt Schattenberichterstatterin Delara Burkhardt (SPD). Zurzeit erhalte sie dazu etwa dreißig Telefon- und E-Mailanfragen pro Tag.
Das Thema beschäftigt viele Interessengruppen: Während die Industrie am Recycling festhält und sich gegen Maßnahmen für Mehrwegverpackungen wehrt, fordern Umweltorganisationen noch ambitioniertere Vorgaben für die Vermeidung von Verpackungen und dem resultierenden Müll.
Den stärksten Widerstand, erklärte Frédérique Ries, gebe es in Bezug auf Artikel 26 des Kommissionsvorschlags. Dieser enthält Zielvorgaben für die Wiederverwendung und Wiederbefüllung für verschiedene Sektoren und Verpackungsformate. Artikel 22 verbietet zudem Einwegverpackungen in der Gastronomie zum Verzehr von Speisen und Getränken am Platz. Besonders umstritten ist hier der Take-Away- und der Getränke-Sektor.
Dabei hatte die Kommission ursprünglich noch höhere Ziele geplant. Mit Einwänden der Industrie konfrontiert, schraubte sie diese Ambitionen dann im Ende vergangenen Jahres vorgestellten Entwurf wieder herunter. Für heiße und kalte Getränke schlug sie Wiederverwendungsquoten von 20 Prozent bis 2030 und 80 Prozent bis 2040 vor; für Lebensmittelverpackungen entsprechend 10 und 40 Prozent.
Ein eigens gegründetes Lobbybündnis der Industrie stellt nun erneut die entsprechende Folgenabschätzung der Kommission infrage und forderte kürzlich in einem offenen Brief an die EU-Institutionen, den Politico veröffentlichte, die Verhandlungen zu pausieren. Im April haben sich dreizehn Unternehmen und Verbände zu dem Bündnis “Together for Sustainable Packaging” zusammengeschlossen, darunter mehrere Restaurantketten wie McDonald’s, KFC und Pizza Hut sowie europäische Papierverpackungshersteller und deren Verband EPPA. Ihre Kampagne wird von der Schweizer Kommunikationsberatung Boldt AG durchgeführt.
Das Bündnis zieht die von McDonald’s in Auftrag gegebene Kearney-Studie und weitere angeblich unabhängige Studien heran, um aus Gründen des Umweltschutzes für Einwegverpackungen aus Papier im Take-Away-Sektor zu argumentieren. Mehrwegverpackungen würden knapp 40 Prozent mehr Wasser, 46 Prozent mehr fossile Rohstoffe und 82 Prozent mehr Metalle als recycelbare Einwegverpackungen verbrauchen, erklärt EPPA, und warnt vor den Konsequenzen “gut gemeinter” Gesetze.
Die Verfechter von Mehrwegsystemen ziehen Studien heran, die diesen eine weitaus bessere Ökobilanz zuschreiben. Fest steht: Es gibt keine einfache Lösung in diese Frage – die Vorteile von recycelbaren Einwegverpackungen sowie von Mehrwegsystemen hängen von vielen unterschiedlichen Faktoren ab.
Ein Spalt verläuft auch durch den Umweltausschuss im EU-Parlament: Frédérique Ries streicht in ihrem am Donnerstag vorgestellten Berichtsentwurf die Wiederverwendungsziele und will damit Rücksicht auf einen Sektor nehmen, der nach den Krisen der vergangenen Jahre sehr fragil sei. “Ich wollte diesen Entwurf auf bewährte Praktiken und fundierte Analysen aus den Mitgliedstaaten stützen”, erklärte sie. Diese habe sie in Artikel 26 des Kommissionsentwurfs jedoch nicht gefunden. Deshalb fordere sie, die Vorgaben zu überdenken.
Unterstützung dafür erhielt sie aus der EVP. Grüne und Sozialdemokraten fordern indes die Beibehaltung der Ziele. “Recycling allein ist, obwohl die Industrie das gerne behauptet, nicht die Lösung”, sagte Delara Burkhardt. “Und auch einfache Substitutionen zwischen verschiedenen Einwegverpackungs-Materialien reichen nicht aus, um den dramatischen Anstieg des Verpackungsmülls zu bekämpfen.” Abfallvermeidung und Wiederverwendung müssten an der Spitze der Vorschriften stehen, forderte sie.
Die Berichterstatterin im Industrieausschuss, Patrizia Troia (S&D), ist sich noch unsicher: Im Entwurf ihrer Stellungnahme schreibt sie, sie erkenne den Wert an, “den die Wiederverwendung bestimmter Verpackungen in bestimmten Sektoren haben kann”, fordert jedoch weitere Analysen, bevor Ziele festgelegt werden. Der Industrieausschuss wird am 23. Mai über den Entwurf diskutieren.
In Deutschland müssen Gastronomiebetriebe bereits seit Anfang dieses Jahres Mehrwegverpackungen für Take-Away-Speisen anbieten. Das sieht das deutsche Verpackungsgesetz vor. Das Umweltbundesamt erklärt in einer Stellungnahme, der Entwurf der Kommission bleibe in mehreren Bereichen hinter dem deutschen Gesetz zurück, und fordert eine Schärfung auf EU-Ebene. So sollten ehrgeizigere Wiederverwendungsziele und kürzere Übergangsfristen beschlossen werden als in Artikel 26 bislang vorgesehen. Die Mitgliedstaaten müssten zudem die Möglichkeit haben, eigenständig noch höhere Ziele für Wiederverwendung und Wiederbefüllung festzulegen.
Es war ein Tweet des FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Müller-Rosentritt, der bei Ampel-Kollegen für Irritationen sorgte: “Dank intensiver Intervention des @BMF_Bund und der @fdpbt konnten wir – gegen den ausdrücklichen Willen unserer Koalitionspartner – das #Provisionsverbot vorerst stoppen”.
Die Liberalen frohlockten. So überschwänglich, dass Parteikollege und Finanzminister Christian Lindner auch gleich noch die Geringverdiener vereinnahmte: “Ein Provisionsverbot hätte es gerade Kunden mit geringerem Einkommen schwerer gemacht, Beratung kostengünstig und niedrigschwellig in Anspruch zu nehmen.”
Worum geht es?
Die EU-Kommission, allen voran Finanzkommissarin Mairead McGuiness, hatte Ende vergangenen Jahres ein Verbot von Provisionen beim Verkauf von Finanzprodukten in Aussicht gestellt. Zumindest wollte sie die exorbitant hohen Ausschüttungen beim Abschluss von Verträgen spürbar deckeln.
Es war ein Plan, der die Finanzgemeinde aufrüttelte. Verbraucherschützer applaudierten, “ein Schritt in die richtige Richtung”, lobte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis. Von einem “wichtigen Schritt zur Verbesserung der Transparenz” sprach auch Ex-Kommissar Michel Barnier.
Zugleich setzten Banken und Versicherungen, Vermögensberater und Anlagespezialisten, allesamt durchaus gut organisiert im Ringen um Einfluss, ihre Lobbyisten in Marsch. Allen voran die Vertreter der Großbanken und Versicherungen. Die klopften in Berlin und Brüssel an, Sparkassen und Volksbanken redeten auf Abgeordnete ein. Bundestagsparlamentarier wurden bedrängt: “Ihr verratet die Interessen der Sparkassen!”
Die Lobbyvertreter mobilisierten insbesondere in Deutschland alles und jeden, der sich mobilisieren ließ. Von einem “Bärendienst für Kleinanleger” sprach der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Selbst Finanzminister Christian Lindner begab sich auf den Kampfplatz, kaum hatte die Kommissarin ihre Absicht geäußert: Er sei “sehr besorgt”, schrieb er in einem offenen Brief nach Brüssel, ein Verbot sei “ein bedeutender Rückschritt” im Bemühen, Anlagemöglichkeiten auf europäischen Kapitalmärkten zu erleichtern.
In Deutschland sind rund 300.000 Berater in Sparkassen, Banken und Versicherungen von Provisionszahlungen abhängig. Für sie hätte ein Verbot weitreichende Folgen. Die Finanzindustrie allein in Deutschland verdient jährlich Milliarden an den Provisionen, wie die bankenkritische Organisation Finanzwende errechnet hat. Die Beraterinnen und Berater bekommen ihr Geld, indem sie für jeden verkauften Fonds und jede Versicherungspolice mehrere Prozente Provision kassieren. Je teurer ein Produkt, desto höher die Provision. Es versteht sich, dass für die Berater deshalb bisweilen eher der Vertragsabschluss als eine solide Beratung im Vordergrund steht.
Andere Länder haben längst reagiert. In Großbritannien oder den Niederlanden sind hohe Provisionen verboten, die zudem gleich zu Beginn bei Vertragsabschluss ausgeschüttet werden – ohne dass das Geschäft eingebrochen wäre. Der alternative Grundgedanke deshalb in Brüssel und auch in den roten und grünen Fraktionen in Berlin: Kunden sollen den Berater für seine Arbeitszeit bezahlen, analog zum Steuerberater oder Anwalt in Form eines Honorars.
Doch die organisierte Intervention in Brüssel hatte zunächst Erfolg: Die Kommission stellte die Idee eines Provisionsverbots vorerst zurück. Hohe Provisionen wären demnach weiterhin erlaubt.
Bei Sozialdemokraten und Grünen überwog der leise Groll. “Das ist ein Problem für uns”, sagt der SPD-Finanzexperte Michael Schrodi, der Provisionen ebenfalls nicht per se verbieten will. “Aber wir wollen keine für Verbraucher schädliche Verquickung von Abschluss und Beratung.” Der “massive Lobbydruck” sei auch bei ihm angekommen.
Bei den Grünen ist der zuständige Berichterstatter Stefan Schmidt der Ansicht, “dass das aktuelle System, das nahezu ausschließlich auf Provisionsbasis gestützt ist, falsche Anreize setzt”. In vielen Fällen seien “Provisionen eben nicht der Garant für unabhängige Beratung, sondern für Verkäufe von überteuerten Finanzprodukten, unabhängig von der Qualität oder Eignung”. “Das Vertrauen in gute Beratung ist leider erodiert”, ergänzt Kollegin Katharina Beck.
Der Streit schwelt schon länger. Schon in den Koalitionsverhandlungen war das Provisionsverbot Thema: “Wir wollten mehr honorarbasierte und weniger provisionsbasierte Beratung”, berichtete seinerzeit ein Sozialdemokrat. “Mehr Schutz und gute Beratung.” Aber: “Mit der FDP war nicht mal ein Kompromiss möglich.”
Das ist inzwischen anders – trotz des Jubel-Tweets von Frank Müller-Rosentritt. Gemäßigte Liberale lassen inzwischen durchaus ein gewisses Problembewusstsein erkennen. “An die hohen Provisionen gerade in der Anfangsphase sollten wir ran”, sagt einer mit Einfluss unter ihnen. Grundsätzlich will er an Provisionen festhalten, sie jedoch auf der Zeitschiene strecken und gegebenenfalls nach oben deckeln.
Dass die FDP sich bewegt, erwarten auch die Aufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Sie blicken überaus kritisch auf das ungezügelte Provisionswesen. Die Bankenaufsicht hat bereits angekündigt, dass sie ihre “Prüfungstätigkeit ausweiten und intensivieren” will. Viele Berater kassierten mehr als vier Prozent der vertraglichen Beitragssumme. Die Aufsicht spricht von einer “frontlastigen Kalkulation von Vertriebs- und Abschlusskosten” und stellt ganz grundsätzlich die Frage, ob eine Abschlussprovisionszahlung “überhaupt noch vertretbar” sei.
Von “Exzessen in der Provisionsgestaltung” sprach unlängst auch der Bafin-Chefaufseher für das Versicherungswesen, Frank Grund. In einem internen Papier der Bundesanstalt heißt es: “Hohe Effektivkosten in der Spitze lassen ernsthaft daran zweifeln, dass die Produktfreigabeverfahren den Bedürfnissen der Kunden ausreichend Rechnung getragen haben.”
Die Bafin kündigte an, solche Unternehmen genauer zu prüfen, “die durch hohe Aufwendungen für Versicherungsvermittler und insbesondere Zahlung hoher Abschlussprovisionen auffallen”. Sozialdemokrat Schrodi hat die Hoffnung jedenfalls nicht aufgegeben. “Wenn auch kein Verbot – eine Einschränkung wird kommen.” Er rechnet mit einem zeitnahen Vorschlag der Kommission.
Noch im Mai will die Kommission den Vorschlag für eine übergreifende Ethikbehörde für die Institutionen beschließen. Nach Informationen von Table.Media sieht das Konzept vor, dass die Ethikbehörde vor allem dem technischen Austausch über die jeweiligen Standards, Regeln und Verhaltenskodexe in allen EU-Institutionen dienen soll, darunter Europaparlament, Rat und Kommission.
Dies hat die zuständige Vize-Präsidentin Vera Jourova dem Vernehmen nach bei einer Runde der Fraktionschefs am Donnerstag deutlich gemacht. Das Ethikgremium, das die Kommission vorschlagen will, soll dem Vernehmen nach aber nicht die Kompetenz bekommen, bei Verstößen Sanktionen verhängen zu dürfen. Damit dürfte das Konzept für Enttäuschung im Parlament sorgen. Wie weiter zu hören ist, soll das Gremium, das die Kommission plant, sich auch nicht mit individuellen Fällen von Fehlverhalten beschäftigen. Das Parlament hatte in einem Bericht gefordert, dass die unabhängige Ethikbehörde die Kompetenz haben muss, Verstöße zu ahnden.
Daniel Freund (Grüne), Berichterstatter zum Ethikgremium: “Der Korruptionsskandal um Eva Kaili und unzählige Drehtürwechsel in der Kommission haben gezeigt, dass das System der Selbstkontrolle und Selbstsanktionierung versagt hat. Ohne Durchsetzung sind Regeln wertlos.”
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zum Beginn der Wahlperiode einen Vorschlag für ein unabhängiges Ethikgremium angekündigt. Nach Bekanntwerden des Kaili-Skandals hat von der Leyen den Vorschlag erneut in Aussicht gestellt. mgr
Damit auch finanzschwache EU-Staaten Strompreise für ihre energieintensive Industrie subventionieren können, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) europäische Kreditgarantien ins Spiel gebracht. Über ein befristetes Sonderprogramm “Europäischer Brückenstrompreis” könnten ähnlich wie beim SURE-Programm den betroffenen Mitgliedstaaten günstige Kredite zur Verfügung gestellt werden, heißt es in einem am Freitag vorgestellten Arbeitspapier von Habecks Ministerium.
Mit Krediten aus dem SURE-Programm hatten mehrere EU-Staaten während der Corona-Krise Kurzarbeit bezahlt. Zur Finanzierung hatte die EU-Kommission Anleihen im Wert von knapp 100 Milliarden Euro begeben, die durch freiwillige Garantien der Mitgliedstaaten abgesichert wurden. Das Bundesfinanzministerium verwies auf Anfrage auf Äußerungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zu schuldenbasierten Fonds und Instrumenten auf EU-Ebene. Lindner lehnt neue Gemeinschaftsfonds mit gemeinsamen Schulden ab.
Mittelfristig will Habeck den Industriestrompreis stärker durch mögliche Übergewinne erneuerbarer Energien finanzieren und damit auf Konfrontationskurs zur EU-Kommission gehen, die auch die Verbraucher stärker an den Rückflüssen beteiligen will. Bei der Strommarktreform werde man sich dafür einsetzen, “dass die Mitgliedstaaten die Einnahmen aus CfDs […] gezielt an die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie weitergeben können, damit die Einnahmen für einen wettbewerbsfähigen Strompreis ausreichen”, heißt es in Habecks Papier.
Die Kommission will dagegen in Zeiten hoher Strompreise Übererlöse von staatlich geförderten erneuerbaren Energien an alle Stromkunden gemäß ihrem Verbrauch verteilen. Haushalte hatten 2021 laut BDEW einen Anteil von 27 Prozent am Stromverbrauch, bei der Industrie waren es 44 Prozent. Der VDMA kritisierte, es müsse “auf jeden Fall vermieden werden, dass große klimaneutral erzeugte Strommengen dem freien Markt entzogen werden“. ber
Industrievertreter kritisieren, dass die EU-Institutionen ihre Bedenken über negative Folgen des Data Acts für europäische Unternehmen nicht angemessen berücksichtigen. Trotz einiger Fortschritte könne der aktuelle Gesetzesvorschlag die “Wettbewerbsfähigkeit einiger der erfolgreichsten europäischen Unternehmen nachhaltig schädigen“, schreibt der Wirtschaftsverband Digitaleurope in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Vizepräsidentin Margrethe Vestager, Kommissar Thierry Breton und die schwedische Ratspräsidentschaft.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören die CEOs von Siemens, SAP und Datev, Roland Busch, Christian Klein und Robert Mayr. Sie äußern sich besorgt “über das halsbrecherische Tempo, mit dem die Trilog-Verhandlungen geführt werden”. Es lasse wenig Raum für eine eingehende Diskussion der komplexen Details. Derzeit finden die Trilog-Verhandlungen zum Data Act auf technischer Ebene statt.
Es sind vor allem drei Bereiche, in denen die Unternehmen negative Folgen erwarten: für die Zukunft datengestützter Geschäftsmodelle, die Cybersicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit, wenn Unternehmen Kern-Know-how und Designdaten preisgeben müssten. Dies werfe auch Fragen hinsichtlich der technologischen Führungsrolle der EU auf.
Die Unternehmen fordern daher:
Die nächsten Trilog-Verhandlungen zum Data Act auf politischer Ebene sind für den 23. Mai und 28. Juni terminiert. vis
Mit dem Digital Services Act (DSA) legt die EU sehr großen Online-Plattformen (VLOPs) und sehr großen Online-Suchmaschinen (VLOSEs) eine ganze Reihe von Verpflichtungen auf. Damit das Gesetz seine Wirkung auch entfaltet, braucht die Kommission Unterstützung durch unabhängige Prüfungen. Sie sind ein wichtiges Instrument der Rechenschaftspflicht für den DSA.
Die Kommission hat jetzt den Entwurf einer Verordnung zur Durchführung unabhängiger Audits vorgelegt und fragt dazu Feedback ab. Die Konsultation läuft bis zum 2. Juni. Demnach plant die Kommission, die Regeln vor Ende des Jahres zu verabschieden.
Der Entwurf des Rechtsakts enthält die wichtigsten Grundsätze, die Prüfer bei der Auswahl von Prüfungsmethoden und -verfahren anwenden sollen. Ebenso enthält er weitere Spezifikationen für die Prüfung der Verpflichtungen von VLOPs und VLOSEs zu Risikomanagement und Krisenreaktion. Er umfasst auch Vorlagen für den Prüfungsbericht und die Berichte, die veröffentlicht und der Kommission und dem Koordinator für digitale Dienste im Land der Niederlassung des Unternehmens vorgelegt werden.
Am Ende soll der Prüfbericht “eine klare, unabhängige Stellungnahme zur Übereinstimmung der VLOPs und VLOSEs mit dem DSA enthalten”, teilte die Kommission mit. Die ersten Prüfberichte sind spätestens ein Jahr nach Beginn der Anwendung der DSA-Verpflichtungen fällig. Die ersten 19 VLOPs und VLOSEs hatte Kommissar Thierry Bretron Ende April benannt. vis
Die EU-Kommission will künftig auch Exporte in Drittstaaten beschränken können, um die Umgehung der Russland-Sanktionen zu erschweren. Das sieht der Vorschlag für ein elftes Sanktionspaket vor, der am Freitag an die Mitgliedstaaten übermittelt wurde.
Konkret ist laut EU-Kreisen geplant, zur Abschreckung zunächst die rechtliche Möglichkeit zu schaffen, Exporte in Drittstaaten wegen einer mutmaßlichen Umgehung von Sanktionen einzuschränken. Wenn dies nicht ausreicht, könnten dann in einem zweiten Schritt bestimmte Ausfuhren tatsächlich unterbunden werden. Betroffen sein könnten insbesondere Güter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Als Beispiele wurden Nachtsichtgeräte genannt, die von Jägern und Sicherheitsfirmen, aber auch Soldaten eingesetzt werden.
Als Länder, über die Sanktionen gegen Russland umgangen werden, gelten beispielsweise Kasachstan, Georgien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Der Türkei wurde zuletzt von EU-Experten bescheinigt, vergleichsweise entschlossen auf entsprechende Hinweise zu reagieren.
Aus den EU-Staaten selbst dürfen schon seit Monaten viele Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden. Dazu zählen neben Dual-use-Gütern auch bestimmte Arten von Maschinen und Fahrzeugen oder bestimmte Halbleiter.
Über den Vorschlag der Kommission sollen am kommenden Mittwoch die EU-Botschafter in Brüssel beraten. Ziel ist es, das elfte Sanktionspaket noch in diesem Monat zu beschließen. Neben dem neuen Instrument für Exportkontrollen soll es unter anderem auch Strafmaßnahmen gegen weitere Personen und Organisationen umfassen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen.
Die Bundesregierung steht den Plänen grundsätzlich offen gegenüber. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte sich bereits im Februar für ein deutlich schärferes Vorgehen gegen die Umgehung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ausgesprochen. dpa/tho
Lesen Sie bei China-Table ein Interview mit dem Ökonomen Gabriel Felbermayr, wie China von den Russland-Sanktionen profitiert.
Die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová hat am Sonntag die Bildung einer neuen Regierung aus Experten und Beamten angekündigt. Diese stehe unter der Leitung des Finanzexperten Ludovit Odor. Der 46-Jährige ist derzeit Vize-Gouverneur der slowakischen Nationalbank NBS.
Zuvor hatte Interims-Ministerpräsident Eduard Heger seinen Rücktritt angekündigt. Als Grund nannte er, dass die Präsidentin keinen seiner Vorschläge akzeptiert habe, wie er die Regierung in der aktuellen politischen Krise nach dem Rücktritt mehrerer Minister weiterführen könne.
Čaputová sagte, Heger solle seine Arbeit fortsetzen, bis die Minister der Expertenregierung in der Woche ab 15. Mai ihre Ämter anträten. Sie wolle bis dahin noch die Parlamentsparteien informieren, sagte die Präsidentin in Bratislava.
Die konservativ-populistische Regierung unter Hegers Führung gehört zu den entschlossensten militärischen Unterstützern des von Russland angegriffenen Nachbarlands Ukraine. Sie verlor aber schon im Sommer 2022 ihre Parlamentsmehrheit und im Dezember auch noch ein Misstrauensvotum. Dennoch gelang es ihr, die eigentlich nach einem Sturz der Regierung vorgesehenen Neuwahlen bis Ende September hinauszuzögern.
Der Regierung sollten Experten angehören, die nicht die Absicht hätten, bei der Parlamentswahl am 30. September zu kandidieren, sagte Caputova. Damit solle ausgeschlossen werden, dass jemand die vorübergehende Regierungsfunktion zu Wahlkampfzwecken missbrauche. dpa
Erst wenige Tage vor dem Gespräch mit Table.Media ist Funda Tekin in Istanbul angekommen. Drei Monate lebt und arbeitet die Wissenschaftlerin am Bosporus und forscht zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, einer ihrer Schwerpunkte.
Für diesen Aufenthalt hat sich die 45-Jährige Zeit freigeschaufelt, die ansonsten mit ihrer Tätigkeit als Direktorin des Instituts für Europäische Politik (iep) gut gefüllt ist. Seit 2018 steht sie gemeinsam mit Karin Böttger an der Spitze der außen- und europapolitischen Forschungseinrichtung. Zu Tekins Themen gehören die Zukunft der EU, Rechtsstaatlichkeit und die EU-Erweiterung.
Sie ist Koordinatorin des Deutsch-Nordisch-Baltischen Forums und Teil der deutsch-französischen Expertengruppe, die im Auftrag der beiden Länder Vorschläge zu institutionellen Reformen der Europäischen Union erarbeiten soll. Ihren Bericht will die Runde im Herbst vorlegen.
Es gebe großen Reformbedarf in der EU, sagt Tekin. “Damit meine ich: Wir müssen uns handlungsfähig machen.” Gerade mit Blick auf die geplante Erweiterung sei es an der Zeit, die qualifizierte Mehrheitsentscheidung in Angriff zu nehmen, auch wenn das unter den Mitgliedstaaten umstritten sei.
Reformen müsse es auch beim Beitrittsprozess geben. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte, denn die Glaubwürdigkeit der Beitrittsperspektive müsse unbedingt erhalten bleiben. In den Gesprächen mit der Ukraine und Moldau sei es wichtig, alte Fehler nicht zu wiederholen. “Erwartungsmanagement” ist ein Begriff, den Tekin in diesem Zusammenhang öfter benutzt. Dass die Ukraine in den nächsten fünf Jahren EU-Mitglied werde, sei zu optimistisch, und das müsse die EU auch deutlich sagen.
Dabei lohne es sich, das Konzept der differenzierten Integration zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess würde es bedeuten, Zwischenstufen zu schaffen. “Ich weiß, dass das nicht so beliebt ist, weil damit die Befürchtung verbunden ist, dass diese Zwischenstufen permanent werden”, sagt Tekin. “Aber man sollte zumindest darüber nachdenken, gerade weil der Prozess länger dauert.” Denkbar sei etwa eine vorzeitige Eingliederung in den Binnenmarkt.
So rege zurzeit über die EU-Erweiterung gesprochen werde – die Türkei werde dabei oft ausgeklammert. “Das ist eine Leerstelle in der Debatte”, sagt Tekin. “Doch die EU-Türkei-Beziehungen sind da und sie brauchen eine Form.”
Tekins Aufenthalt in Istanbul, gefördert von der Stiftung Mercator, fällt in die Zeit der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Mitte Mai: Von deren Ausgang dürfte abhängen, wie es mit den Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara weitergeht. Sollte die Opposition gewinnen, sagt Tekin, würde sich an der Außenpolitik wohl gar nicht so viel ändern. “Aber der Ton würde sich ändern. Man hätte dann wieder einen Partner, mit dem man reden kann.”
Europa und die Türkei als Themen begleiten Tekin schon lange. Ihre Diplomarbeit hat die Volkswirtin über die Europäisierung der Türkei geschrieben. Promoviert hat sie zur differenzierten Integration in der EU. Sie hat am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europapolitik der Universität Köln gearbeitet und mehrere Forschungsprojekte zu Europa und den EU-Türkei-Beziehungen geleitet. Im Sommer tritt sie eine Honorarprofessur zu European Governance an der Universität Tübingen an.
Dass Tekin die EU und die Türkei zu ihren Themen gemacht hat, liegt auch an ihrer Familie. Sie ist in Deutschland mit einem türkischen Vater aufgewachsen. Darum fühle sie sich nicht eindeutig einem Land zugehörig, sondern als Europäerin, sagt sie. Ein Gefühl, das durch ihr Auslandsjahr an der Sciences Po in Paris verstärkt worden sei.
Wenn sie frei hat, geht sie ins Ballett, verreist und verbringt Zeit in der Natur. Nun aber richtet Tekin sich erst mal in ihrem Istanbuler Alltag ein. Sie wohnt auf der asiatischen Seite der Stadt, ins Büro fährt sie mit der Fähre auf den europäischen Teil. In ihrer ersten Woche, erzählt sie, habe sie dabei sogar Delfine gesehen. Sarah Schaefer
am Dienstagvormittag spricht Bundeskanzler Olaf Scholz im Europaparlament. Das Datum 9. Mai ist ein historisches, nicht nur, weil an diesem Tag in Russland und anderswo der Sieg über Nazi-Deutschland begangen wird. Am 9. Mai 1950 stellte Robert Schuman seine Idee einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Dass die Rede von Olaf Scholz am Europatag ähnlich visionär sein wird, ist eher nicht zu erwarten. Wesentliche neue Impulse seien in Straßburg jedenfalls kaum zu erwarten, heißt es in Berlin. Seine europapolitischen Vorstellungen hatte Scholz bereits im vergangenen Sommer in Prag vorgetragen.
Von seinen Prager Plänen hat der Kanzler bislang wenig umgesetzt. Ähnlich ernüchternd fällt die Zwischenbilanz für die Konferenz zur Zukunft Europas aus. Am 9. Mai 2022 war die von Bürgern mitgestaltete Zukunftskonferenz mit einem Festakt im Straßburger Plenum zu Ende gegangen. Aber nur die EU-Kommission hat mit Blick auf die 49 Reformvorschläge bereits etwas vorzuweisen, wie Markus Grabitz analysiert.
In Berlin zu Besuch ist heute Margrethe Vestager. Robert Habeck hat die Vizepräsidentin der Kommission zu sich ins Wirtschaftsministerium eingeladen, um öffentlich zu diskutieren über das Zusammenspiel von Staat und Markt bei der ökologischen Transformation. Besonders interessieren dürfte sich die Wettbewerbskommissarin für Habecks Konzept eines Industriestrompreises. Mehr dazu finden Sie in den News.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche!
49 Punkte enthielt der Abschlussbericht der “Konferenz zur Zukunft Europas”, die im vorigen Jahr am 9. Mai – dem Europatag – mit einem Festakt im Straßburger Plenum zu Ende ging. Inzwischen zeigt sich: Eine echte Reformdynamik hat die Zukunftskonferenz nicht ausgelöst. “Ein Jahr danach sind so gut wie keine Ergebnisse vorzuweisen”, sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Die Zukunftskonferenz habe nicht dazu geführt, dass die Institutionen die untereinander bestehenden Widersprüche aufgelöst hätten, stellt der Forschungsgruppenleiter fest. Stattdessen hätten sich Rat und Parlament weiter im Klein-Klein verhakt. Der große Streitpunkt bleibt, ob Änderungen an den Europäischen Verträgen notwendig sind. Das Parlament fordert die Einberufung eines Verfassungskonvents. Unter den Mitgliedstaaten gibt es dafür aber nicht genug Unterstützung.
“Wenn es nach dem 9. Mai ein Zeitfenster für Reformen gab, dann ist es jetzt schon wieder nahezu geschlossen, weil der Vorwahlkampf für die Europawahl im nächsten Jahr begonnen hat”, sagt Ondarza. Allenfalls sei die Konferenz eine “gute Übung für das nächste Mandat” gewesen.
Welche Punkte aus dem Abschlussbericht haben Parlament, Rat und Kommission umgesetzt?
Am meisten kann die Kommission vorweisen. In den Bürgerforen der Zukunftskonferenz hatten die ausgewählten Bürger verlangt, stärker bei der Gesetzgebung gehört zu werden. Dafür hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesorgt: Wie in ihrer Rede zur Lage der Union (SOTEU) am 14. September angekündigt, wurden Bürgerforen abgehalten. Jeweils 150 Bürger – zufällig ausgewählt, aus allen Mitgliedstaaten, die Hälfte weiblich, ein Viertel unter 25 – haben jeweils an drei Wochenenden (zwei vor Ort in Brüssel, ein Wochenende virtuell) Empfehlungen zu folgenden Vorhaben ausgearbeitet:
“Die Bürgerforen sind ein Fortschritt”, sagt Ondarza. Allerdings habe sich die Kommission nicht getraut, die Bürger auf zentralen Politikfeldern etwa des Green Deal oder der Digitalisierung einzubinden. “Bei den Bürgerforen sind doch eher kleine und sehr technische Themen aufgerufen worden.”
Hinzu kommt: Nur beim Thema Lebensmittelverschwendung wird es überhaupt einen Gesetzgebungsvorschlag der Kommission geben, vermutlich Anfang Juni. Bei den virtuellen Welten und den Lernmöglichkeiten wird die Kommission nur nicht-legislative Vorschläge bringen. Eine Ratsempfehlung und eine Mitteilung sollen bis zum Herbst folgen. Bürgerforen zu weiteren Themen sind nicht angekündigt.
Das Parlament will die Reformen in Form von Vertragsänderungen angehen. Es hat noch im vergangenen Juni eine Resolution verabschiedet, die den Rat nach Artikel 48 zur Einberufung eines Verfassungskonvents auffordert. Der Rat spielt auf Zeit und hat die Position vertreten, dass eine Resolution nicht ausreicht, sondern ein Bericht beschlossen werden muss. Die Arbeiten an dem Bericht dauern an. Berichterstatter sind:
Noch wird verhandelt. Der Bericht soll im Juli-Plenum in Straßburg beschlossen werden. Als zentrale Forderungen für Vertragsänderungen zeichnen sich ab:
Die Mitgliedstaaten müssten grünes Licht geben, damit es zum Konvent kommt. Vor allem die skandinavischen Staaten, Ungarn und Polen sind gegen einen Konvent. Für die Einberufung bedarf es im Rat nicht der Einstimmigkeit – es reicht, wenn eine Mehrheit von 14 Mitgliedstaaten dafür ist. Die Bundesregierung spricht sich im Koalitionsvertrag für einen Konvent aus. Außerdem hatten Spanien, Belgien, Italien, Niederlande und Luxemburg Unterstützung signalisiert. Auch Frankreich dürfte einem Konvent zustimmen.
Ondarza kritisiert, die Bundesregierung setze sich zu wenig für ihr erklärtes Ziel eines Konvents ein. Die Ampel hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag für einen verfassungsgebenden Konvent und eine Weiterentwicklung der EU zu einem föderalen Bundesstaat ausgesprochen. “Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die Prioritäten verschoben, ein aktives Hinarbeiten der Bundesregierung hin zu einem Konvent ist aktuell nicht erkennbar.”
Die Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann (Grüne), verweist hingegen auf die Initiative für mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat: “Jetzt haben wir mit acht weiteren Mitgliedstaaten eine Freundesgruppe ins Leben gerufen, um Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen”, sagte sie Table.Media. Seit Monaten laufen in den Ratsarbeitsgruppen Verhandlungen dazu, einen Durchbruch gibt es noch nicht.
Lührmann fordert, die Zukunftskonferenz dürfe “keine Eintagsfliege” sein. “Die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU durch institutionelle Reformen ist unerlässlich.” Sie Von einem Konvent spricht sie dabei allerdings nicht.
In Düsseldorf findet in diesen Tagen die internationale Verpackungsmesse Interpack statt. Als “heiße Themen” der Veranstaltung werden Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung aufgezählt. “Nachhaltigkeit ist das Thema Nr. 1 in der Verpackungsbranche und der verwandten Prozessindustrie”, sagte Thomas Dohse, Direktor der Interpack, im Vorfeld. “Wir treffen auf eine große Entschlossenheit der Industrie, diesen Transformationsprozess aktiv zu gestalten.”
Die Industrie wehrt sich jedoch mit Kräften gegen die Pläne der EU-Kommission, um Verpackungsmüll zu reduzieren. Die Verordnung soll die bisherige Richtlinie über Verpackungen und Verpackungsabfälle ersetzen und damit in vielen Bereichen eine EU-weite Harmonisierung der Vorschriften bewirken. Berichterstatterin Frédérique Ries (Renew) erklärte am Donnerstag im Umweltausschuss des Europaparlaments, es handele sich um eines der komplexesten Dossiers ihrer über 20-jährigen Zeit als Abgeordnete.
Die öffentliche Konsultation der Kommission zählte 500 Beiträge, Abgeordnete berichten von massiver Lobbyarbeit. “Seit Beginn meines Mandats habe ich noch nie so viele Lobbyanfragen erhalten wie zur Verpackungs- und Verpackungsabfall-Verordnung”, sagt Schattenberichterstatterin Delara Burkhardt (SPD). Zurzeit erhalte sie dazu etwa dreißig Telefon- und E-Mailanfragen pro Tag.
Das Thema beschäftigt viele Interessengruppen: Während die Industrie am Recycling festhält und sich gegen Maßnahmen für Mehrwegverpackungen wehrt, fordern Umweltorganisationen noch ambitioniertere Vorgaben für die Vermeidung von Verpackungen und dem resultierenden Müll.
Den stärksten Widerstand, erklärte Frédérique Ries, gebe es in Bezug auf Artikel 26 des Kommissionsvorschlags. Dieser enthält Zielvorgaben für die Wiederverwendung und Wiederbefüllung für verschiedene Sektoren und Verpackungsformate. Artikel 22 verbietet zudem Einwegverpackungen in der Gastronomie zum Verzehr von Speisen und Getränken am Platz. Besonders umstritten ist hier der Take-Away- und der Getränke-Sektor.
Dabei hatte die Kommission ursprünglich noch höhere Ziele geplant. Mit Einwänden der Industrie konfrontiert, schraubte sie diese Ambitionen dann im Ende vergangenen Jahres vorgestellten Entwurf wieder herunter. Für heiße und kalte Getränke schlug sie Wiederverwendungsquoten von 20 Prozent bis 2030 und 80 Prozent bis 2040 vor; für Lebensmittelverpackungen entsprechend 10 und 40 Prozent.
Ein eigens gegründetes Lobbybündnis der Industrie stellt nun erneut die entsprechende Folgenabschätzung der Kommission infrage und forderte kürzlich in einem offenen Brief an die EU-Institutionen, den Politico veröffentlichte, die Verhandlungen zu pausieren. Im April haben sich dreizehn Unternehmen und Verbände zu dem Bündnis “Together for Sustainable Packaging” zusammengeschlossen, darunter mehrere Restaurantketten wie McDonald’s, KFC und Pizza Hut sowie europäische Papierverpackungshersteller und deren Verband EPPA. Ihre Kampagne wird von der Schweizer Kommunikationsberatung Boldt AG durchgeführt.
Das Bündnis zieht die von McDonald’s in Auftrag gegebene Kearney-Studie und weitere angeblich unabhängige Studien heran, um aus Gründen des Umweltschutzes für Einwegverpackungen aus Papier im Take-Away-Sektor zu argumentieren. Mehrwegverpackungen würden knapp 40 Prozent mehr Wasser, 46 Prozent mehr fossile Rohstoffe und 82 Prozent mehr Metalle als recycelbare Einwegverpackungen verbrauchen, erklärt EPPA, und warnt vor den Konsequenzen “gut gemeinter” Gesetze.
Die Verfechter von Mehrwegsystemen ziehen Studien heran, die diesen eine weitaus bessere Ökobilanz zuschreiben. Fest steht: Es gibt keine einfache Lösung in diese Frage – die Vorteile von recycelbaren Einwegverpackungen sowie von Mehrwegsystemen hängen von vielen unterschiedlichen Faktoren ab.
Ein Spalt verläuft auch durch den Umweltausschuss im EU-Parlament: Frédérique Ries streicht in ihrem am Donnerstag vorgestellten Berichtsentwurf die Wiederverwendungsziele und will damit Rücksicht auf einen Sektor nehmen, der nach den Krisen der vergangenen Jahre sehr fragil sei. “Ich wollte diesen Entwurf auf bewährte Praktiken und fundierte Analysen aus den Mitgliedstaaten stützen”, erklärte sie. Diese habe sie in Artikel 26 des Kommissionsentwurfs jedoch nicht gefunden. Deshalb fordere sie, die Vorgaben zu überdenken.
Unterstützung dafür erhielt sie aus der EVP. Grüne und Sozialdemokraten fordern indes die Beibehaltung der Ziele. “Recycling allein ist, obwohl die Industrie das gerne behauptet, nicht die Lösung”, sagte Delara Burkhardt. “Und auch einfache Substitutionen zwischen verschiedenen Einwegverpackungs-Materialien reichen nicht aus, um den dramatischen Anstieg des Verpackungsmülls zu bekämpfen.” Abfallvermeidung und Wiederverwendung müssten an der Spitze der Vorschriften stehen, forderte sie.
Die Berichterstatterin im Industrieausschuss, Patrizia Troia (S&D), ist sich noch unsicher: Im Entwurf ihrer Stellungnahme schreibt sie, sie erkenne den Wert an, “den die Wiederverwendung bestimmter Verpackungen in bestimmten Sektoren haben kann”, fordert jedoch weitere Analysen, bevor Ziele festgelegt werden. Der Industrieausschuss wird am 23. Mai über den Entwurf diskutieren.
In Deutschland müssen Gastronomiebetriebe bereits seit Anfang dieses Jahres Mehrwegverpackungen für Take-Away-Speisen anbieten. Das sieht das deutsche Verpackungsgesetz vor. Das Umweltbundesamt erklärt in einer Stellungnahme, der Entwurf der Kommission bleibe in mehreren Bereichen hinter dem deutschen Gesetz zurück, und fordert eine Schärfung auf EU-Ebene. So sollten ehrgeizigere Wiederverwendungsziele und kürzere Übergangsfristen beschlossen werden als in Artikel 26 bislang vorgesehen. Die Mitgliedstaaten müssten zudem die Möglichkeit haben, eigenständig noch höhere Ziele für Wiederverwendung und Wiederbefüllung festzulegen.
Es war ein Tweet des FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Müller-Rosentritt, der bei Ampel-Kollegen für Irritationen sorgte: “Dank intensiver Intervention des @BMF_Bund und der @fdpbt konnten wir – gegen den ausdrücklichen Willen unserer Koalitionspartner – das #Provisionsverbot vorerst stoppen”.
Die Liberalen frohlockten. So überschwänglich, dass Parteikollege und Finanzminister Christian Lindner auch gleich noch die Geringverdiener vereinnahmte: “Ein Provisionsverbot hätte es gerade Kunden mit geringerem Einkommen schwerer gemacht, Beratung kostengünstig und niedrigschwellig in Anspruch zu nehmen.”
Worum geht es?
Die EU-Kommission, allen voran Finanzkommissarin Mairead McGuiness, hatte Ende vergangenen Jahres ein Verbot von Provisionen beim Verkauf von Finanzprodukten in Aussicht gestellt. Zumindest wollte sie die exorbitant hohen Ausschüttungen beim Abschluss von Verträgen spürbar deckeln.
Es war ein Plan, der die Finanzgemeinde aufrüttelte. Verbraucherschützer applaudierten, “ein Schritt in die richtige Richtung”, lobte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis. Von einem “wichtigen Schritt zur Verbesserung der Transparenz” sprach auch Ex-Kommissar Michel Barnier.
Zugleich setzten Banken und Versicherungen, Vermögensberater und Anlagespezialisten, allesamt durchaus gut organisiert im Ringen um Einfluss, ihre Lobbyisten in Marsch. Allen voran die Vertreter der Großbanken und Versicherungen. Die klopften in Berlin und Brüssel an, Sparkassen und Volksbanken redeten auf Abgeordnete ein. Bundestagsparlamentarier wurden bedrängt: “Ihr verratet die Interessen der Sparkassen!”
Die Lobbyvertreter mobilisierten insbesondere in Deutschland alles und jeden, der sich mobilisieren ließ. Von einem “Bärendienst für Kleinanleger” sprach der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Selbst Finanzminister Christian Lindner begab sich auf den Kampfplatz, kaum hatte die Kommissarin ihre Absicht geäußert: Er sei “sehr besorgt”, schrieb er in einem offenen Brief nach Brüssel, ein Verbot sei “ein bedeutender Rückschritt” im Bemühen, Anlagemöglichkeiten auf europäischen Kapitalmärkten zu erleichtern.
In Deutschland sind rund 300.000 Berater in Sparkassen, Banken und Versicherungen von Provisionszahlungen abhängig. Für sie hätte ein Verbot weitreichende Folgen. Die Finanzindustrie allein in Deutschland verdient jährlich Milliarden an den Provisionen, wie die bankenkritische Organisation Finanzwende errechnet hat. Die Beraterinnen und Berater bekommen ihr Geld, indem sie für jeden verkauften Fonds und jede Versicherungspolice mehrere Prozente Provision kassieren. Je teurer ein Produkt, desto höher die Provision. Es versteht sich, dass für die Berater deshalb bisweilen eher der Vertragsabschluss als eine solide Beratung im Vordergrund steht.
Andere Länder haben längst reagiert. In Großbritannien oder den Niederlanden sind hohe Provisionen verboten, die zudem gleich zu Beginn bei Vertragsabschluss ausgeschüttet werden – ohne dass das Geschäft eingebrochen wäre. Der alternative Grundgedanke deshalb in Brüssel und auch in den roten und grünen Fraktionen in Berlin: Kunden sollen den Berater für seine Arbeitszeit bezahlen, analog zum Steuerberater oder Anwalt in Form eines Honorars.
Doch die organisierte Intervention in Brüssel hatte zunächst Erfolg: Die Kommission stellte die Idee eines Provisionsverbots vorerst zurück. Hohe Provisionen wären demnach weiterhin erlaubt.
Bei Sozialdemokraten und Grünen überwog der leise Groll. “Das ist ein Problem für uns”, sagt der SPD-Finanzexperte Michael Schrodi, der Provisionen ebenfalls nicht per se verbieten will. “Aber wir wollen keine für Verbraucher schädliche Verquickung von Abschluss und Beratung.” Der “massive Lobbydruck” sei auch bei ihm angekommen.
Bei den Grünen ist der zuständige Berichterstatter Stefan Schmidt der Ansicht, “dass das aktuelle System, das nahezu ausschließlich auf Provisionsbasis gestützt ist, falsche Anreize setzt”. In vielen Fällen seien “Provisionen eben nicht der Garant für unabhängige Beratung, sondern für Verkäufe von überteuerten Finanzprodukten, unabhängig von der Qualität oder Eignung”. “Das Vertrauen in gute Beratung ist leider erodiert”, ergänzt Kollegin Katharina Beck.
Der Streit schwelt schon länger. Schon in den Koalitionsverhandlungen war das Provisionsverbot Thema: “Wir wollten mehr honorarbasierte und weniger provisionsbasierte Beratung”, berichtete seinerzeit ein Sozialdemokrat. “Mehr Schutz und gute Beratung.” Aber: “Mit der FDP war nicht mal ein Kompromiss möglich.”
Das ist inzwischen anders – trotz des Jubel-Tweets von Frank Müller-Rosentritt. Gemäßigte Liberale lassen inzwischen durchaus ein gewisses Problembewusstsein erkennen. “An die hohen Provisionen gerade in der Anfangsphase sollten wir ran”, sagt einer mit Einfluss unter ihnen. Grundsätzlich will er an Provisionen festhalten, sie jedoch auf der Zeitschiene strecken und gegebenenfalls nach oben deckeln.
Dass die FDP sich bewegt, erwarten auch die Aufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Sie blicken überaus kritisch auf das ungezügelte Provisionswesen. Die Bankenaufsicht hat bereits angekündigt, dass sie ihre “Prüfungstätigkeit ausweiten und intensivieren” will. Viele Berater kassierten mehr als vier Prozent der vertraglichen Beitragssumme. Die Aufsicht spricht von einer “frontlastigen Kalkulation von Vertriebs- und Abschlusskosten” und stellt ganz grundsätzlich die Frage, ob eine Abschlussprovisionszahlung “überhaupt noch vertretbar” sei.
Von “Exzessen in der Provisionsgestaltung” sprach unlängst auch der Bafin-Chefaufseher für das Versicherungswesen, Frank Grund. In einem internen Papier der Bundesanstalt heißt es: “Hohe Effektivkosten in der Spitze lassen ernsthaft daran zweifeln, dass die Produktfreigabeverfahren den Bedürfnissen der Kunden ausreichend Rechnung getragen haben.”
Die Bafin kündigte an, solche Unternehmen genauer zu prüfen, “die durch hohe Aufwendungen für Versicherungsvermittler und insbesondere Zahlung hoher Abschlussprovisionen auffallen”. Sozialdemokrat Schrodi hat die Hoffnung jedenfalls nicht aufgegeben. “Wenn auch kein Verbot – eine Einschränkung wird kommen.” Er rechnet mit einem zeitnahen Vorschlag der Kommission.
Noch im Mai will die Kommission den Vorschlag für eine übergreifende Ethikbehörde für die Institutionen beschließen. Nach Informationen von Table.Media sieht das Konzept vor, dass die Ethikbehörde vor allem dem technischen Austausch über die jeweiligen Standards, Regeln und Verhaltenskodexe in allen EU-Institutionen dienen soll, darunter Europaparlament, Rat und Kommission.
Dies hat die zuständige Vize-Präsidentin Vera Jourova dem Vernehmen nach bei einer Runde der Fraktionschefs am Donnerstag deutlich gemacht. Das Ethikgremium, das die Kommission vorschlagen will, soll dem Vernehmen nach aber nicht die Kompetenz bekommen, bei Verstößen Sanktionen verhängen zu dürfen. Damit dürfte das Konzept für Enttäuschung im Parlament sorgen. Wie weiter zu hören ist, soll das Gremium, das die Kommission plant, sich auch nicht mit individuellen Fällen von Fehlverhalten beschäftigen. Das Parlament hatte in einem Bericht gefordert, dass die unabhängige Ethikbehörde die Kompetenz haben muss, Verstöße zu ahnden.
Daniel Freund (Grüne), Berichterstatter zum Ethikgremium: “Der Korruptionsskandal um Eva Kaili und unzählige Drehtürwechsel in der Kommission haben gezeigt, dass das System der Selbstkontrolle und Selbstsanktionierung versagt hat. Ohne Durchsetzung sind Regeln wertlos.”
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zum Beginn der Wahlperiode einen Vorschlag für ein unabhängiges Ethikgremium angekündigt. Nach Bekanntwerden des Kaili-Skandals hat von der Leyen den Vorschlag erneut in Aussicht gestellt. mgr
Damit auch finanzschwache EU-Staaten Strompreise für ihre energieintensive Industrie subventionieren können, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) europäische Kreditgarantien ins Spiel gebracht. Über ein befristetes Sonderprogramm “Europäischer Brückenstrompreis” könnten ähnlich wie beim SURE-Programm den betroffenen Mitgliedstaaten günstige Kredite zur Verfügung gestellt werden, heißt es in einem am Freitag vorgestellten Arbeitspapier von Habecks Ministerium.
Mit Krediten aus dem SURE-Programm hatten mehrere EU-Staaten während der Corona-Krise Kurzarbeit bezahlt. Zur Finanzierung hatte die EU-Kommission Anleihen im Wert von knapp 100 Milliarden Euro begeben, die durch freiwillige Garantien der Mitgliedstaaten abgesichert wurden. Das Bundesfinanzministerium verwies auf Anfrage auf Äußerungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zu schuldenbasierten Fonds und Instrumenten auf EU-Ebene. Lindner lehnt neue Gemeinschaftsfonds mit gemeinsamen Schulden ab.
Mittelfristig will Habeck den Industriestrompreis stärker durch mögliche Übergewinne erneuerbarer Energien finanzieren und damit auf Konfrontationskurs zur EU-Kommission gehen, die auch die Verbraucher stärker an den Rückflüssen beteiligen will. Bei der Strommarktreform werde man sich dafür einsetzen, “dass die Mitgliedstaaten die Einnahmen aus CfDs […] gezielt an die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie weitergeben können, damit die Einnahmen für einen wettbewerbsfähigen Strompreis ausreichen”, heißt es in Habecks Papier.
Die Kommission will dagegen in Zeiten hoher Strompreise Übererlöse von staatlich geförderten erneuerbaren Energien an alle Stromkunden gemäß ihrem Verbrauch verteilen. Haushalte hatten 2021 laut BDEW einen Anteil von 27 Prozent am Stromverbrauch, bei der Industrie waren es 44 Prozent. Der VDMA kritisierte, es müsse “auf jeden Fall vermieden werden, dass große klimaneutral erzeugte Strommengen dem freien Markt entzogen werden“. ber
Industrievertreter kritisieren, dass die EU-Institutionen ihre Bedenken über negative Folgen des Data Acts für europäische Unternehmen nicht angemessen berücksichtigen. Trotz einiger Fortschritte könne der aktuelle Gesetzesvorschlag die “Wettbewerbsfähigkeit einiger der erfolgreichsten europäischen Unternehmen nachhaltig schädigen“, schreibt der Wirtschaftsverband Digitaleurope in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Vizepräsidentin Margrethe Vestager, Kommissar Thierry Breton und die schwedische Ratspräsidentschaft.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören die CEOs von Siemens, SAP und Datev, Roland Busch, Christian Klein und Robert Mayr. Sie äußern sich besorgt “über das halsbrecherische Tempo, mit dem die Trilog-Verhandlungen geführt werden”. Es lasse wenig Raum für eine eingehende Diskussion der komplexen Details. Derzeit finden die Trilog-Verhandlungen zum Data Act auf technischer Ebene statt.
Es sind vor allem drei Bereiche, in denen die Unternehmen negative Folgen erwarten: für die Zukunft datengestützter Geschäftsmodelle, die Cybersicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit, wenn Unternehmen Kern-Know-how und Designdaten preisgeben müssten. Dies werfe auch Fragen hinsichtlich der technologischen Führungsrolle der EU auf.
Die Unternehmen fordern daher:
Die nächsten Trilog-Verhandlungen zum Data Act auf politischer Ebene sind für den 23. Mai und 28. Juni terminiert. vis
Mit dem Digital Services Act (DSA) legt die EU sehr großen Online-Plattformen (VLOPs) und sehr großen Online-Suchmaschinen (VLOSEs) eine ganze Reihe von Verpflichtungen auf. Damit das Gesetz seine Wirkung auch entfaltet, braucht die Kommission Unterstützung durch unabhängige Prüfungen. Sie sind ein wichtiges Instrument der Rechenschaftspflicht für den DSA.
Die Kommission hat jetzt den Entwurf einer Verordnung zur Durchführung unabhängiger Audits vorgelegt und fragt dazu Feedback ab. Die Konsultation läuft bis zum 2. Juni. Demnach plant die Kommission, die Regeln vor Ende des Jahres zu verabschieden.
Der Entwurf des Rechtsakts enthält die wichtigsten Grundsätze, die Prüfer bei der Auswahl von Prüfungsmethoden und -verfahren anwenden sollen. Ebenso enthält er weitere Spezifikationen für die Prüfung der Verpflichtungen von VLOPs und VLOSEs zu Risikomanagement und Krisenreaktion. Er umfasst auch Vorlagen für den Prüfungsbericht und die Berichte, die veröffentlicht und der Kommission und dem Koordinator für digitale Dienste im Land der Niederlassung des Unternehmens vorgelegt werden.
Am Ende soll der Prüfbericht “eine klare, unabhängige Stellungnahme zur Übereinstimmung der VLOPs und VLOSEs mit dem DSA enthalten”, teilte die Kommission mit. Die ersten Prüfberichte sind spätestens ein Jahr nach Beginn der Anwendung der DSA-Verpflichtungen fällig. Die ersten 19 VLOPs und VLOSEs hatte Kommissar Thierry Bretron Ende April benannt. vis
Die EU-Kommission will künftig auch Exporte in Drittstaaten beschränken können, um die Umgehung der Russland-Sanktionen zu erschweren. Das sieht der Vorschlag für ein elftes Sanktionspaket vor, der am Freitag an die Mitgliedstaaten übermittelt wurde.
Konkret ist laut EU-Kreisen geplant, zur Abschreckung zunächst die rechtliche Möglichkeit zu schaffen, Exporte in Drittstaaten wegen einer mutmaßlichen Umgehung von Sanktionen einzuschränken. Wenn dies nicht ausreicht, könnten dann in einem zweiten Schritt bestimmte Ausfuhren tatsächlich unterbunden werden. Betroffen sein könnten insbesondere Güter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Als Beispiele wurden Nachtsichtgeräte genannt, die von Jägern und Sicherheitsfirmen, aber auch Soldaten eingesetzt werden.
Als Länder, über die Sanktionen gegen Russland umgangen werden, gelten beispielsweise Kasachstan, Georgien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Der Türkei wurde zuletzt von EU-Experten bescheinigt, vergleichsweise entschlossen auf entsprechende Hinweise zu reagieren.
Aus den EU-Staaten selbst dürfen schon seit Monaten viele Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden. Dazu zählen neben Dual-use-Gütern auch bestimmte Arten von Maschinen und Fahrzeugen oder bestimmte Halbleiter.
Über den Vorschlag der Kommission sollen am kommenden Mittwoch die EU-Botschafter in Brüssel beraten. Ziel ist es, das elfte Sanktionspaket noch in diesem Monat zu beschließen. Neben dem neuen Instrument für Exportkontrollen soll es unter anderem auch Strafmaßnahmen gegen weitere Personen und Organisationen umfassen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen.
Die Bundesregierung steht den Plänen grundsätzlich offen gegenüber. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte sich bereits im Februar für ein deutlich schärferes Vorgehen gegen die Umgehung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ausgesprochen. dpa/tho
Lesen Sie bei China-Table ein Interview mit dem Ökonomen Gabriel Felbermayr, wie China von den Russland-Sanktionen profitiert.
Die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová hat am Sonntag die Bildung einer neuen Regierung aus Experten und Beamten angekündigt. Diese stehe unter der Leitung des Finanzexperten Ludovit Odor. Der 46-Jährige ist derzeit Vize-Gouverneur der slowakischen Nationalbank NBS.
Zuvor hatte Interims-Ministerpräsident Eduard Heger seinen Rücktritt angekündigt. Als Grund nannte er, dass die Präsidentin keinen seiner Vorschläge akzeptiert habe, wie er die Regierung in der aktuellen politischen Krise nach dem Rücktritt mehrerer Minister weiterführen könne.
Čaputová sagte, Heger solle seine Arbeit fortsetzen, bis die Minister der Expertenregierung in der Woche ab 15. Mai ihre Ämter anträten. Sie wolle bis dahin noch die Parlamentsparteien informieren, sagte die Präsidentin in Bratislava.
Die konservativ-populistische Regierung unter Hegers Führung gehört zu den entschlossensten militärischen Unterstützern des von Russland angegriffenen Nachbarlands Ukraine. Sie verlor aber schon im Sommer 2022 ihre Parlamentsmehrheit und im Dezember auch noch ein Misstrauensvotum. Dennoch gelang es ihr, die eigentlich nach einem Sturz der Regierung vorgesehenen Neuwahlen bis Ende September hinauszuzögern.
Der Regierung sollten Experten angehören, die nicht die Absicht hätten, bei der Parlamentswahl am 30. September zu kandidieren, sagte Caputova. Damit solle ausgeschlossen werden, dass jemand die vorübergehende Regierungsfunktion zu Wahlkampfzwecken missbrauche. dpa
Erst wenige Tage vor dem Gespräch mit Table.Media ist Funda Tekin in Istanbul angekommen. Drei Monate lebt und arbeitet die Wissenschaftlerin am Bosporus und forscht zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, einer ihrer Schwerpunkte.
Für diesen Aufenthalt hat sich die 45-Jährige Zeit freigeschaufelt, die ansonsten mit ihrer Tätigkeit als Direktorin des Instituts für Europäische Politik (iep) gut gefüllt ist. Seit 2018 steht sie gemeinsam mit Karin Böttger an der Spitze der außen- und europapolitischen Forschungseinrichtung. Zu Tekins Themen gehören die Zukunft der EU, Rechtsstaatlichkeit und die EU-Erweiterung.
Sie ist Koordinatorin des Deutsch-Nordisch-Baltischen Forums und Teil der deutsch-französischen Expertengruppe, die im Auftrag der beiden Länder Vorschläge zu institutionellen Reformen der Europäischen Union erarbeiten soll. Ihren Bericht will die Runde im Herbst vorlegen.
Es gebe großen Reformbedarf in der EU, sagt Tekin. “Damit meine ich: Wir müssen uns handlungsfähig machen.” Gerade mit Blick auf die geplante Erweiterung sei es an der Zeit, die qualifizierte Mehrheitsentscheidung in Angriff zu nehmen, auch wenn das unter den Mitgliedstaaten umstritten sei.
Reformen müsse es auch beim Beitrittsprozess geben. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte, denn die Glaubwürdigkeit der Beitrittsperspektive müsse unbedingt erhalten bleiben. In den Gesprächen mit der Ukraine und Moldau sei es wichtig, alte Fehler nicht zu wiederholen. “Erwartungsmanagement” ist ein Begriff, den Tekin in diesem Zusammenhang öfter benutzt. Dass die Ukraine in den nächsten fünf Jahren EU-Mitglied werde, sei zu optimistisch, und das müsse die EU auch deutlich sagen.
Dabei lohne es sich, das Konzept der differenzierten Integration zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess würde es bedeuten, Zwischenstufen zu schaffen. “Ich weiß, dass das nicht so beliebt ist, weil damit die Befürchtung verbunden ist, dass diese Zwischenstufen permanent werden”, sagt Tekin. “Aber man sollte zumindest darüber nachdenken, gerade weil der Prozess länger dauert.” Denkbar sei etwa eine vorzeitige Eingliederung in den Binnenmarkt.
So rege zurzeit über die EU-Erweiterung gesprochen werde – die Türkei werde dabei oft ausgeklammert. “Das ist eine Leerstelle in der Debatte”, sagt Tekin. “Doch die EU-Türkei-Beziehungen sind da und sie brauchen eine Form.”
Tekins Aufenthalt in Istanbul, gefördert von der Stiftung Mercator, fällt in die Zeit der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Mitte Mai: Von deren Ausgang dürfte abhängen, wie es mit den Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara weitergeht. Sollte die Opposition gewinnen, sagt Tekin, würde sich an der Außenpolitik wohl gar nicht so viel ändern. “Aber der Ton würde sich ändern. Man hätte dann wieder einen Partner, mit dem man reden kann.”
Europa und die Türkei als Themen begleiten Tekin schon lange. Ihre Diplomarbeit hat die Volkswirtin über die Europäisierung der Türkei geschrieben. Promoviert hat sie zur differenzierten Integration in der EU. Sie hat am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europapolitik der Universität Köln gearbeitet und mehrere Forschungsprojekte zu Europa und den EU-Türkei-Beziehungen geleitet. Im Sommer tritt sie eine Honorarprofessur zu European Governance an der Universität Tübingen an.
Dass Tekin die EU und die Türkei zu ihren Themen gemacht hat, liegt auch an ihrer Familie. Sie ist in Deutschland mit einem türkischen Vater aufgewachsen. Darum fühle sie sich nicht eindeutig einem Land zugehörig, sondern als Europäerin, sagt sie. Ein Gefühl, das durch ihr Auslandsjahr an der Sciences Po in Paris verstärkt worden sei.
Wenn sie frei hat, geht sie ins Ballett, verreist und verbringt Zeit in der Natur. Nun aber richtet Tekin sich erst mal in ihrem Istanbuler Alltag ein. Sie wohnt auf der asiatischen Seite der Stadt, ins Büro fährt sie mit der Fähre auf den europäischen Teil. In ihrer ersten Woche, erzählt sie, habe sie dabei sogar Delfine gesehen. Sarah Schaefer