Gleich drei Staats- und Regierungschefs besiegelten die Gründung. Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der damalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte kamen im Oktober 2022 zusammen, als der Thinktank Brussels Institute for Geopolitics (BIG) entstand. Mittlerweile haben die drei Gründer Luuk van Middelaar, Hans Kribbe und Sébastien Lumet nicht nur die Unterstützung von Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, sondern auch von Belgien, Dänemark und Tschechien.
Was der Brüsseler Thinktank Bruegel während der Eurokrise geleistet hat, soll dem Thinktank mit dem unbescheidenen Akronym künftig in Sachen Geopolitik gelingen: Strategischen Sachverstand bündeln, Raum für Debatten schaffen, fundierte Analysen für Entscheider liefern. „Die Geschichte ist gerade in Bewegung“, sagt Co-Gründer van Middelaar. „Und wir wissen nicht, wohin sie sich bewegt.“
Anders als viele andere Intellektuelle kennt der Historiker und Philosoph van Middelaar, der an der Universität Leiden lehrt, die EU von innen. Als Redenschreiber und Berater des ersten EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy erlebte er die bewegten Jahre 2009 bis 2014, einschließlich der Eurokrise im Justus-Lipsius-Ratsgebäude. Aus dieser Zeit im Rat ist er bestens vernetzt mit den Sherpas in Europas Regierungszentralen. Auf 200 schätzt er die Zahl derjenigen, die sich in Europas Hauptstädten praktisch mit Geopolitik beschäftigen.
Als Van Rompuy van Middelaar anheuerte, da hatte der gerade über die Anfänge der EU promoviert. Die Promotionsschrift wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und erschien auf Deutsch unter dem Titel „Vom Kontinent zur Union“. Zwei weitere Bücher zu Europa folgten seither. Dass Macron seine Arbeit kennt, hat bei der Gründung von BIG sicher nicht geschadet.
Bereits sein erstes Buch brachte van Middelaar nach Brüssel. In seiner Masterarbeit, die unter dem Titel „Politicide“ erschien, beschreibt er, wie skeptisch französische Philosophen ab den Dreißigerjahren des vorherigen Jahrhunderts der Demokratie gegenüberstanden, wie sehr sie den Kommunismus beschönigten. Dem niederländischen Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein gefiel das Buch so gut, dass er van Middelaar 2002 als Praktikant in die EU-Kommission holte – und anschließend als Redenschreiber behielt.
An seinem ersten Arbeitstag erlebte van Middelaar damals, wie in Brüssel Politik gemacht wird. Weil niemand sonst im Kabinett Bolkestein Zeit hatte, wurde er zur ersten Sitzung des europäischen Verfassungskonvents geschickt. Unter Leitung von Valéry Giscard d'Estaing sollte die Versammlung eine EU-Verfassung erarbeiten. Das Projekt scheiterte bekanntlich. Van Middelaar empfand den Konvent als Crash-Kurs in Sachen EU, erlebte nationale Denkweisen und tauchte erstmals ein in den EU-Jargon.
Die Zeiten, in denen die EU sich mit sich selbst beschäftigen kann, sind jedoch vorbei. 2020 hatte van Middelaar erstmals über die Gründung eines Thinktanks in Brüssel zu Geopolitik nachgedacht, weil er einen n Bedarf ausgemacht hatte. Die EU muss sich in einer multipolaren Welt behaupten, und BIG will „einen geschützten Raum für Debatten über EU-Strategie“ bieten, sagt van Middelaar.
Denker, Macher und auch Künstler sollen sich in Brüssel mischen, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Gedankenspiele am selben Tag an die Öffentlichkeit geraten. Die Union müsse sich der Welt so stellen, wie sie ist. „ Europa muss sich an die neue Ära anpassen “, sagt van Middelaar. Die Union müsse sich eine Strategie geben, die Zeit des Freihandels sei vorbei. „Die Standard-Antworten aus den Volkswirtschaftslehrbüchern funktionieren nicht mehr.“ Bei BIG sollen neuen Antworten entstehen. Silke Wettach