den zweiten Tag ihres Berlin-Besuchs bestritt Margrethe Vestager gestern in einem tiefblauen Kleid. Sie wolle sicherstellen, dass die wichtigen europäischen Themen in den Koalitionsverhandlungen thematisiert würden, sagte die Kommissarin, und da helfe es vielleicht, “wenn man ein bisschen aussieht wie Europa“. Sie fühle sich im Übrigen sehr geehrt, von allen drei Parteien empfangen worden zu sein (das allerdings war am Vortag, und da trug sie rot).
Weniger freundlich blickt Vestager auf die jüngsten Enthüllungen über Facebook. Noch sei es nur unbestätigte Vorwürfe. Aber wenn es stimme, dass das Management mögliche psychische Schäden der Nutzer:innen im Sinne des Profites in Kauf genommen hätten, dann wäre dies “ein schurkisches oder brutales Geschäftsgebaren”. Umso wichtiger sei es, im Rahmen des Digital Services Act für wirksame Audits der großen Digitalunternehmen zu sorgen.
Die bislang für den 8. November angesetzte Abstimmung über das Gesetzesvorhaben im federführenden Binnenmarktauschuss wird allerdings verschoben. Und zwar, ausgerechnet, um genug Zeit für die Anhörung der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen zu haben. Den Zeitplan für die Verabschiedung des DSA und des parallel verhandelten Digital Markets Act dürfte das aber nicht gefährden. Den letzten Stand der Dinge beschreiben wir in den News.
Stärker aus der Spur geraten ist das geplante Gesetz zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht, besser bekannt unter dem Titel EU-Lieferkettengesetz. Ausgerechnet Ursula von der Leyen sorgt nun für neue Ungewissheit: Die Kommissionspräsidentin will ein Verbot von Zwangsarbeit in den Vorschlag integrieren. Das aber halten auch die zuständigen Kommissare für keine gute Idee, wie Charlotte Wirth berichtet.
Eigentlich wollte die Europäische Kommission ihren Gesetzesvorschlag zur nachhaltigen Unternehmensführung heute vorstellen. Doch aus der Deadline wird bekanntlich nichts. Die Kommission kann sich noch immer nicht zu einer gemeinsamen Haltung in zentralen Fragen zusammenraufen (Europe.Table berichtete), etwa dem Anwendungsbereich des Textes. Es herrsche ein Kalter Krieg zwischen den zuständigen Generaldirektionen Just und Grow, heißt in Kommissionskreisen.
Nun will die Kommission erst am 8. Dezember liefern. Ihre überarbeitete Folgenabschätzung wollte sie diese Woche beim Regulatory Scrutiny Board einreichen. Doch fest steht bisher nur, dass es eine Verordnung wird. Weiterhin offen ist hingegen, welche Stufen der Lieferketten im Text visiert sind, inwiefern die Verordnung Opfern Zugang zum europäischen Justizsystem ermöglicht, und ob und wie eine persönliche Haftung der Geschäftsführung umgesetzt wird.
Nun hat Ursula von der Leyen einen weiteren Punkt auf die Liste der Streitpunkte gesetzt: Das Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit. Ein solches Vorhaben hatte die Kommissionschefin in ihrer diesjährigen Rede zur Lage der EU angekündigt: “Wir wollen […] auf unseren Märkten Produkte verbieten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. Menschenrechte sind nicht käuflich – für kein Geld der Welt”, sagte sie im September. Von der Leyen sagte jedoch nicht, wie sie das Verbot durchsetzen will. Die zuständigen Kommissare, allen voran der für Handel zuständige Vizepräsident Valdis Dombrovskis, waren über den Vorstoß offenbar nicht informiert.
Naheliegend wäre es, das Importverbot über ein Handelsinstrument umzusetzen. Denkbar wäre eine Regulierung, die es dem Zoll ermöglicht, Produkte abzufangen, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. In den USA zum Beispiel erlaubt der “Tariff Act” den Zollbehörden, Produkte zu beschlagnahmen, die womöglich aus Zwangsarbeit stammen. Im Juli stoppten US-Behörden so zum Beispiel die Einfuhr menschlicher Haarprodukte aus Xinjiang. Washington plant zudem die Umsetzung eines spezifisches Gesetz gegen China, den “Uyghur Forced Labour Prevention Act”.
Doch von der Leyen hat die Rechnung ohne ihren Handelskommissar gemacht. Dombrovskis will sich des Dossiers trotz des Drucks der Kommissionspräsidentin und des Kollegiums nicht annehmen. Seine DG Trade prüft schon länger die Umsetzung eines Importverbots – bisher erfolglos. Ein Gesetz nach amerikanischem Vorbild sei nicht möglich, da die europäischen Zölle so nicht funktionierten, heißt es aus EU-Kreisen. Zudem befürchte man, ein solcher Vorschlag wäre nicht WTO-konform. Zumindest nicht, wenn sich das Importverbot implizit gegen ein einziges Land richte – nämlich China.
Zu einem anderen Schluss kommt hingegen eine Studie im Auftrag der Grünen von vergangenem Februar. Demnach wäre ein europäisierter “Tariff Act” durchaus möglich. Vorbild könne etwa die Verordnung über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren sein, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen. Anahita Thoms, Partnerin bei der Kanzlei Baker McKenzie, hält es hingegen für vorstellbar, das Thema Produkte aus Zwangsarbeit in die Freihandelsabkommen zu integrieren, die die EU mit Partnerländern schließt. Das aber dürfte mit China schwierig umzusetzen sein.
Die Kommissionspräsidentin hat den Ball statt Dombrovskis nun Industriekommissar Thierry Breton und Justizkommissar Didier Reynders zugespielt. Doch eine Umsetzung über die Sorgfaltspflicht-Verordnung bedeutet, den Unternehmen die Verantwortung zuzuschieben. Sie dürften dann keine Produkte verkaufen, bei denen die Vermutung besteht, dass Zulieferer aus problematischen Regionen wie Xinjiang eingekauft haben.
Anahita Thoms sieht dieses Vorhaben kritisch und geht davon aus, dass von der Leyens Vorstoß das ohnehin schon verspätete Sorgfaltspflicht-Gesetz womöglich noch weiter hinauszögert. “Es ist sowieso schon eine große Herausforderung. Wieso erschwert man das Gesetzesvorhaben so kurzfristig durch einen Vorschlag, von dem man nicht weiß, wie er nachher in der Praxis umgesetzt werden kann?”
Gleich mehrere Elemente behindern eine rasche Umsetzung des Importverbots. Da wäre etwa die Komplexität der Produkte, die auf dem europäischen Markt zirkulieren. Oft stammen die Komponenten aus verschiedenen Herkunftsländern und werden dann in einem dritten Land zu fertigen Produkten verarbeitet. Doch was, wenn etwa zehn Prozent eines Produktes aus einer “problematischen” Region stammen, der Rest aber nicht? Wenn jedes einzelne Teilchen eines komplex zusammengebauten Produktes unter ein Importverbot fiele, so könnte das in der Praxis “immense Herausforderungen für die Unternehmen verursachen”, warnt Thoms.
Die Implementierung des Importverbotes über eine Verordnung zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht hätte zudem große Auswirkungen auf dessen Ausgestaltung, gibt die Anwältin zu bedenken. Noch ist nicht klar, welche Stufen der Lieferketten unter die Sorgfaltspflicht fallen werden und ob die Unternehmen etwa nur die direkten Zulieferer prüfen müssen. Doch diese Diskussion wäre mit einem Importverbot hinfällig: “Wenn ein Unternehmen dafür sorgen muss, dass ein Produkt, das aus Zwangsarbeit stammt, gar nicht erst auf den europäischen Markt kommt, dann muss im Ergebnis die gesamte Lieferkette geprüft werden“, so Thoms.
Gleichzeitig zielt das Sorgfaltspflicht-Gesetz, zumindest in der strengen Auslegung, die sich Reynders wünscht, ohnehin darauf ab, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Unternehmen sind schließlich dazu angehalten, ihre Lieferketten zu prüfen und sie anzupassen, wenn sie Menschenrechtsverletzungen feststellen. In diesem Sinne dürfte ein strenges Gesetz implizit dafür sorgen, dass Produkte aus Zwangsarbeit nicht auf dem europäischen Markt landen.
Im Parlament findet ein Importverbot via Lieferkettengesetz wenig Unterstützung. Der französische Abgeordnete Raphael Glücksmann (S&D), der sich intensiv mit der Lage der Uiguren in Xinjiang beschäftigt, spricht sich vehement gegen die Idee aus: “Die Verordnung wird so schon kompliziert genug. Die Sorgfaltspflicht gilt für Unternehmen. Ein Verbot fokussiert sich aber auf Produkte. Es muss durch ein Handelsinstrument durchgesetzt werden.”
Anna Cavazzini teilt seine Bedenken. Die Implementierung durch die Sorgfaltspflicht würde den Prozess nur weiter verkomplizieren, sagte die Grünen-Politikerin. Auch NGOs wie Global Witness halten von dem Vorstoß von der Leyens wenig und fordern die Kommission auf, einen separaten Vorschlag zur Durchsetzung des Importverbotes ausarbeiten. In Kommissionskreisen heißt es, man sei “intern noch mitten in der Diskussion”.
In den Verhandlungen um den Digital Markets Act haben sich die Vertreter der Fraktionen im Binnenmarktausschuss am Dienstag angenähert. “Es war eine gute Sitzung, wir haben Fortschritte gemacht“, sagte die Schattenberichterstatterin der Sozialdemokraten, Evelyne Gebhardt, zu Europe.Table. EVP-Berichterstatter Andreas Schwab (CDU) ergänzte: “Wir kommen gut voran”.
Bei der Frage der Interoperabilität sei man aufeinander zugegangen, so Gebhardt. Schwab hatte zuvor einen neuen Kompromissvorschlag vorgelegt. Demnach kann eine große Gatekeeper-Plattform dazu verpflichtet werden, seine Messengerdienste und sozialen Netzwerke für andere Anbieter zu öffnen, ohne deren Nutzer schlechter zu behandeln als die eigenen Kunden. Nutzer von Signal oder Threema könnten so beispielsweise Kontakte bei WhatsApp erreichen, ohne sich selbst dort registrieren zu müssen.
Ein Kompromiss zeichnet sich laut Gebhardt auch bei den sogenannten Killerakquisitionen ab, bei denen Konzerne kleinere Konkurrenten aufkaufen, um ihre Position zu festigen. Auch der Wirtschafts- und Währungsausschuss sprach sich in seiner am Dienstagabend verabschiedeten Stellungnahme dafür aus, hier den Vorschlag der EU-Kommission zu verschärfen. So sollen die Informationspflichten ausgeweitet und die Beweislast den Unternehmen auferlegt werden.
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager warnte am Dienstag aber davor, über den DMA das existierende System der Fusionskontrolle zu umgehen. “Beide Themen sollten voneinander getrennt werden”, sagte sie vor Journalisten in Berlin. Dahinter steht die Sorge der Kommission, dass der DMA juristisch angreifbar werden könnte, da die Rechtsgrundlage in den EU-Verträgen für den DMA eine andere ist als für die Fusionskontrolle.
Vestager ist zudem zuversichtlich, das Problem der Killerakquisitionen auf Basis einer anderen Rechtsgrundlage angehen zu können, dem Verweissystem aus Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung. “Es gibt keinen Grund, das gleiche Problem zweimal zu lösen”, sagte sie.
Eine Annäherung, aber noch keine Einigung gibt es im IMCO beim Thema personalisierte Werbung, das auch im Zusammenhang mit dem Digital Services Act behandelt wird (siehe unten). Schwab hatte in seinem jüngsten Kompromissvorschlag die Möglichkeit vorgesehen, Gatekeepern das Zusammenführen von persönlichen Daten zu Werbezwecken zu untersagen, wenn die Nutzer keine “klare, eindeutige, erneute informierte Einwilligung” geben. Die Sozialdemokraten wollen hier noch einen Schritt weitergehen, in Form einer Opt-in-Lösung. Zudem soll personalisierte Werbung für Jugendliche verboten werden, ebenso wie die Nutzung von Informationen etwa über den religiösen Glauben oder die sexuelle Orientierung.
Vestager betonte, die Nutzer müssten eine echte Alternative haben: Bislang könnten die Menschen einen Dienst meist nicht nutzen, wenn sie die Verarbeitung ihrer Daten ablehnten. “Wir sollten einen Weg finden, dass die Menschen das wirklich nicht mitmachen müssen.”
Der Binnenmarktausschuss (IMCO) diskutiert heute Nachmittag über die Kompromissänderungsanträge zum “Digital Services Act” (DSA), der die Grundregeln für Dienstanbieter und Plattformen im Internet überarbeiten soll. Auf der offiziellen Tagesordnung, die Europe.Table vorab gesehen hat, stehen folgende Themen:
Über die personalisierte Werbung – einer der größten Knackpunkte – werden die Europaabgeordneten also nicht diskutieren. Die Schattenberichterstatterin der Grünen/EFA, Alexandra Geese, fordert ein Verbot dieser umstrittenen Werbe-Praxis (Europe.Table berichtete) und wird dabei auch von S&D sowie GUE/NGL unterstützt. Jedoch seien die Fraktionen EVP, Renew und ECR immer noch strikt gegen das Verbot, heißt es in Verhandlungskreisen. Ein Kompromiss liege hier also noch in weiter Ferne.
Bei den Ausnahmen von Transparenz- und Berichtspflichten für KMUs näherten sich die Positionen dagegen an. Auch bei der Regulierung von Algorithmen seien Kompromisse möglich, wozu auch die Facebook-Enthüllungen von Whistleblowerin Frances Haugen beigetragen hätten (Europe.Table berichtete).
Dass die finale Abstimmung im IMCO wie geplant am 8. November stattfindet, beurteilten Beobachter angesichts der offenen Streitpunkte als unrealistisch. Am Abend dann bestätigte die Berichterstatterin Christel Schaldemose die Verschiebung – allerdings mit Verweis auf den Besuch von Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen im Ausschuss an diesem Tag. koj
Knapp einen Monat nach dem Auftakttreffen des EU-US Handels- und Technologierates (TTC) in Pittsburgh (Europe.Table berichtete) haben sich Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und Handelskommissar Valdis Dombrovskis am Dienstagnachmittag den Fragen der Europaabgeordneten gestellt. Auch die Vorsitzenden der Ausschüsse für Binnenmarkt (IMCO), Industrie (ITRE) und Künstliche Intelligenz (AIDA) nahmen an der Debatte im Handelsausschuss (INTA) des Europäischen Parlaments teil.
Viele Abgeordnete betonten, dass die Einbeziehung des Parlaments in das Kooperationsforum, das zur Abstimmung von handels- und technologiepolitischen Fragen dienen soll (Europe.Table berichtete), nicht zu kurz kommen dürfe. Die IMCO-Vorsitzende Anna Cavazzini (Grüne/EFA) forderte, dass den Europaabgeordneten der Zugriff auf Sitzungsprotokolle und Tagesordnungen der TTC-Sitzungen gewährt werden müsse.
Parlamentarier äußerten zudem Bedenken, dass aktuell verhandelte digitale Gesetzesvorhaben in der EU wie der Digital Markets Act oder die KI-Verordnung aufgrund der Gespräche im Handels- und Technologierat überarbeitet werden müssten. Dem traten Dombrovskis und Vestager entschieden entgegen: “Wir haben nicht die Absicht, die Gesetzgebung zwischen den USA und der EU zu harmonisieren, auch wenn das möglich wäre”, sagte Vestager. Dombrovskis erinnerte daran, dass der TTC ein konsultatives und kein Entscheidungsfindungsgremium sei.
Mehrere Abgeordneten forderten, dass im TTC auch Umwelt- und Klimafragen thematisiert werden sollen. Um kurzfristige Halbleiter-Lieferengpässe zu überwinden, sollten auch Partnerländer wie Südkorea, Japan oder Singapur in das Gremium miteinbezogen werden. Dombrovskis versicherte, dass nachhaltige Technologien wie grüner Wasserstoff auf der Agenda stünden. Die Einbindung von Drittstaaten sei in dem bilateralen Forum aber nicht vorgesehen.
Die zweite Gesprächsrunde des TTC soll im nächsten Frühling in der EU stattfinden. Der INTA-Vorsitzende Bernd Lange (S&D) forderte, möglichst schnell ein konkretes Datum für dieses Treffen festzulegen und regte an, auch feste Zeitpläne für die Präsentation der Ergebnisse aus den zehn Arbeitsgruppen festzulegen. So gehe man sicher, dass am Ende auch konkreten Ergebnisse vorlägen. koj
Die EU-Energieminister haben sich nicht auf gemeinsames Handeln im Kampf gegen die steigenden Strom- und Gaspreise verständigen können. Man habe keine neuen Instrumente beschlossen, sagte EU-Kommissarin Kadri Simson am Dienstag zum Abschluss des Treffens.
Zuvor hatte besonders Spanien auf einen gemeinsamen Erdgas-Einkauf der EU-Staaten gedrängt. Spanien will zudem wie auch Frankreich oder Griechenland eine größere Reform des EU-Energiemarkts, darunter eine bessere Trennung von Strom- und Gaspreisen. Dies trifft jedoch bei einer Gruppe von neun Staaten – darunter auch Deutschland – auf Widerstand: “Dies ist kein Mittel, um die derzeit steigenden Energiepreise zu dämpfen, die am Markt für fossile Energien entstehen”, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung dieser Staaten.
Simson erklärte erneut, man wolle die Möglichkeit und Wirkung eines gemeinsamen Gas-Einkaufs genauer untersuchen. Fragen wie der Transport des Gases oder die Speicherung sowie die Übernahme der Kosten müssten geklärt werden. Erwartungen auf schnelle Erfolge bei den Energiepreisen dämpfte sie so. Sie hoffe aber, dass die Energieminister sich noch auf mittelfristige Reformen verständigen könnten, um in den kommenden Jahren dann Ergebnisse zu sehen. rtr
Die Betreiber der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 sind auf dem Weg zu einer Zertifizierung der Doppelröhre einen wichtigen Schritt vorangekommen. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte am Dienstag mit, es sei in einer Analyse zu dem Ergebnis gekommen, “dass die Erteilung einer Zertifizierung die Sicherheit der Gasversorgung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nicht gefährdet.” Die Bundesnetzagentur werde nun ihr Zertifizierungsverfahren fortsetzen. Die Frist hierfür läuft der Netzagentur zufolge bis zum 8. Januar. Das Ergebnis werde der EU-Kommission zur Stellungnahme vorgelegt.
In die Untersuchung seien auch Konsultationen mit EU-Nachbarstaaten berücksichtigt worden, erklärte das Ministerium. Estland, Italien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn sei die Möglichkeit eingeräumt worden, sich zu äußern. “Die Bundesnetzagentur wird jetzt das Zertifizierungsverfahren fortsetzen und die weiteren rechtlich notwendigen regulatorischen Bedingungen prüfen.” So sei insbesondere die Unabhängigkeit des Netzbetriebs nicht Gegenstand der Versorgungssicherheitsanalyse des Ministeriums. rtr
Andreas Schwab beißt schnell von einem Sandwich ab, checkt sein Handy und wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Dann läuft er weiter, zum nächsten Termin. Den ganzen Tag lang geht das meist so.
Es sei nicht einfach Politiker zu sein, sagt Schwab. Und er meint damit gar nicht das hohe Stresslevel. Man stehe in der Öffentlichkeit und sehe sich ständig mit Kritik konfrontiert. “Unsere Gesellschaft braucht aber nun mal Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen”.
Schwab hat Verantwortung übernommen. Als Sprecher der EVP-Fraktion im Binnenmarktausschuss weiß er um die Bedeutung des gemeinsamen Marktes für das europäische Projekt. Eine große blaue Europaflagge mit ihren zwölf goldenen Sternen prangt an der Wand seines Büros. Seit mittlerweile 17 Jahren sitzt der heute 48-Jährige für die Christdemokraten im Europaparlament. Dazu ist er gerade als Bezirksvorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Südbaden bestätigt worden.
Kaum ein anderer Abgeordneter ist so gut vernetzt wie Schwab. Er hat einen kurzen Draht in die oberen Stockwerke des Berlaymont, etwa zu Thierry Breton oder Margrethe Vestager. Seinen Einfluss im Europaparlament nutzte er, um sich die Aufgabe des Berichterstatters für den Digital Markets Act zu sichern. Kaum ein anderes Dossier ist politisch so bedeutend und prestigeträchtig wie dieses Regelwerk, das den Wettbewerb auf den Digitalmärkten vor den übermächtigen Konzernen retten soll.
Im Dezember will Schwab das Mandat des Plenums für den Trilog mit dem Rat erhalten, vorher muss er noch eine Mehrheit in seinem Ausschuss organisieren. Schwab verhandelt deshalb gerade intensiv mit den Kollegen der anderen Fraktionen. Die Sozialdemokraten etwa wollen den Spielraum der Gatekeeper-Plattformen noch stärker einschränken, als Schwab lieb ist (Europe.Table berichtete), ihnen etwa personalisierte Werbung komplett untersagen. Da ist die Fähigkeit gefragt, Kompromisse zu schmieden.
Wie es üblich ist in der EU. Der politische Werdegang von Andreas Schwab deutet sich schon in der Familiengeschichte an: Sein Großvater hat die CDU in Schwabs Geburtsort Rottweil gegründet. In dem Kreisverband der Jungen Union hat Schwab schließlich seine ersten politischen Schritte getan. Das obligatorische Jura-Studium führte ihn an das prestigeträchtige Pariser Institut Sciences Po.
In direkter Nachbarschaft mit der Schweiz und Frankreich begeisterte er sich früh für die Idee Europa. Sein Engagement für die deutsch-französischen Beziehungen brachte ihm sogar den Titel “Junger Europäer des Jahrs 1998” ein, verliehen von der Schwarzkopf-Stiftung. Damit einher ging ein Reisestipendium nach Madrid, durch das Schwab, wie er erzählt, nochmal eine andere Seite Europas kennenlernen durfte.
Gerade in der EU sei ein achtsames, ein diplomatisches Miteinander der Mitgliedsländer notwendig, sagt er. Der Binnenmarkt, wie auch die EU insgesamt, müsse aufpassen, nicht Opfer des eigenen Erfolges zu werden. Zwar habe sich der Binnenmarkt die letzten Jahrzehnte positiv entwickelt, aber er sei verletzlich.
Schwab nennt die Folgen der pandemiebedingten Grenzschließungen für Lieferketten, und politische Konflikte, mit Blick auf Polen und Großbritannien (Europe.Table berichtete). Um den richtigen Umgang mit solchen Konflikten zu finden, brauche man als Politiker das Gefühl: “Es lohnt sich, für Europa zu kämpfen“. Ein Gefühl, das, zusammen mit seinen christlichen Werten, das Fundament seines politischen Schaffens ausmache. Mit Bezug auf das Bismarck-Zitat “Völker haben keine Freunde, sondern Interessen”, sagt Schwab: “Da sind wir heute in Europa schon einen Schritt weiter”. David Zauner
So viele Europaabgeordnete wie bei diesen Koalitionsverhandlungen haben noch nie an dem Entstehen einer Bundesregierung mitgewirkt: Insgesamt 18 aktuelle und 3 ehemalige MdEP sind Teil der Verhandlungsteams von SPD, Grünen und FDP. Und das auch in anderen Themen als, man verzeihe, “nur” bei Europa – von A wie Albrecht und B wie Barley, Beer und Bischoff bis zu R wie Reintke.
Darf man nun hoffen, dass die europapolitische Dimension des Berliner Re- und Agierens damit verstärkt Eingang in die Beratungen und damit auch in die darin skizzierte künftige Regierungsarbeit findet? Denn dass weder die Klimapolitik noch die Handelspolitik, auch nicht die Finanzpolitik oder die Migrationspolitik oder gar die Digitalpolitik ohne die EU-Dimension wirklich erfolgreich gestaltet werden können, das sollte im Jahr 2021 ja eigentlich eine Binse sein.
Doch schaut man ganz genau hin, stellt man schnell fest: Die MdEP- und Ex-MdEP-Häufung liegt vor allem am Koalitionsverhandlungs-Team einer Partei: Die SPD schickt 4 aktuelle Mandatsträger in die Gespräche, die Grünen 11 aktuelle und 2 ehemalige – und die FDP immerhin 3 ihrer aktuell 5 MdEP, dazu 2 ehemalige.
Und das bedeutet vor allem eines: Dass nun einige MdEP in dieser Woche in Terminkonflikte geraten. Da möchte man doch fast rufen: Wie gut, dass es Corona gibt! Natürlich nur, weil damit eine Zuschaltung aus Berlin – wie am Dienstag für die Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager in den INTA-Ausschuss – auch für MdEPs in diesen Zeiten relativ unproblematisch funktioniert. Falk Steiner
den zweiten Tag ihres Berlin-Besuchs bestritt Margrethe Vestager gestern in einem tiefblauen Kleid. Sie wolle sicherstellen, dass die wichtigen europäischen Themen in den Koalitionsverhandlungen thematisiert würden, sagte die Kommissarin, und da helfe es vielleicht, “wenn man ein bisschen aussieht wie Europa“. Sie fühle sich im Übrigen sehr geehrt, von allen drei Parteien empfangen worden zu sein (das allerdings war am Vortag, und da trug sie rot).
Weniger freundlich blickt Vestager auf die jüngsten Enthüllungen über Facebook. Noch sei es nur unbestätigte Vorwürfe. Aber wenn es stimme, dass das Management mögliche psychische Schäden der Nutzer:innen im Sinne des Profites in Kauf genommen hätten, dann wäre dies “ein schurkisches oder brutales Geschäftsgebaren”. Umso wichtiger sei es, im Rahmen des Digital Services Act für wirksame Audits der großen Digitalunternehmen zu sorgen.
Die bislang für den 8. November angesetzte Abstimmung über das Gesetzesvorhaben im federführenden Binnenmarktauschuss wird allerdings verschoben. Und zwar, ausgerechnet, um genug Zeit für die Anhörung der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen zu haben. Den Zeitplan für die Verabschiedung des DSA und des parallel verhandelten Digital Markets Act dürfte das aber nicht gefährden. Den letzten Stand der Dinge beschreiben wir in den News.
Stärker aus der Spur geraten ist das geplante Gesetz zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht, besser bekannt unter dem Titel EU-Lieferkettengesetz. Ausgerechnet Ursula von der Leyen sorgt nun für neue Ungewissheit: Die Kommissionspräsidentin will ein Verbot von Zwangsarbeit in den Vorschlag integrieren. Das aber halten auch die zuständigen Kommissare für keine gute Idee, wie Charlotte Wirth berichtet.
Eigentlich wollte die Europäische Kommission ihren Gesetzesvorschlag zur nachhaltigen Unternehmensführung heute vorstellen. Doch aus der Deadline wird bekanntlich nichts. Die Kommission kann sich noch immer nicht zu einer gemeinsamen Haltung in zentralen Fragen zusammenraufen (Europe.Table berichtete), etwa dem Anwendungsbereich des Textes. Es herrsche ein Kalter Krieg zwischen den zuständigen Generaldirektionen Just und Grow, heißt in Kommissionskreisen.
Nun will die Kommission erst am 8. Dezember liefern. Ihre überarbeitete Folgenabschätzung wollte sie diese Woche beim Regulatory Scrutiny Board einreichen. Doch fest steht bisher nur, dass es eine Verordnung wird. Weiterhin offen ist hingegen, welche Stufen der Lieferketten im Text visiert sind, inwiefern die Verordnung Opfern Zugang zum europäischen Justizsystem ermöglicht, und ob und wie eine persönliche Haftung der Geschäftsführung umgesetzt wird.
Nun hat Ursula von der Leyen einen weiteren Punkt auf die Liste der Streitpunkte gesetzt: Das Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit. Ein solches Vorhaben hatte die Kommissionschefin in ihrer diesjährigen Rede zur Lage der EU angekündigt: “Wir wollen […] auf unseren Märkten Produkte verbieten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. Menschenrechte sind nicht käuflich – für kein Geld der Welt”, sagte sie im September. Von der Leyen sagte jedoch nicht, wie sie das Verbot durchsetzen will. Die zuständigen Kommissare, allen voran der für Handel zuständige Vizepräsident Valdis Dombrovskis, waren über den Vorstoß offenbar nicht informiert.
Naheliegend wäre es, das Importverbot über ein Handelsinstrument umzusetzen. Denkbar wäre eine Regulierung, die es dem Zoll ermöglicht, Produkte abzufangen, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. In den USA zum Beispiel erlaubt der “Tariff Act” den Zollbehörden, Produkte zu beschlagnahmen, die womöglich aus Zwangsarbeit stammen. Im Juli stoppten US-Behörden so zum Beispiel die Einfuhr menschlicher Haarprodukte aus Xinjiang. Washington plant zudem die Umsetzung eines spezifisches Gesetz gegen China, den “Uyghur Forced Labour Prevention Act”.
Doch von der Leyen hat die Rechnung ohne ihren Handelskommissar gemacht. Dombrovskis will sich des Dossiers trotz des Drucks der Kommissionspräsidentin und des Kollegiums nicht annehmen. Seine DG Trade prüft schon länger die Umsetzung eines Importverbots – bisher erfolglos. Ein Gesetz nach amerikanischem Vorbild sei nicht möglich, da die europäischen Zölle so nicht funktionierten, heißt es aus EU-Kreisen. Zudem befürchte man, ein solcher Vorschlag wäre nicht WTO-konform. Zumindest nicht, wenn sich das Importverbot implizit gegen ein einziges Land richte – nämlich China.
Zu einem anderen Schluss kommt hingegen eine Studie im Auftrag der Grünen von vergangenem Februar. Demnach wäre ein europäisierter “Tariff Act” durchaus möglich. Vorbild könne etwa die Verordnung über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren sein, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen. Anahita Thoms, Partnerin bei der Kanzlei Baker McKenzie, hält es hingegen für vorstellbar, das Thema Produkte aus Zwangsarbeit in die Freihandelsabkommen zu integrieren, die die EU mit Partnerländern schließt. Das aber dürfte mit China schwierig umzusetzen sein.
Die Kommissionspräsidentin hat den Ball statt Dombrovskis nun Industriekommissar Thierry Breton und Justizkommissar Didier Reynders zugespielt. Doch eine Umsetzung über die Sorgfaltspflicht-Verordnung bedeutet, den Unternehmen die Verantwortung zuzuschieben. Sie dürften dann keine Produkte verkaufen, bei denen die Vermutung besteht, dass Zulieferer aus problematischen Regionen wie Xinjiang eingekauft haben.
Anahita Thoms sieht dieses Vorhaben kritisch und geht davon aus, dass von der Leyens Vorstoß das ohnehin schon verspätete Sorgfaltspflicht-Gesetz womöglich noch weiter hinauszögert. “Es ist sowieso schon eine große Herausforderung. Wieso erschwert man das Gesetzesvorhaben so kurzfristig durch einen Vorschlag, von dem man nicht weiß, wie er nachher in der Praxis umgesetzt werden kann?”
Gleich mehrere Elemente behindern eine rasche Umsetzung des Importverbots. Da wäre etwa die Komplexität der Produkte, die auf dem europäischen Markt zirkulieren. Oft stammen die Komponenten aus verschiedenen Herkunftsländern und werden dann in einem dritten Land zu fertigen Produkten verarbeitet. Doch was, wenn etwa zehn Prozent eines Produktes aus einer “problematischen” Region stammen, der Rest aber nicht? Wenn jedes einzelne Teilchen eines komplex zusammengebauten Produktes unter ein Importverbot fiele, so könnte das in der Praxis “immense Herausforderungen für die Unternehmen verursachen”, warnt Thoms.
Die Implementierung des Importverbotes über eine Verordnung zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht hätte zudem große Auswirkungen auf dessen Ausgestaltung, gibt die Anwältin zu bedenken. Noch ist nicht klar, welche Stufen der Lieferketten unter die Sorgfaltspflicht fallen werden und ob die Unternehmen etwa nur die direkten Zulieferer prüfen müssen. Doch diese Diskussion wäre mit einem Importverbot hinfällig: “Wenn ein Unternehmen dafür sorgen muss, dass ein Produkt, das aus Zwangsarbeit stammt, gar nicht erst auf den europäischen Markt kommt, dann muss im Ergebnis die gesamte Lieferkette geprüft werden“, so Thoms.
Gleichzeitig zielt das Sorgfaltspflicht-Gesetz, zumindest in der strengen Auslegung, die sich Reynders wünscht, ohnehin darauf ab, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Unternehmen sind schließlich dazu angehalten, ihre Lieferketten zu prüfen und sie anzupassen, wenn sie Menschenrechtsverletzungen feststellen. In diesem Sinne dürfte ein strenges Gesetz implizit dafür sorgen, dass Produkte aus Zwangsarbeit nicht auf dem europäischen Markt landen.
Im Parlament findet ein Importverbot via Lieferkettengesetz wenig Unterstützung. Der französische Abgeordnete Raphael Glücksmann (S&D), der sich intensiv mit der Lage der Uiguren in Xinjiang beschäftigt, spricht sich vehement gegen die Idee aus: “Die Verordnung wird so schon kompliziert genug. Die Sorgfaltspflicht gilt für Unternehmen. Ein Verbot fokussiert sich aber auf Produkte. Es muss durch ein Handelsinstrument durchgesetzt werden.”
Anna Cavazzini teilt seine Bedenken. Die Implementierung durch die Sorgfaltspflicht würde den Prozess nur weiter verkomplizieren, sagte die Grünen-Politikerin. Auch NGOs wie Global Witness halten von dem Vorstoß von der Leyens wenig und fordern die Kommission auf, einen separaten Vorschlag zur Durchsetzung des Importverbotes ausarbeiten. In Kommissionskreisen heißt es, man sei “intern noch mitten in der Diskussion”.
In den Verhandlungen um den Digital Markets Act haben sich die Vertreter der Fraktionen im Binnenmarktausschuss am Dienstag angenähert. “Es war eine gute Sitzung, wir haben Fortschritte gemacht“, sagte die Schattenberichterstatterin der Sozialdemokraten, Evelyne Gebhardt, zu Europe.Table. EVP-Berichterstatter Andreas Schwab (CDU) ergänzte: “Wir kommen gut voran”.
Bei der Frage der Interoperabilität sei man aufeinander zugegangen, so Gebhardt. Schwab hatte zuvor einen neuen Kompromissvorschlag vorgelegt. Demnach kann eine große Gatekeeper-Plattform dazu verpflichtet werden, seine Messengerdienste und sozialen Netzwerke für andere Anbieter zu öffnen, ohne deren Nutzer schlechter zu behandeln als die eigenen Kunden. Nutzer von Signal oder Threema könnten so beispielsweise Kontakte bei WhatsApp erreichen, ohne sich selbst dort registrieren zu müssen.
Ein Kompromiss zeichnet sich laut Gebhardt auch bei den sogenannten Killerakquisitionen ab, bei denen Konzerne kleinere Konkurrenten aufkaufen, um ihre Position zu festigen. Auch der Wirtschafts- und Währungsausschuss sprach sich in seiner am Dienstagabend verabschiedeten Stellungnahme dafür aus, hier den Vorschlag der EU-Kommission zu verschärfen. So sollen die Informationspflichten ausgeweitet und die Beweislast den Unternehmen auferlegt werden.
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager warnte am Dienstag aber davor, über den DMA das existierende System der Fusionskontrolle zu umgehen. “Beide Themen sollten voneinander getrennt werden”, sagte sie vor Journalisten in Berlin. Dahinter steht die Sorge der Kommission, dass der DMA juristisch angreifbar werden könnte, da die Rechtsgrundlage in den EU-Verträgen für den DMA eine andere ist als für die Fusionskontrolle.
Vestager ist zudem zuversichtlich, das Problem der Killerakquisitionen auf Basis einer anderen Rechtsgrundlage angehen zu können, dem Verweissystem aus Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung. “Es gibt keinen Grund, das gleiche Problem zweimal zu lösen”, sagte sie.
Eine Annäherung, aber noch keine Einigung gibt es im IMCO beim Thema personalisierte Werbung, das auch im Zusammenhang mit dem Digital Services Act behandelt wird (siehe unten). Schwab hatte in seinem jüngsten Kompromissvorschlag die Möglichkeit vorgesehen, Gatekeepern das Zusammenführen von persönlichen Daten zu Werbezwecken zu untersagen, wenn die Nutzer keine “klare, eindeutige, erneute informierte Einwilligung” geben. Die Sozialdemokraten wollen hier noch einen Schritt weitergehen, in Form einer Opt-in-Lösung. Zudem soll personalisierte Werbung für Jugendliche verboten werden, ebenso wie die Nutzung von Informationen etwa über den religiösen Glauben oder die sexuelle Orientierung.
Vestager betonte, die Nutzer müssten eine echte Alternative haben: Bislang könnten die Menschen einen Dienst meist nicht nutzen, wenn sie die Verarbeitung ihrer Daten ablehnten. “Wir sollten einen Weg finden, dass die Menschen das wirklich nicht mitmachen müssen.”
Der Binnenmarktausschuss (IMCO) diskutiert heute Nachmittag über die Kompromissänderungsanträge zum “Digital Services Act” (DSA), der die Grundregeln für Dienstanbieter und Plattformen im Internet überarbeiten soll. Auf der offiziellen Tagesordnung, die Europe.Table vorab gesehen hat, stehen folgende Themen:
Über die personalisierte Werbung – einer der größten Knackpunkte – werden die Europaabgeordneten also nicht diskutieren. Die Schattenberichterstatterin der Grünen/EFA, Alexandra Geese, fordert ein Verbot dieser umstrittenen Werbe-Praxis (Europe.Table berichtete) und wird dabei auch von S&D sowie GUE/NGL unterstützt. Jedoch seien die Fraktionen EVP, Renew und ECR immer noch strikt gegen das Verbot, heißt es in Verhandlungskreisen. Ein Kompromiss liege hier also noch in weiter Ferne.
Bei den Ausnahmen von Transparenz- und Berichtspflichten für KMUs näherten sich die Positionen dagegen an. Auch bei der Regulierung von Algorithmen seien Kompromisse möglich, wozu auch die Facebook-Enthüllungen von Whistleblowerin Frances Haugen beigetragen hätten (Europe.Table berichtete).
Dass die finale Abstimmung im IMCO wie geplant am 8. November stattfindet, beurteilten Beobachter angesichts der offenen Streitpunkte als unrealistisch. Am Abend dann bestätigte die Berichterstatterin Christel Schaldemose die Verschiebung – allerdings mit Verweis auf den Besuch von Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen im Ausschuss an diesem Tag. koj
Knapp einen Monat nach dem Auftakttreffen des EU-US Handels- und Technologierates (TTC) in Pittsburgh (Europe.Table berichtete) haben sich Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und Handelskommissar Valdis Dombrovskis am Dienstagnachmittag den Fragen der Europaabgeordneten gestellt. Auch die Vorsitzenden der Ausschüsse für Binnenmarkt (IMCO), Industrie (ITRE) und Künstliche Intelligenz (AIDA) nahmen an der Debatte im Handelsausschuss (INTA) des Europäischen Parlaments teil.
Viele Abgeordnete betonten, dass die Einbeziehung des Parlaments in das Kooperationsforum, das zur Abstimmung von handels- und technologiepolitischen Fragen dienen soll (Europe.Table berichtete), nicht zu kurz kommen dürfe. Die IMCO-Vorsitzende Anna Cavazzini (Grüne/EFA) forderte, dass den Europaabgeordneten der Zugriff auf Sitzungsprotokolle und Tagesordnungen der TTC-Sitzungen gewährt werden müsse.
Parlamentarier äußerten zudem Bedenken, dass aktuell verhandelte digitale Gesetzesvorhaben in der EU wie der Digital Markets Act oder die KI-Verordnung aufgrund der Gespräche im Handels- und Technologierat überarbeitet werden müssten. Dem traten Dombrovskis und Vestager entschieden entgegen: “Wir haben nicht die Absicht, die Gesetzgebung zwischen den USA und der EU zu harmonisieren, auch wenn das möglich wäre”, sagte Vestager. Dombrovskis erinnerte daran, dass der TTC ein konsultatives und kein Entscheidungsfindungsgremium sei.
Mehrere Abgeordneten forderten, dass im TTC auch Umwelt- und Klimafragen thematisiert werden sollen. Um kurzfristige Halbleiter-Lieferengpässe zu überwinden, sollten auch Partnerländer wie Südkorea, Japan oder Singapur in das Gremium miteinbezogen werden. Dombrovskis versicherte, dass nachhaltige Technologien wie grüner Wasserstoff auf der Agenda stünden. Die Einbindung von Drittstaaten sei in dem bilateralen Forum aber nicht vorgesehen.
Die zweite Gesprächsrunde des TTC soll im nächsten Frühling in der EU stattfinden. Der INTA-Vorsitzende Bernd Lange (S&D) forderte, möglichst schnell ein konkretes Datum für dieses Treffen festzulegen und regte an, auch feste Zeitpläne für die Präsentation der Ergebnisse aus den zehn Arbeitsgruppen festzulegen. So gehe man sicher, dass am Ende auch konkreten Ergebnisse vorlägen. koj
Die EU-Energieminister haben sich nicht auf gemeinsames Handeln im Kampf gegen die steigenden Strom- und Gaspreise verständigen können. Man habe keine neuen Instrumente beschlossen, sagte EU-Kommissarin Kadri Simson am Dienstag zum Abschluss des Treffens.
Zuvor hatte besonders Spanien auf einen gemeinsamen Erdgas-Einkauf der EU-Staaten gedrängt. Spanien will zudem wie auch Frankreich oder Griechenland eine größere Reform des EU-Energiemarkts, darunter eine bessere Trennung von Strom- und Gaspreisen. Dies trifft jedoch bei einer Gruppe von neun Staaten – darunter auch Deutschland – auf Widerstand: “Dies ist kein Mittel, um die derzeit steigenden Energiepreise zu dämpfen, die am Markt für fossile Energien entstehen”, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung dieser Staaten.
Simson erklärte erneut, man wolle die Möglichkeit und Wirkung eines gemeinsamen Gas-Einkaufs genauer untersuchen. Fragen wie der Transport des Gases oder die Speicherung sowie die Übernahme der Kosten müssten geklärt werden. Erwartungen auf schnelle Erfolge bei den Energiepreisen dämpfte sie so. Sie hoffe aber, dass die Energieminister sich noch auf mittelfristige Reformen verständigen könnten, um in den kommenden Jahren dann Ergebnisse zu sehen. rtr
Die Betreiber der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 sind auf dem Weg zu einer Zertifizierung der Doppelröhre einen wichtigen Schritt vorangekommen. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte am Dienstag mit, es sei in einer Analyse zu dem Ergebnis gekommen, “dass die Erteilung einer Zertifizierung die Sicherheit der Gasversorgung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nicht gefährdet.” Die Bundesnetzagentur werde nun ihr Zertifizierungsverfahren fortsetzen. Die Frist hierfür läuft der Netzagentur zufolge bis zum 8. Januar. Das Ergebnis werde der EU-Kommission zur Stellungnahme vorgelegt.
In die Untersuchung seien auch Konsultationen mit EU-Nachbarstaaten berücksichtigt worden, erklärte das Ministerium. Estland, Italien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn sei die Möglichkeit eingeräumt worden, sich zu äußern. “Die Bundesnetzagentur wird jetzt das Zertifizierungsverfahren fortsetzen und die weiteren rechtlich notwendigen regulatorischen Bedingungen prüfen.” So sei insbesondere die Unabhängigkeit des Netzbetriebs nicht Gegenstand der Versorgungssicherheitsanalyse des Ministeriums. rtr
Andreas Schwab beißt schnell von einem Sandwich ab, checkt sein Handy und wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Dann läuft er weiter, zum nächsten Termin. Den ganzen Tag lang geht das meist so.
Es sei nicht einfach Politiker zu sein, sagt Schwab. Und er meint damit gar nicht das hohe Stresslevel. Man stehe in der Öffentlichkeit und sehe sich ständig mit Kritik konfrontiert. “Unsere Gesellschaft braucht aber nun mal Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen”.
Schwab hat Verantwortung übernommen. Als Sprecher der EVP-Fraktion im Binnenmarktausschuss weiß er um die Bedeutung des gemeinsamen Marktes für das europäische Projekt. Eine große blaue Europaflagge mit ihren zwölf goldenen Sternen prangt an der Wand seines Büros. Seit mittlerweile 17 Jahren sitzt der heute 48-Jährige für die Christdemokraten im Europaparlament. Dazu ist er gerade als Bezirksvorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Südbaden bestätigt worden.
Kaum ein anderer Abgeordneter ist so gut vernetzt wie Schwab. Er hat einen kurzen Draht in die oberen Stockwerke des Berlaymont, etwa zu Thierry Breton oder Margrethe Vestager. Seinen Einfluss im Europaparlament nutzte er, um sich die Aufgabe des Berichterstatters für den Digital Markets Act zu sichern. Kaum ein anderes Dossier ist politisch so bedeutend und prestigeträchtig wie dieses Regelwerk, das den Wettbewerb auf den Digitalmärkten vor den übermächtigen Konzernen retten soll.
Im Dezember will Schwab das Mandat des Plenums für den Trilog mit dem Rat erhalten, vorher muss er noch eine Mehrheit in seinem Ausschuss organisieren. Schwab verhandelt deshalb gerade intensiv mit den Kollegen der anderen Fraktionen. Die Sozialdemokraten etwa wollen den Spielraum der Gatekeeper-Plattformen noch stärker einschränken, als Schwab lieb ist (Europe.Table berichtete), ihnen etwa personalisierte Werbung komplett untersagen. Da ist die Fähigkeit gefragt, Kompromisse zu schmieden.
Wie es üblich ist in der EU. Der politische Werdegang von Andreas Schwab deutet sich schon in der Familiengeschichte an: Sein Großvater hat die CDU in Schwabs Geburtsort Rottweil gegründet. In dem Kreisverband der Jungen Union hat Schwab schließlich seine ersten politischen Schritte getan. Das obligatorische Jura-Studium führte ihn an das prestigeträchtige Pariser Institut Sciences Po.
In direkter Nachbarschaft mit der Schweiz und Frankreich begeisterte er sich früh für die Idee Europa. Sein Engagement für die deutsch-französischen Beziehungen brachte ihm sogar den Titel “Junger Europäer des Jahrs 1998” ein, verliehen von der Schwarzkopf-Stiftung. Damit einher ging ein Reisestipendium nach Madrid, durch das Schwab, wie er erzählt, nochmal eine andere Seite Europas kennenlernen durfte.
Gerade in der EU sei ein achtsames, ein diplomatisches Miteinander der Mitgliedsländer notwendig, sagt er. Der Binnenmarkt, wie auch die EU insgesamt, müsse aufpassen, nicht Opfer des eigenen Erfolges zu werden. Zwar habe sich der Binnenmarkt die letzten Jahrzehnte positiv entwickelt, aber er sei verletzlich.
Schwab nennt die Folgen der pandemiebedingten Grenzschließungen für Lieferketten, und politische Konflikte, mit Blick auf Polen und Großbritannien (Europe.Table berichtete). Um den richtigen Umgang mit solchen Konflikten zu finden, brauche man als Politiker das Gefühl: “Es lohnt sich, für Europa zu kämpfen“. Ein Gefühl, das, zusammen mit seinen christlichen Werten, das Fundament seines politischen Schaffens ausmache. Mit Bezug auf das Bismarck-Zitat “Völker haben keine Freunde, sondern Interessen”, sagt Schwab: “Da sind wir heute in Europa schon einen Schritt weiter”. David Zauner
So viele Europaabgeordnete wie bei diesen Koalitionsverhandlungen haben noch nie an dem Entstehen einer Bundesregierung mitgewirkt: Insgesamt 18 aktuelle und 3 ehemalige MdEP sind Teil der Verhandlungsteams von SPD, Grünen und FDP. Und das auch in anderen Themen als, man verzeihe, “nur” bei Europa – von A wie Albrecht und B wie Barley, Beer und Bischoff bis zu R wie Reintke.
Darf man nun hoffen, dass die europapolitische Dimension des Berliner Re- und Agierens damit verstärkt Eingang in die Beratungen und damit auch in die darin skizzierte künftige Regierungsarbeit findet? Denn dass weder die Klimapolitik noch die Handelspolitik, auch nicht die Finanzpolitik oder die Migrationspolitik oder gar die Digitalpolitik ohne die EU-Dimension wirklich erfolgreich gestaltet werden können, das sollte im Jahr 2021 ja eigentlich eine Binse sein.
Doch schaut man ganz genau hin, stellt man schnell fest: Die MdEP- und Ex-MdEP-Häufung liegt vor allem am Koalitionsverhandlungs-Team einer Partei: Die SPD schickt 4 aktuelle Mandatsträger in die Gespräche, die Grünen 11 aktuelle und 2 ehemalige – und die FDP immerhin 3 ihrer aktuell 5 MdEP, dazu 2 ehemalige.
Und das bedeutet vor allem eines: Dass nun einige MdEP in dieser Woche in Terminkonflikte geraten. Da möchte man doch fast rufen: Wie gut, dass es Corona gibt! Natürlich nur, weil damit eine Zuschaltung aus Berlin – wie am Dienstag für die Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager in den INTA-Ausschuss – auch für MdEPs in diesen Zeiten relativ unproblematisch funktioniert. Falk Steiner