auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat China gleich zweimal Aufsehen erregt. Erst durch ein Angebot des chinesischen Top-Diplomaten Wang Yi, im Ukrainekrieg zu vermitteln. Und dann durch die Unterstellung der US-Amerikaner, China wolle die Unterstützung für Russland auf Waffen ausweiten.
Michael Radunski war für China.Table live in Bayern dabei und geht der Frage nach: Wie passen diese widersprüchlichen Aussagen zusammen?
Auf der einen Seite bedeutet der vorgebliche Friedens-Vorstoß gar keine Politikänderung. Unsere Analyse kommt daher als Enttäuschung für all die, die sich schon seit einem Jahr chinesische Vermittlung in dem Krieg herbeisehnen. Wang deutet nämlich an, dass ein chinesischer Friedensplan auf herbe Gebietsverluste der Ukraine hinauslaufen würde. Er will die Interessen beider Seiten gleichermaßen berücksichtigen. Russland hat seine Interessen aber komplett einseitig und rücksichtslos definiert, weshalb dieser Vorschlag aufseiten der Ukraine keine Chance haben dürfte.
Auf der anderen Seite blieben die USA vage, was ihre “Erkenntnisse” zu möglichen Waffenlieferungen Chinas an Russland angeht. “Bereitstellung tödlicher Unterstützung” kann vieles heißen. Auf der Konferenz lief es auf einen Schlagabtausch China-USA hinaus, der zumindest eine klare Erkenntnis zulässt: China mischt sich wieder mehr ein. Und gibt sich dabei etwas verbindlicher. Auch wenn Wang die USA wegen ihrer Reaktion auf den Ballonflug “hysterisch” nennt.
Hintergründe zum Ballon lieferte uns auf der Konferenz der bekannte Politologe Ian Bremmer. “Xi weiß genau über das chinesische Ballon-Programm Bescheid”, glaubt er. Doch das Auftauchen in Montana war seinen Erkenntnissen zufolge keine Absicht. Chinas Ballon-Programm habe hier schlicht “schlampig” gearbeitet. Im langfristigen Ausblick glaubt Bremmer daher nicht an eine Eskalation. Er hofft zudem, dass sich Xi inzwischen eine Invasion in Taiwan zweimal überlegen würde, weil er sieht, “wie stark der Westen auf die russische Invasion reagiert”.
Einen produktiven Start in die Woche wünscht
Es muss ziemlich hart zur Sache gegangen sein zwischen US-Außenminister Antony Blinken und Chinas höchstem Außenpolitiker Wang Yi. Zu später Stunde hatten sie sich am Samstag für ein vertrauliches Gespräch in die Hinterzimmer des Hotels Bayerischer Hof zurückzogen. Sehr direkt und kontrovers sei der Austausch verlaufen, hieß es anschließend aus der US-Delegation. Blinken selbst sagt, er habe China wegen des chinesischen Spionageballons verwarnt: “So etwas darf nie wieder passieren.”
Das ganze Wochenende über fuhren beide Weltmächte scharfe Attacken gegeneinander. Und doch war die 59. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ein gutes Treffen für die internationale Diplomatie: China kündigte einen eigenen Friedensplan für die Ukraine an. Die USA nutzten derweil die Möglichkeiten der MSC, um nach dem Ballon-Vorfall wieder die direkte Kommunikation mit China aufzunehmen. Dass es derzeit um die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten nicht allzu gut bestellt ist, konnte – und wollte – allerdings keine Seite beschönigen.
So blieben die Chinesen auch in München bei ihrer Version des Ballon-Vorfalls, wonach es sich lediglich um ein Flugobjekt gehandelt habe, das für zivile Zwecke genutzt und versehentlich von seinem Kurs abgekommen sei. Darauf hätten die USA “absurd und hysterisch” reagiert. Es handele sich um einen “Missbrauch von Gewalt” und eine “Verletzung internationaler Praktiken”, klagte Wang in München. Es sei an den USA, den selbst angerichteten Schaden zu beseitigen.
Wenige Stunden vor seinem Hinterzimmer-Treffen mit Blinken kündigte Chinas wichtigster Außenpolitiker auf der großen Bühne im Bayerischen Hof an, man werde demnächst die chinesische Position zur politischen Beilegung der Ukrainekrise vorlegen – leider ohne genaue Details zu nennen.
Folgende Gedanken äußerte Wang zum Friedensplan:
Die Ausdrucksweise verrät, dass Wang hier ein ganz anderer Friedensschluss vorschwebt als den Unterstützern der Ukraine. China spricht auch fast ein Jahr nach dem Ausbruch des Krieges lediglich von einer Krise. Und auch Wangs Verweis auf “legitime Sicherheitsinteressen aller Parteien” lässt darauf schließen, dass China wohl nicht allzu energisch die russischen Gebietsgewinne im Osten der Ukraine zurückfordern wird. Schließlich handelt es sich hierbei wortgleich um die russische Begründung für den Angriff auf die Ukraine.
Falls Wang die Kriterien ernst meint, handelt es sich um die Quadratur des Kreises: die UN-Prinzipien von Souveränität und territoriale Integrität für Ukraine zusammenzubringen mit den vermeintlichen Sicherheitsinteressen Russlands, die aus Sicht Moskaus offenbar durch die bloße Existenz der Ukraine gefährdet sind.
Eberhard Sandschneider glaubt, hinter dem chinesischen Vorstoß denn auch andere Gründe zu erkennen. “China ist in München auf Charme-Offensive”, sagte der Politikwissenschaftler im Gespräch mit China.Table. “Die Volksrepublik will nach drei Jahren Corona-Pandemie unbedingt wieder zurück auf die große Bühne der Weltpolitik.”
Annalena Baerbock begrüßte in München hingegen den chinesischen Vorstoß: Man sollte jede Chance nutzen, sagte die deutsche Außenministerin. “Es ist gut, wenn China seine Verantwortung sieht, für den Weltfrieden einzustehen.” Das habe sie Wang auch im direkten Gespräch mitgeteilt. Allerdings müsse bei alldem die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt werden, betonte Baerbock.
Weitaus skeptischer zeigte sich ihr US-amerikanischer Kollege: “Wer will nicht, dass die Waffen endlich ruhen?”, sagte Blinken. “Aber wir müssen unglaublich vorsichtig sein angesichts der Fallen, die gesetzt werden können.” Putin werde sicherlich nicht über die besetzten Gebiete in der Ukraine verhandeln, sondern eher die Zeit nutzen wollen, um seine Truppen neu zu formieren und auszurüsten.
Stattdessen warnte Blinken, China erwäge derzeit, eigene Waffen und Ausrüstung an Russland zu liefern. Man werde demnächst Informationen vorlegen, die das belegen würden. Experten zufolge könnte China Satellitenaufnahmen bereitstellen, die es der russischen Söldnertruppe Wagner ermöglichen, gezielter zuzuschlagen oder hochwertige Elektronikteile, die das russische Militär dringend benötigt. Die Warnung beruhe auf “Erkenntnissen” der USA.
Blieben noch die zunehmenden Spannungen um Taiwan. Es war der frühere MSC-Vorsitzende Wolfgang Ischinger, der Wang Yi nach dessen Vortrag bat, der Weltöffentlichkeit zu versichern, dass um Taiwan keine militärische Eskalation bevorstehe. Doch bei diesem Thema weicht China keinen Millimeter zurück.
Entsprechend schroff erwiderte Wang: “Taiwan ist Teil des chinesischen Territoriums. Es war niemals ein eigenständiges Land, und es wird auch in der Zukunft kein Land sein.” Alle sollten sich an die Ein-China-Politik halten, mahnte Wang und fügte hinzu: “Wir wollen Souveränität und territoriale Integrität respektieren. Das ist gut. Aber das muss auch in Bezug auf China gelten.”
Es ist die entscheidende Frage, wie China eben jene Prinzipien in seinem Friedensplan für die Ukraine umsetzen will. Die Antwort könnte schon bald folgen. Auf den Gängen der Sicherheitskonferenz war zu hören, dass China seinen Plan kommende Woche zum Jahrestag des Kriegsausbruchs in der Ukraine vorlegen will.
Der Streit um den mutmaßlichen chinesischen Spionageballon hat zuletzt für große Aufregung gesorgt. Wie groß ist der Schaden für die Beziehungen zwischen China und den USA?
Marginal.
Marginal, bei all der Aufregung? US-Präsident Biden hat sogar Kampfjets aufsteigen und das Ding abschießen lassen. Warum dann die ganze Aufregung?
Es ist in der Tat wichtig, die Hintergründe zu verstehen. Die Aufregung ist ein Spiegel der aufgeheizten öffentlichen Stimmung in den USA. Die US-Öffentlichkeit ist einerseits tief gespalten, beim Thema China aber andererseits sehr einig. Und hier ist man sehr streitsüchtig.
Keine gute Grundlage für rationale Politik.
Nein. Aber diese aggressive Streitsucht ist nicht die Politik der Biden-Administration. Allerdings kann es sich Präsident Biden nicht erlauben, schwach auszusehen. Wie damals beim Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi.
Und jetzt wieder.
Biden wusste doch von dem Ballon. Die USA haben ihn vom Start in Hainan an beobachtet. Außenminister Blinken wollte trotzdem nach China reisen, und niemand wollte den Ballon abschießen. Doch dann wurde das Thema öffentlich.
Nochmals: Das ist nicht gut für eine vorausschauende Politik. Und die braucht es dringend.
Richtig. Aber das Gute ist, die aufgeheizte Stimmung wird die grundlegende Politik der Biden-Administration nicht verändern. Blinken wird Wang Yi nun hier auf der Münchner Sicherheitskonferenz hinter verschlossenen Türen treffen.
Schauen wir auf China. Hat Xi Jinping willentlich den Beziehungen zu den USA Schaden zugefügt? Oder wusste er nicht, was das chinesische Militär gerade tut. Beides wäre beunruhigend.
Xi weiß genau über das chinesische Ballon-Programm Bescheid. China hat ja auch in der Vergangenheit mehrmals Ballons Richtung USA geschickt. Aber immer nur kurz oder über eine Insel wie Guam oder Hawaii. Dieses Mal scheint der Ballon jedoch tatsächlich von seiner Route abgekommen zu sein und flog über Amerika.
Ein Moment, in dem man hätte eingreifen können.
Man hätte die Amerikaner informieren sollen. Aber in diesem Moment hat wohl jemand im chinesischen Militär gedacht, nutzen wir doch dieses Versehen zu unserem Vorteil und schauen mal genauer hin. Wie es dann gekommen ist, darüber war Xi intern nicht begeistert.
Ist Chinas Militär hier also zu weit gegangen?
Nein. Denn das würde implizieren, dass es gewollt war. Aus meiner Sicht war die Ausführung einfach schlampig. Denn im Grunde haben die Chinesen weitaus bessere Spionage-Möglichkeiten als diese Ballons.
Es wirft die Frage auf, wie mächtig ist Xi Jinping überhaupt?
Oh, machen Sie sich nichts vor. Er ist der mächtigste Mann der Welt.
Und das aus dem Munde eines Amerikaners?
Ja. China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, und Xi ist Präsident auf Lebenszeit. Er hat über die vergangenen Jahre hinweg unglaublich viel Macht in seiner Hand gebündelt, und ist umgeben von einem Kreis loyaler Parteikader.
Und Joe Biden?
Die USA sind nach wie vor die Weltmacht Nummer 1, immer noch viel mächtiger als China. Aber kein amerikanischer Präsident hat derart viel Entscheidungsmacht wie Xi in einem autoritären Staat mit kontrolliertem Staatskapitalismus und umfassender technologischer Überwachung. Und ganz ehrlich: Kein Amerikaner möchte einen derart mächtigen Präsidenten haben, eine Person, die so viel Macht auf sich vereint.
Wenn wir gerade über Stärke sprechen. Wie stark ist Chinas Militär?
Es ist eine regionale Gefahr. Aber was hier auf der Sicherheitskonferenz wieder ganz deutlich sehen: Sicherheitspolitisch wird die Welt noch immer von den USA angeführt. Die USA sind die einzige Macht, die weltweit Einfluss ausübt. Ohne die Amerikaner würde es keine signifikante Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine geben. Die USA verfügen weltweit über Militärbasen und haben zudem die höchsten Militärausgaben.
Gibt es einen Bereich, in dem Chinas Militär mithalten kann?
Durchaus. Im Technologiebereich gibt es viele Sektoren, in denen die Chinesen inzwischen auf Augenhöhe mit den USA sind.
Schon auf Augenhöhe?
Ja. Zum Beispiel in der Gesichtserkennung. Oder in der digitalen Datengewinnung, die Peking dann auch noch weiß, zu nutzen. Das ist eine Herausforderung für die nationale Sicherheit. Deshalb reagieren die USA mit Technologie-Sanktionen.
Sie sagten, Chinas Militär ist eine regionale Bedrohung. Da denkt man sofort an Taiwan. Sicherheitsexperten, mit denen ich hier auf der Konferenz gesprochen habe, sagen: Was in der Ukraine passiert, ist schlimm. Aber sollte das mit Taiwan passieren, wäre es ungleich schlimmer.
Das stimmt. Der weltweit wichtigste Konzern befindet sich in Taiwan: der Chiphersteller TSMC. Die Konsequenzen wären global noch viel dramatischer als das, was wir derzeit wegen des Ukrainekrieges im Bereich Nahrung und Dünger erleben. Und diese Probleme sind für viele Länder schon dramatisch. Zudem würde ein Krieg zwischen den beiden führenden Weltmächten zu dramatischen Verwerfungen führen bei Versorgungsketten, wirtschaftlichen Beziehungen und so weiter.
Welche Auswirkungen hätte eine Aggression gegen Taiwan auf die Demokratien der Welt?
Es hätte wahrscheinlich umfassende bündnispolitische Auswirkungen. Wenn Taiwan fällt, würden die US-Verbündeten in Asien wohl viel enger an die USA rücken, so wie der Ukrainekrieg Finnland und Schweden in die NATO treibt. Japan, Südkorea, Neuseeland, Australien könnten zu dem Schluss kommen, dass sie fester Bestandteil einer US-geführten Allianz werden sollten. Ganz zu schweigen von Konsequenzen für die Länder des globalen Südens.
Ist sich Xi Jinping all dieser möglichen Konsequenzen bewusst?
Xi Jinping sieht gerade, wie stark der Westen auf die russische Invasion reagiert. Im vergangenen Jahr war das Thema der Sicherheitskonferenz “Westlessness”. Dieses Jahr sieht es ganz anders aus, es ist “Westfullness”. Und das hilft China nicht unbedingt.
Ian Bremmer ist Politikwissenschaftler. Er ist Präsident und Gründer der Eurasia Group, einem Forschungs- und Beratungsunternehmen für politische Risiken. Bremmer hat mehrere Bücher verfasst, darunter der NYT-Bestseller “Us vs Them: The Failure of Globalism”. Derzeit lehrt er zudem an der School of International and Public Affairs der Columbia University.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wird Ende März für einen ersten Besuch während der neuen Amtszeit nach China reisen. Lula treffe sich am 28. März mit Xi Jinping in Peking, berichtete Reuters unter Berufung auf offizielle Quellen.
Auf Lulas Agenda in Peking steht demnach die Ernennung eines neuen Präsidenten der BRICS-Bank. Brasilien will dafür die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff vorschlagen. Rousseff war 2016 des Amtes enthoben worden. Die anderen BRICS-Mitglieder haben sie dem Bericht zufolge als neue Bankenchefin akzeptiert worden sein.
Lula, der China während seiner ersten Amtszeit von 2003 bis 2010 zweimal besuchte, wird Ende März vier Tage in Peking bleiben. Neben Handelsthemen soll dabei auch über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden. Lula hatte zuletzt an China appelliert, als Vermittler aufzutreten. Die Volksrepublik ist der größte Handelspartner Brasiliens. rtr/ari
Die EU und China haben sich erstmals wieder zu einem Austausch über Menschenrechtsangelegenheiten getroffen. Brüssel habe sich bei dem Treffen “ernsthaft besorgt” über
geäußert, wie der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) zu dem 38. Treffen des Menschenrechtsdialogs mitteilte. Die Seite der EU betonte demnach auch die “besonders prekäre Situation von Uiguren, Tibetern und Angehöriger religiöser, ethnischer und sprachlicher Minderheiten”. Die EU verwies nach eigenen Angaben auf den Bericht der ehemaligen Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, über die Menschenrechtslage in Xinjiang.
Zudem seien mehrere konkrete Fälle inhaftierter Aktivisten angesprochen worden, darunter der von Gui Minhai und Ilham Tohti, teilte der EEAS mit. China habe sich während des Treffens nach Angaben der europäischen Seite auf die Situation und Behandlung von Flüchtlingen und Migranten sowie Fremdenfeindlichkeit in der EU konzentriert. Der Menschenrechtsdialog war zuvor mehrere Jahre ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen hatten das Treffen wegen ihrer Ansicht nach fehlender nachhaltiger Ergebnisse vorab kritisiert. ari
Eine weitere chinesische Wirtschaftspersönlichkeit ist unauffindbar. Diesmal handelt es sich um den Bankier Bao Fan 包凡. “Uns gelingt es nicht mehr, mit Herrn Bao Kontakt aufzunehmen”, teilte die Finanzgruppe China Renaissance am Freitag über die Börse Hongkong mit. Bao ist Gründer der Firma, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist. Ihr Akteinkurs stürzte am Freitag ab.
Der Staat bestellt chinesische Konzernchefs zuweilen zu Schulungen ein, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt jetzt im Gefängnis. Was mit Bao getan haben könnte, ist bislang unbekannt. fin
Im März 2022 gab die chinesische Regierung ein Wachstumsziel in Höhe von 5 bis 5,5 Prozent des BIP für das ganze Jahr vor. Seinerzeit schien Wachstum auf einem solchen Niveau durchaus erreichbar. Doch innerhalb eines Monats breitete sich die Omikron-Variante aus und führte zu strengen Lockdowns, die zwar die Ausbreitung des Coronavirus eindämmten, aber der Angebots- und Nachfrageseite der Wirtschaft schweren Schaden zufügten. Chinas Wachstumsrate 2022 lag bei lediglich drei Prozent.
Heute sieht es für Chinas Wirtschaft wieder besser aus. Nach der raschen Abkehr der Regierung von ihrer Null-Covid-Politik im Dezember – und vor allem seit Mitte des letzten Monats – ist die Wirtschaft wieder in Schwung gekommen. Diese neue Vitalität war während des Neujahrsfestes Ende Januar zu beobachten, als mehr als 300 Millionen Chinesen zu ihren Familien in die Heimat reisten, 23 Prozent mehr als im Vorjahr.
Es gibt gute Gründe, im Jahr 2023 ein deutlich höheres Wachstum zu erwarten. Zunächst werden die gesamtwirtschaftlichen Zuwächse das niedrige Ausgangsniveau des Jahres 2022 widerspiegeln. Ausgehend von einem durchschnittlichen BIP-Wachstum in Höhe von 4,8 Prozent in den Jahren 2019-22 lässt eine Überschlagsrechnung darauf schließen, dass China in der Lage sein sollte, 2023 ein BIP-Wachstum von rund sechs Prozent zu erzielen.
Zudem hat China noch reichlich Spielraum für eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Im geldpolitischen Bereich besteht die Möglichkeit, sowohl die Mindestreserveanforderungen für Banken als auch die Leitzinsen, wie den Sieben-Tage-Reverse-Repo-Satz und die mittelfristige Kreditfazilität, zu senken.
Was die Fiskalpolitik anbelangt, so gibt es weit verbreitete – und berechtigte – Sorgen über Chinas hohen Verschuldungsgrad. Doch die Staatsschuldenquote der Regierung ist nach wie vor deutlich niedriger als in den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Wenn man dann noch das schnellere BIP-Wachstum und die hohe Sparquote in China hinzunimmt, wird deutlich, dass Chinas Haushaltslage viel besser ist als die der meisten Industrieländer.
Die Frage ist, wie die verfügbare politische Unterstützung ausgerichtet werden soll. Angesichts der düsteren globalen Aussichten ist nicht damit zu rechnen, dass die Exporte in diesem Jahr ein wichtiger Wachstumsmotor sein werden, auch wenn sie 2022 einen wichtigen Beitrag zum Wachstum geleistet haben. Die Verbrauchernachfrage kann das Wachstum stützen, wenn sie sich stark erholt: 2022 trugen die Konsumausgaben in China lediglich 32,8 Prozent zum BIP-Wachstum bei, obwohl sie rund 55 Prozent des BIP ausmachen. Die wahrscheinlichen Auswirkungen direkter Maßnahmen zur Ankurbelung der Verbrauchernachfrage bleiben jedoch unklar.
Zur Förderung von Investitionen wäre eine expansive Fiskalpolitik sinnvoll. Während der Beitrag der Investitionen zum BIP-Wachstum seit 2010 deutlich zurückgegangen ist, waren sie im Jahr 2022 der Hauptmotor des Wachstums. Ja, die Immobilieninvestitionen gingen um zehn Prozent zurück. Doch Investitionen in das verarbeitende Gewerbe und in die Infrastruktur stiegen um 9,1 Prozent beziehungsweise 9,4 Prozent.
Das Beste, was sich China für den Immobiliensektor im Jahr 2023 erhoffen kann, ist eine Stabilisierung der Investitionen, während die Investitionen im verarbeitenden Gewerbe hauptsächlich von den Marktkräften im Zusammenhang mit der industriellen und technologischen Entwicklung bestimmt werden. Infrastrukturinvestitionen verdienen jedoch fiskalpolitische Unterstützung.
Einige Ökonomen behaupten, dass China ohnehin unter übermäßigen Infrastrukturinvestitionen leidet, wobei sie auf massive Verschwendung und Fehlinvestitionen verweisen. Sie haben zwar recht damit, dass China ineffiziente Investitionen getätigt hat, doch der Infrastrukturbedarf des Landes wurde nicht gedeckt. So hat etwa die Pandemie die Schwächen der chinesischen Infrastruktur im Bereich der öffentlichen Gesundheit aufgezeigt. Chinas Infrastrukturdefizit (pro Kopf) ist im Vergleich zu fortgeschrittenen Volkswirtschaften riesig. Infrastrukturinvestitionen sind also nach wie vor dringend erforderlich, sie müssen nur gezielter eingesetzt werden.
Natürlich könnte ein weiteres unvorhergesehenes Ereignis wie die Pandemie Chinas Wachstumsbestrebungen im Jahr 2023 zunichtemachen. Ein wahrscheinlicheres Hemmnis ist ein Anstieg der Inflation, wie er in vielen anderen Ländern der Welt zu beobachten ist.
In den vergangenen zehn Jahren war die Inflationsrate in China sehr niedrig, und der Verbraucherpreisindex lag im Durchschnitt unter zwei Prozent. Doch die Pandemie hat Chinas Produktionskapazitäten einen schweren Schlag versetzt, und die Wiederherstellung der Lieferketten und die Beseitigung von Produktionsengpässen kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Infolgedessen wird das Angebot möglicherweise nicht mit dem Nachfrageschub Schritt halten können, der mit der Öffnung der chinesischen Grenzen einhergeht. Das daraus resultierende Ungleichgewicht wird die Inflation in diesem Jahr zumindest eine Zeit lang steigen lassen.
Eine höhere Inflation wird die Fähigkeit der Regierung beeinträchtigen, eine expansive Fiskal- und Geldpolitik umzusetzen. Die Stabilisierung des Wachstums muss jedoch politische Priorität haben, sodass China möglicherweise eine Inflationsrate von mehr als zwei bis drei Prozent tolerieren muss. Das richtige Gleichgewicht zwischen Wachstum und Preisstabilität zu finden, könnte sich in diesem Jahr als eine der größten Herausforderungen für Chinas Regierung erweisen.
Eine fiskal- und geldpolitische Expansion kann Chinas strukturelle Probleme nicht lösen. Sie kann jedoch Raum schaffen, damit China das umfassende Reformprogramm umsetzen kann, das auf dem 18. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2012 beschlossen wurde. In diesem Programm wurde die Regierung aufgefordert,
Die Regierung muss schnell handeln, da ihr Spielraum für makroökonomische Expansion mit dem Anstieg der Verbraucherpreisinflation und anderen potenziellen Restriktionen schrumpfen könnte. Wenn die chinesische Führung die Fiskal- und Geldpolitik optimal einsetzt und die Reformen und die Öffnung unbeirrt fortsetzt, kann sie sicherstellen, dass 2023 ein sehr gutes Jahr wird.
Yu Yongding, ehemaliger Präsident der Chinesischen Gesellschaft für Weltwirtschaft und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Politik an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, war von 2004 bis 2006 Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der chinesischen Notenbank People’s Bank of China.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2023.
www.project-syndicate.org
James Edgar ist neuer stellvertretender Büro-Chef bei der Nachrichtenagentur AFP in Peking. Edgar war zuvor für AFP in Hongkong tätig.
Hou Yue ist neue chinesische Botschafterin in Norwegen. Sie legte ihre Bevollmächtigungsurkunde Ende Januar dem Königspalast vor. Hou folgt damit Yi Xianliang nach.
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Wussten Sie, dass Poseidon ein ziemlicher Playboy war? Ja genau, gemeint ist der Herr aus der griechischen Mythologie, der Gott des Meeres. Den Römern war er auch als Wassergottheit Neptun bekannt. Eigentlich war der Bruder des Zeus mit der bildschönen Amphitrite vermählt, der Beherrscherin der Meere. Doch das war dem dreizackbestückten und narzisstisch veranlagten Wasser-Vagabunden scheinbar nicht genug. Und so soll er sich der Überlieferung nach nebenher auch immer wieder mit Wassernixen und Meernymphen vergnügt haben.
Vielleicht war das der ausschlaggebende Grund, warum die Chinesen den alten Wassergott wieder aus dem Olymp der Vergessenheit hervorgekramt haben und ihn neuerdings einer sprachlichen Frischekur unterzogen. Und so ist “Poseidon” – auf Chinesisch wörtlich “Meereskönig” 海王 hǎiwáng – heute ein Synonym für selbstverliebte Playboys, die sich gerne in Gesellschaft des anderen Geschlechts tummeln und sich bevorzugt von schönen Frauen umschwärmen lassen.
Dabei wirft ein “hǎiwáng” in alle vier Himmelsrichtungen seine Netze aus (四处撒网 sìchù sāwǎng), ohne sich aber einen der Fänge ins heimische Aquarium zu setzen. Stattdessen lässt er angeköderte Prachtexemplare im Netz zappeln und sich damit alle Optionen offen. Der Harem an Verehrerinnen, den sich der Neptun-Schwerenöter so mit der Zeit anlegt, heißt im Internetslang folgerichtig 鱼塘 (yútáng), also “Fischteich” oder “Fischbecken”. Und für selbigen “züchtet” sich der Meerkönig immer wieder neue Exemplare heran (养鱼 yángyú -“neue Verehrerinnen heranziehen” heißt das – oder wörtlich “Fische züchten”). Natürlich geht es aber auch umgekehrt und es sind nicht immer die Herren, die den Dreizack in der Hand halten. Narzisstisch veranlagte Playgirls heißen auf Neuchinesisch 海后 hǎihòu – “Meeresköniginnen”.
Nicht verwechselt werden sollten diese Sea-Kings und Ocean-Queens übrigens mit den Krümelmännern (渣男 zhānán) und Krümelfrauen (渣女 zhānǚ), auf die ich schon einmal in einer früheren Kolumne eingegangen bin. Die Krümelfraktion ist in der Regel in festen Händen und dennoch kein Kostverächter, wenn sich die Möglichkeit bietet. Was tun “Menschenkrümel” also? Nun, durch die Mandarinblume gesprochen: sie “stehlen Hühner und grabschen nach Hunden” (偷鸡摸狗 tōu jī mō gǒu), sie “stehlen Duft und klauen Jade” (偷香窃玉 tōu xiāng qiè yù), ja sie “befeuchten die Blumen und zertrampeln das Gras” (沾花惹草 zhān huā rě cǎo) – all dies nämlich sind antike Euphemismen zur Beschreibung eines lasterhaften Liebeslebens, in dem eine (außereheliche) Affäre die nächste jagt.
Ganz anders dagegen: die Meeresmajestäten. Als Blaublüter unter den Charmebolzen genießen die selbstverliebten Herr- und Frauschaften genüsslich das Bad in der Bewunderung potenzieller Partnerinnen beziehungsweise Partner, schwelgen also in der Magie der Möglichkeiten, ohne Intention, sich festzulegen. Nicht selten handelt es sich also um marine Narzissten (自恋狂 zìliànkuáng, Narzisst, Narzisstin).
Lasterhafte Liebschaften werden im Chinesischen übrigens noch in vielen weiteren blumigen Wortbündeln drapiert. Hätten Sie zum Beispiel gedacht, dass man in China nicht zweigleisig fährt, sondern “zweibootig”? Denn “mit den Füßen in zwei Booten stehen” (脚踏两只船 jiǎo tà liǎng zhī chuán) ist im Mandarin eine Metapher für “eine Affäre haben”. Natürlich ist im Fitness- und Yogazeitalter die olle Bootsmetapher ein bisschen aus der Mode gekommen. Und so spricht die Netzgemeinde hier neuerdings lieber von 劈腿 pǐtuǐ – einem “Spagat” also. (Wobei ja auch die Schiffsstory bei entsprechender Strömung in diese Richtung ausarten kann).
Wer einen Seitensprung hat, der hüpft in China nicht nur zur Seite, sondern hopst gleich ganz aus dem Gleis. Denn 出轨 chūguǐ (wörtlich “aus dem Gleis geraten”) ist ebenfalls eine bildliche Umschreibung für “fremdgehen”. Sprachlich romantischer als unser One-Night-Stand ist die chinesische Wortvariante dafür: die “Liebe für eine Nacht” (一夜情 yīyèqíng). Und auch käufliche Liebe bekommt auf Chinesisch einen unverfänglichen Anstrich: sich “den Frühling kaufen” (买春 mǎichūn) ist nämlich eines der Codewörter für den Besuch bei einer Prostituierten. Und die wiederum “verkauft den Frühling” (卖春 màichūn). Vielleicht eignen sich ja unsere “Frühlingsgefühle” oder der “zweite Frühling” als Eselsbrücken. Ohnehin vergessen Sie diese Vokabel am besten schnell wieder. Denn Sexarbeit ist in China noch immer landesweit verboten.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.
auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat China gleich zweimal Aufsehen erregt. Erst durch ein Angebot des chinesischen Top-Diplomaten Wang Yi, im Ukrainekrieg zu vermitteln. Und dann durch die Unterstellung der US-Amerikaner, China wolle die Unterstützung für Russland auf Waffen ausweiten.
Michael Radunski war für China.Table live in Bayern dabei und geht der Frage nach: Wie passen diese widersprüchlichen Aussagen zusammen?
Auf der einen Seite bedeutet der vorgebliche Friedens-Vorstoß gar keine Politikänderung. Unsere Analyse kommt daher als Enttäuschung für all die, die sich schon seit einem Jahr chinesische Vermittlung in dem Krieg herbeisehnen. Wang deutet nämlich an, dass ein chinesischer Friedensplan auf herbe Gebietsverluste der Ukraine hinauslaufen würde. Er will die Interessen beider Seiten gleichermaßen berücksichtigen. Russland hat seine Interessen aber komplett einseitig und rücksichtslos definiert, weshalb dieser Vorschlag aufseiten der Ukraine keine Chance haben dürfte.
Auf der anderen Seite blieben die USA vage, was ihre “Erkenntnisse” zu möglichen Waffenlieferungen Chinas an Russland angeht. “Bereitstellung tödlicher Unterstützung” kann vieles heißen. Auf der Konferenz lief es auf einen Schlagabtausch China-USA hinaus, der zumindest eine klare Erkenntnis zulässt: China mischt sich wieder mehr ein. Und gibt sich dabei etwas verbindlicher. Auch wenn Wang die USA wegen ihrer Reaktion auf den Ballonflug “hysterisch” nennt.
Hintergründe zum Ballon lieferte uns auf der Konferenz der bekannte Politologe Ian Bremmer. “Xi weiß genau über das chinesische Ballon-Programm Bescheid”, glaubt er. Doch das Auftauchen in Montana war seinen Erkenntnissen zufolge keine Absicht. Chinas Ballon-Programm habe hier schlicht “schlampig” gearbeitet. Im langfristigen Ausblick glaubt Bremmer daher nicht an eine Eskalation. Er hofft zudem, dass sich Xi inzwischen eine Invasion in Taiwan zweimal überlegen würde, weil er sieht, “wie stark der Westen auf die russische Invasion reagiert”.
Einen produktiven Start in die Woche wünscht
Es muss ziemlich hart zur Sache gegangen sein zwischen US-Außenminister Antony Blinken und Chinas höchstem Außenpolitiker Wang Yi. Zu später Stunde hatten sie sich am Samstag für ein vertrauliches Gespräch in die Hinterzimmer des Hotels Bayerischer Hof zurückzogen. Sehr direkt und kontrovers sei der Austausch verlaufen, hieß es anschließend aus der US-Delegation. Blinken selbst sagt, er habe China wegen des chinesischen Spionageballons verwarnt: “So etwas darf nie wieder passieren.”
Das ganze Wochenende über fuhren beide Weltmächte scharfe Attacken gegeneinander. Und doch war die 59. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ein gutes Treffen für die internationale Diplomatie: China kündigte einen eigenen Friedensplan für die Ukraine an. Die USA nutzten derweil die Möglichkeiten der MSC, um nach dem Ballon-Vorfall wieder die direkte Kommunikation mit China aufzunehmen. Dass es derzeit um die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten nicht allzu gut bestellt ist, konnte – und wollte – allerdings keine Seite beschönigen.
So blieben die Chinesen auch in München bei ihrer Version des Ballon-Vorfalls, wonach es sich lediglich um ein Flugobjekt gehandelt habe, das für zivile Zwecke genutzt und versehentlich von seinem Kurs abgekommen sei. Darauf hätten die USA “absurd und hysterisch” reagiert. Es handele sich um einen “Missbrauch von Gewalt” und eine “Verletzung internationaler Praktiken”, klagte Wang in München. Es sei an den USA, den selbst angerichteten Schaden zu beseitigen.
Wenige Stunden vor seinem Hinterzimmer-Treffen mit Blinken kündigte Chinas wichtigster Außenpolitiker auf der großen Bühne im Bayerischen Hof an, man werde demnächst die chinesische Position zur politischen Beilegung der Ukrainekrise vorlegen – leider ohne genaue Details zu nennen.
Folgende Gedanken äußerte Wang zum Friedensplan:
Die Ausdrucksweise verrät, dass Wang hier ein ganz anderer Friedensschluss vorschwebt als den Unterstützern der Ukraine. China spricht auch fast ein Jahr nach dem Ausbruch des Krieges lediglich von einer Krise. Und auch Wangs Verweis auf “legitime Sicherheitsinteressen aller Parteien” lässt darauf schließen, dass China wohl nicht allzu energisch die russischen Gebietsgewinne im Osten der Ukraine zurückfordern wird. Schließlich handelt es sich hierbei wortgleich um die russische Begründung für den Angriff auf die Ukraine.
Falls Wang die Kriterien ernst meint, handelt es sich um die Quadratur des Kreises: die UN-Prinzipien von Souveränität und territoriale Integrität für Ukraine zusammenzubringen mit den vermeintlichen Sicherheitsinteressen Russlands, die aus Sicht Moskaus offenbar durch die bloße Existenz der Ukraine gefährdet sind.
Eberhard Sandschneider glaubt, hinter dem chinesischen Vorstoß denn auch andere Gründe zu erkennen. “China ist in München auf Charme-Offensive”, sagte der Politikwissenschaftler im Gespräch mit China.Table. “Die Volksrepublik will nach drei Jahren Corona-Pandemie unbedingt wieder zurück auf die große Bühne der Weltpolitik.”
Annalena Baerbock begrüßte in München hingegen den chinesischen Vorstoß: Man sollte jede Chance nutzen, sagte die deutsche Außenministerin. “Es ist gut, wenn China seine Verantwortung sieht, für den Weltfrieden einzustehen.” Das habe sie Wang auch im direkten Gespräch mitgeteilt. Allerdings müsse bei alldem die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt werden, betonte Baerbock.
Weitaus skeptischer zeigte sich ihr US-amerikanischer Kollege: “Wer will nicht, dass die Waffen endlich ruhen?”, sagte Blinken. “Aber wir müssen unglaublich vorsichtig sein angesichts der Fallen, die gesetzt werden können.” Putin werde sicherlich nicht über die besetzten Gebiete in der Ukraine verhandeln, sondern eher die Zeit nutzen wollen, um seine Truppen neu zu formieren und auszurüsten.
Stattdessen warnte Blinken, China erwäge derzeit, eigene Waffen und Ausrüstung an Russland zu liefern. Man werde demnächst Informationen vorlegen, die das belegen würden. Experten zufolge könnte China Satellitenaufnahmen bereitstellen, die es der russischen Söldnertruppe Wagner ermöglichen, gezielter zuzuschlagen oder hochwertige Elektronikteile, die das russische Militär dringend benötigt. Die Warnung beruhe auf “Erkenntnissen” der USA.
Blieben noch die zunehmenden Spannungen um Taiwan. Es war der frühere MSC-Vorsitzende Wolfgang Ischinger, der Wang Yi nach dessen Vortrag bat, der Weltöffentlichkeit zu versichern, dass um Taiwan keine militärische Eskalation bevorstehe. Doch bei diesem Thema weicht China keinen Millimeter zurück.
Entsprechend schroff erwiderte Wang: “Taiwan ist Teil des chinesischen Territoriums. Es war niemals ein eigenständiges Land, und es wird auch in der Zukunft kein Land sein.” Alle sollten sich an die Ein-China-Politik halten, mahnte Wang und fügte hinzu: “Wir wollen Souveränität und territoriale Integrität respektieren. Das ist gut. Aber das muss auch in Bezug auf China gelten.”
Es ist die entscheidende Frage, wie China eben jene Prinzipien in seinem Friedensplan für die Ukraine umsetzen will. Die Antwort könnte schon bald folgen. Auf den Gängen der Sicherheitskonferenz war zu hören, dass China seinen Plan kommende Woche zum Jahrestag des Kriegsausbruchs in der Ukraine vorlegen will.
Der Streit um den mutmaßlichen chinesischen Spionageballon hat zuletzt für große Aufregung gesorgt. Wie groß ist der Schaden für die Beziehungen zwischen China und den USA?
Marginal.
Marginal, bei all der Aufregung? US-Präsident Biden hat sogar Kampfjets aufsteigen und das Ding abschießen lassen. Warum dann die ganze Aufregung?
Es ist in der Tat wichtig, die Hintergründe zu verstehen. Die Aufregung ist ein Spiegel der aufgeheizten öffentlichen Stimmung in den USA. Die US-Öffentlichkeit ist einerseits tief gespalten, beim Thema China aber andererseits sehr einig. Und hier ist man sehr streitsüchtig.
Keine gute Grundlage für rationale Politik.
Nein. Aber diese aggressive Streitsucht ist nicht die Politik der Biden-Administration. Allerdings kann es sich Präsident Biden nicht erlauben, schwach auszusehen. Wie damals beim Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi.
Und jetzt wieder.
Biden wusste doch von dem Ballon. Die USA haben ihn vom Start in Hainan an beobachtet. Außenminister Blinken wollte trotzdem nach China reisen, und niemand wollte den Ballon abschießen. Doch dann wurde das Thema öffentlich.
Nochmals: Das ist nicht gut für eine vorausschauende Politik. Und die braucht es dringend.
Richtig. Aber das Gute ist, die aufgeheizte Stimmung wird die grundlegende Politik der Biden-Administration nicht verändern. Blinken wird Wang Yi nun hier auf der Münchner Sicherheitskonferenz hinter verschlossenen Türen treffen.
Schauen wir auf China. Hat Xi Jinping willentlich den Beziehungen zu den USA Schaden zugefügt? Oder wusste er nicht, was das chinesische Militär gerade tut. Beides wäre beunruhigend.
Xi weiß genau über das chinesische Ballon-Programm Bescheid. China hat ja auch in der Vergangenheit mehrmals Ballons Richtung USA geschickt. Aber immer nur kurz oder über eine Insel wie Guam oder Hawaii. Dieses Mal scheint der Ballon jedoch tatsächlich von seiner Route abgekommen zu sein und flog über Amerika.
Ein Moment, in dem man hätte eingreifen können.
Man hätte die Amerikaner informieren sollen. Aber in diesem Moment hat wohl jemand im chinesischen Militär gedacht, nutzen wir doch dieses Versehen zu unserem Vorteil und schauen mal genauer hin. Wie es dann gekommen ist, darüber war Xi intern nicht begeistert.
Ist Chinas Militär hier also zu weit gegangen?
Nein. Denn das würde implizieren, dass es gewollt war. Aus meiner Sicht war die Ausführung einfach schlampig. Denn im Grunde haben die Chinesen weitaus bessere Spionage-Möglichkeiten als diese Ballons.
Es wirft die Frage auf, wie mächtig ist Xi Jinping überhaupt?
Oh, machen Sie sich nichts vor. Er ist der mächtigste Mann der Welt.
Und das aus dem Munde eines Amerikaners?
Ja. China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, und Xi ist Präsident auf Lebenszeit. Er hat über die vergangenen Jahre hinweg unglaublich viel Macht in seiner Hand gebündelt, und ist umgeben von einem Kreis loyaler Parteikader.
Und Joe Biden?
Die USA sind nach wie vor die Weltmacht Nummer 1, immer noch viel mächtiger als China. Aber kein amerikanischer Präsident hat derart viel Entscheidungsmacht wie Xi in einem autoritären Staat mit kontrolliertem Staatskapitalismus und umfassender technologischer Überwachung. Und ganz ehrlich: Kein Amerikaner möchte einen derart mächtigen Präsidenten haben, eine Person, die so viel Macht auf sich vereint.
Wenn wir gerade über Stärke sprechen. Wie stark ist Chinas Militär?
Es ist eine regionale Gefahr. Aber was hier auf der Sicherheitskonferenz wieder ganz deutlich sehen: Sicherheitspolitisch wird die Welt noch immer von den USA angeführt. Die USA sind die einzige Macht, die weltweit Einfluss ausübt. Ohne die Amerikaner würde es keine signifikante Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine geben. Die USA verfügen weltweit über Militärbasen und haben zudem die höchsten Militärausgaben.
Gibt es einen Bereich, in dem Chinas Militär mithalten kann?
Durchaus. Im Technologiebereich gibt es viele Sektoren, in denen die Chinesen inzwischen auf Augenhöhe mit den USA sind.
Schon auf Augenhöhe?
Ja. Zum Beispiel in der Gesichtserkennung. Oder in der digitalen Datengewinnung, die Peking dann auch noch weiß, zu nutzen. Das ist eine Herausforderung für die nationale Sicherheit. Deshalb reagieren die USA mit Technologie-Sanktionen.
Sie sagten, Chinas Militär ist eine regionale Bedrohung. Da denkt man sofort an Taiwan. Sicherheitsexperten, mit denen ich hier auf der Konferenz gesprochen habe, sagen: Was in der Ukraine passiert, ist schlimm. Aber sollte das mit Taiwan passieren, wäre es ungleich schlimmer.
Das stimmt. Der weltweit wichtigste Konzern befindet sich in Taiwan: der Chiphersteller TSMC. Die Konsequenzen wären global noch viel dramatischer als das, was wir derzeit wegen des Ukrainekrieges im Bereich Nahrung und Dünger erleben. Und diese Probleme sind für viele Länder schon dramatisch. Zudem würde ein Krieg zwischen den beiden führenden Weltmächten zu dramatischen Verwerfungen führen bei Versorgungsketten, wirtschaftlichen Beziehungen und so weiter.
Welche Auswirkungen hätte eine Aggression gegen Taiwan auf die Demokratien der Welt?
Es hätte wahrscheinlich umfassende bündnispolitische Auswirkungen. Wenn Taiwan fällt, würden die US-Verbündeten in Asien wohl viel enger an die USA rücken, so wie der Ukrainekrieg Finnland und Schweden in die NATO treibt. Japan, Südkorea, Neuseeland, Australien könnten zu dem Schluss kommen, dass sie fester Bestandteil einer US-geführten Allianz werden sollten. Ganz zu schweigen von Konsequenzen für die Länder des globalen Südens.
Ist sich Xi Jinping all dieser möglichen Konsequenzen bewusst?
Xi Jinping sieht gerade, wie stark der Westen auf die russische Invasion reagiert. Im vergangenen Jahr war das Thema der Sicherheitskonferenz “Westlessness”. Dieses Jahr sieht es ganz anders aus, es ist “Westfullness”. Und das hilft China nicht unbedingt.
Ian Bremmer ist Politikwissenschaftler. Er ist Präsident und Gründer der Eurasia Group, einem Forschungs- und Beratungsunternehmen für politische Risiken. Bremmer hat mehrere Bücher verfasst, darunter der NYT-Bestseller “Us vs Them: The Failure of Globalism”. Derzeit lehrt er zudem an der School of International and Public Affairs der Columbia University.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wird Ende März für einen ersten Besuch während der neuen Amtszeit nach China reisen. Lula treffe sich am 28. März mit Xi Jinping in Peking, berichtete Reuters unter Berufung auf offizielle Quellen.
Auf Lulas Agenda in Peking steht demnach die Ernennung eines neuen Präsidenten der BRICS-Bank. Brasilien will dafür die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff vorschlagen. Rousseff war 2016 des Amtes enthoben worden. Die anderen BRICS-Mitglieder haben sie dem Bericht zufolge als neue Bankenchefin akzeptiert worden sein.
Lula, der China während seiner ersten Amtszeit von 2003 bis 2010 zweimal besuchte, wird Ende März vier Tage in Peking bleiben. Neben Handelsthemen soll dabei auch über den Krieg in der Ukraine gesprochen werden. Lula hatte zuletzt an China appelliert, als Vermittler aufzutreten. Die Volksrepublik ist der größte Handelspartner Brasiliens. rtr/ari
Die EU und China haben sich erstmals wieder zu einem Austausch über Menschenrechtsangelegenheiten getroffen. Brüssel habe sich bei dem Treffen “ernsthaft besorgt” über
geäußert, wie der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) zu dem 38. Treffen des Menschenrechtsdialogs mitteilte. Die Seite der EU betonte demnach auch die “besonders prekäre Situation von Uiguren, Tibetern und Angehöriger religiöser, ethnischer und sprachlicher Minderheiten”. Die EU verwies nach eigenen Angaben auf den Bericht der ehemaligen Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, über die Menschenrechtslage in Xinjiang.
Zudem seien mehrere konkrete Fälle inhaftierter Aktivisten angesprochen worden, darunter der von Gui Minhai und Ilham Tohti, teilte der EEAS mit. China habe sich während des Treffens nach Angaben der europäischen Seite auf die Situation und Behandlung von Flüchtlingen und Migranten sowie Fremdenfeindlichkeit in der EU konzentriert. Der Menschenrechtsdialog war zuvor mehrere Jahre ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen hatten das Treffen wegen ihrer Ansicht nach fehlender nachhaltiger Ergebnisse vorab kritisiert. ari
Eine weitere chinesische Wirtschaftspersönlichkeit ist unauffindbar. Diesmal handelt es sich um den Bankier Bao Fan 包凡. “Uns gelingt es nicht mehr, mit Herrn Bao Kontakt aufzunehmen”, teilte die Finanzgruppe China Renaissance am Freitag über die Börse Hongkong mit. Bao ist Gründer der Firma, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist. Ihr Akteinkurs stürzte am Freitag ab.
Der Staat bestellt chinesische Konzernchefs zuweilen zu Schulungen ein, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt jetzt im Gefängnis. Was mit Bao getan haben könnte, ist bislang unbekannt. fin
Im März 2022 gab die chinesische Regierung ein Wachstumsziel in Höhe von 5 bis 5,5 Prozent des BIP für das ganze Jahr vor. Seinerzeit schien Wachstum auf einem solchen Niveau durchaus erreichbar. Doch innerhalb eines Monats breitete sich die Omikron-Variante aus und führte zu strengen Lockdowns, die zwar die Ausbreitung des Coronavirus eindämmten, aber der Angebots- und Nachfrageseite der Wirtschaft schweren Schaden zufügten. Chinas Wachstumsrate 2022 lag bei lediglich drei Prozent.
Heute sieht es für Chinas Wirtschaft wieder besser aus. Nach der raschen Abkehr der Regierung von ihrer Null-Covid-Politik im Dezember – und vor allem seit Mitte des letzten Monats – ist die Wirtschaft wieder in Schwung gekommen. Diese neue Vitalität war während des Neujahrsfestes Ende Januar zu beobachten, als mehr als 300 Millionen Chinesen zu ihren Familien in die Heimat reisten, 23 Prozent mehr als im Vorjahr.
Es gibt gute Gründe, im Jahr 2023 ein deutlich höheres Wachstum zu erwarten. Zunächst werden die gesamtwirtschaftlichen Zuwächse das niedrige Ausgangsniveau des Jahres 2022 widerspiegeln. Ausgehend von einem durchschnittlichen BIP-Wachstum in Höhe von 4,8 Prozent in den Jahren 2019-22 lässt eine Überschlagsrechnung darauf schließen, dass China in der Lage sein sollte, 2023 ein BIP-Wachstum von rund sechs Prozent zu erzielen.
Zudem hat China noch reichlich Spielraum für eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Im geldpolitischen Bereich besteht die Möglichkeit, sowohl die Mindestreserveanforderungen für Banken als auch die Leitzinsen, wie den Sieben-Tage-Reverse-Repo-Satz und die mittelfristige Kreditfazilität, zu senken.
Was die Fiskalpolitik anbelangt, so gibt es weit verbreitete – und berechtigte – Sorgen über Chinas hohen Verschuldungsgrad. Doch die Staatsschuldenquote der Regierung ist nach wie vor deutlich niedriger als in den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Wenn man dann noch das schnellere BIP-Wachstum und die hohe Sparquote in China hinzunimmt, wird deutlich, dass Chinas Haushaltslage viel besser ist als die der meisten Industrieländer.
Die Frage ist, wie die verfügbare politische Unterstützung ausgerichtet werden soll. Angesichts der düsteren globalen Aussichten ist nicht damit zu rechnen, dass die Exporte in diesem Jahr ein wichtiger Wachstumsmotor sein werden, auch wenn sie 2022 einen wichtigen Beitrag zum Wachstum geleistet haben. Die Verbrauchernachfrage kann das Wachstum stützen, wenn sie sich stark erholt: 2022 trugen die Konsumausgaben in China lediglich 32,8 Prozent zum BIP-Wachstum bei, obwohl sie rund 55 Prozent des BIP ausmachen. Die wahrscheinlichen Auswirkungen direkter Maßnahmen zur Ankurbelung der Verbrauchernachfrage bleiben jedoch unklar.
Zur Förderung von Investitionen wäre eine expansive Fiskalpolitik sinnvoll. Während der Beitrag der Investitionen zum BIP-Wachstum seit 2010 deutlich zurückgegangen ist, waren sie im Jahr 2022 der Hauptmotor des Wachstums. Ja, die Immobilieninvestitionen gingen um zehn Prozent zurück. Doch Investitionen in das verarbeitende Gewerbe und in die Infrastruktur stiegen um 9,1 Prozent beziehungsweise 9,4 Prozent.
Das Beste, was sich China für den Immobiliensektor im Jahr 2023 erhoffen kann, ist eine Stabilisierung der Investitionen, während die Investitionen im verarbeitenden Gewerbe hauptsächlich von den Marktkräften im Zusammenhang mit der industriellen und technologischen Entwicklung bestimmt werden. Infrastrukturinvestitionen verdienen jedoch fiskalpolitische Unterstützung.
Einige Ökonomen behaupten, dass China ohnehin unter übermäßigen Infrastrukturinvestitionen leidet, wobei sie auf massive Verschwendung und Fehlinvestitionen verweisen. Sie haben zwar recht damit, dass China ineffiziente Investitionen getätigt hat, doch der Infrastrukturbedarf des Landes wurde nicht gedeckt. So hat etwa die Pandemie die Schwächen der chinesischen Infrastruktur im Bereich der öffentlichen Gesundheit aufgezeigt. Chinas Infrastrukturdefizit (pro Kopf) ist im Vergleich zu fortgeschrittenen Volkswirtschaften riesig. Infrastrukturinvestitionen sind also nach wie vor dringend erforderlich, sie müssen nur gezielter eingesetzt werden.
Natürlich könnte ein weiteres unvorhergesehenes Ereignis wie die Pandemie Chinas Wachstumsbestrebungen im Jahr 2023 zunichtemachen. Ein wahrscheinlicheres Hemmnis ist ein Anstieg der Inflation, wie er in vielen anderen Ländern der Welt zu beobachten ist.
In den vergangenen zehn Jahren war die Inflationsrate in China sehr niedrig, und der Verbraucherpreisindex lag im Durchschnitt unter zwei Prozent. Doch die Pandemie hat Chinas Produktionskapazitäten einen schweren Schlag versetzt, und die Wiederherstellung der Lieferketten und die Beseitigung von Produktionsengpässen kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Infolgedessen wird das Angebot möglicherweise nicht mit dem Nachfrageschub Schritt halten können, der mit der Öffnung der chinesischen Grenzen einhergeht. Das daraus resultierende Ungleichgewicht wird die Inflation in diesem Jahr zumindest eine Zeit lang steigen lassen.
Eine höhere Inflation wird die Fähigkeit der Regierung beeinträchtigen, eine expansive Fiskal- und Geldpolitik umzusetzen. Die Stabilisierung des Wachstums muss jedoch politische Priorität haben, sodass China möglicherweise eine Inflationsrate von mehr als zwei bis drei Prozent tolerieren muss. Das richtige Gleichgewicht zwischen Wachstum und Preisstabilität zu finden, könnte sich in diesem Jahr als eine der größten Herausforderungen für Chinas Regierung erweisen.
Eine fiskal- und geldpolitische Expansion kann Chinas strukturelle Probleme nicht lösen. Sie kann jedoch Raum schaffen, damit China das umfassende Reformprogramm umsetzen kann, das auf dem 18. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2012 beschlossen wurde. In diesem Programm wurde die Regierung aufgefordert,
Die Regierung muss schnell handeln, da ihr Spielraum für makroökonomische Expansion mit dem Anstieg der Verbraucherpreisinflation und anderen potenziellen Restriktionen schrumpfen könnte. Wenn die chinesische Führung die Fiskal- und Geldpolitik optimal einsetzt und die Reformen und die Öffnung unbeirrt fortsetzt, kann sie sicherstellen, dass 2023 ein sehr gutes Jahr wird.
Yu Yongding, ehemaliger Präsident der Chinesischen Gesellschaft für Weltwirtschaft und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Politik an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, war von 2004 bis 2006 Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der chinesischen Notenbank People’s Bank of China.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2023.
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James Edgar ist neuer stellvertretender Büro-Chef bei der Nachrichtenagentur AFP in Peking. Edgar war zuvor für AFP in Hongkong tätig.
Hou Yue ist neue chinesische Botschafterin in Norwegen. Sie legte ihre Bevollmächtigungsurkunde Ende Januar dem Königspalast vor. Hou folgt damit Yi Xianliang nach.
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Wussten Sie, dass Poseidon ein ziemlicher Playboy war? Ja genau, gemeint ist der Herr aus der griechischen Mythologie, der Gott des Meeres. Den Römern war er auch als Wassergottheit Neptun bekannt. Eigentlich war der Bruder des Zeus mit der bildschönen Amphitrite vermählt, der Beherrscherin der Meere. Doch das war dem dreizackbestückten und narzisstisch veranlagten Wasser-Vagabunden scheinbar nicht genug. Und so soll er sich der Überlieferung nach nebenher auch immer wieder mit Wassernixen und Meernymphen vergnügt haben.
Vielleicht war das der ausschlaggebende Grund, warum die Chinesen den alten Wassergott wieder aus dem Olymp der Vergessenheit hervorgekramt haben und ihn neuerdings einer sprachlichen Frischekur unterzogen. Und so ist “Poseidon” – auf Chinesisch wörtlich “Meereskönig” 海王 hǎiwáng – heute ein Synonym für selbstverliebte Playboys, die sich gerne in Gesellschaft des anderen Geschlechts tummeln und sich bevorzugt von schönen Frauen umschwärmen lassen.
Dabei wirft ein “hǎiwáng” in alle vier Himmelsrichtungen seine Netze aus (四处撒网 sìchù sāwǎng), ohne sich aber einen der Fänge ins heimische Aquarium zu setzen. Stattdessen lässt er angeköderte Prachtexemplare im Netz zappeln und sich damit alle Optionen offen. Der Harem an Verehrerinnen, den sich der Neptun-Schwerenöter so mit der Zeit anlegt, heißt im Internetslang folgerichtig 鱼塘 (yútáng), also “Fischteich” oder “Fischbecken”. Und für selbigen “züchtet” sich der Meerkönig immer wieder neue Exemplare heran (养鱼 yángyú -“neue Verehrerinnen heranziehen” heißt das – oder wörtlich “Fische züchten”). Natürlich geht es aber auch umgekehrt und es sind nicht immer die Herren, die den Dreizack in der Hand halten. Narzisstisch veranlagte Playgirls heißen auf Neuchinesisch 海后 hǎihòu – “Meeresköniginnen”.
Nicht verwechselt werden sollten diese Sea-Kings und Ocean-Queens übrigens mit den Krümelmännern (渣男 zhānán) und Krümelfrauen (渣女 zhānǚ), auf die ich schon einmal in einer früheren Kolumne eingegangen bin. Die Krümelfraktion ist in der Regel in festen Händen und dennoch kein Kostverächter, wenn sich die Möglichkeit bietet. Was tun “Menschenkrümel” also? Nun, durch die Mandarinblume gesprochen: sie “stehlen Hühner und grabschen nach Hunden” (偷鸡摸狗 tōu jī mō gǒu), sie “stehlen Duft und klauen Jade” (偷香窃玉 tōu xiāng qiè yù), ja sie “befeuchten die Blumen und zertrampeln das Gras” (沾花惹草 zhān huā rě cǎo) – all dies nämlich sind antike Euphemismen zur Beschreibung eines lasterhaften Liebeslebens, in dem eine (außereheliche) Affäre die nächste jagt.
Ganz anders dagegen: die Meeresmajestäten. Als Blaublüter unter den Charmebolzen genießen die selbstverliebten Herr- und Frauschaften genüsslich das Bad in der Bewunderung potenzieller Partnerinnen beziehungsweise Partner, schwelgen also in der Magie der Möglichkeiten, ohne Intention, sich festzulegen. Nicht selten handelt es sich also um marine Narzissten (自恋狂 zìliànkuáng, Narzisst, Narzisstin).
Lasterhafte Liebschaften werden im Chinesischen übrigens noch in vielen weiteren blumigen Wortbündeln drapiert. Hätten Sie zum Beispiel gedacht, dass man in China nicht zweigleisig fährt, sondern “zweibootig”? Denn “mit den Füßen in zwei Booten stehen” (脚踏两只船 jiǎo tà liǎng zhī chuán) ist im Mandarin eine Metapher für “eine Affäre haben”. Natürlich ist im Fitness- und Yogazeitalter die olle Bootsmetapher ein bisschen aus der Mode gekommen. Und so spricht die Netzgemeinde hier neuerdings lieber von 劈腿 pǐtuǐ – einem “Spagat” also. (Wobei ja auch die Schiffsstory bei entsprechender Strömung in diese Richtung ausarten kann).
Wer einen Seitensprung hat, der hüpft in China nicht nur zur Seite, sondern hopst gleich ganz aus dem Gleis. Denn 出轨 chūguǐ (wörtlich “aus dem Gleis geraten”) ist ebenfalls eine bildliche Umschreibung für “fremdgehen”. Sprachlich romantischer als unser One-Night-Stand ist die chinesische Wortvariante dafür: die “Liebe für eine Nacht” (一夜情 yīyèqíng). Und auch käufliche Liebe bekommt auf Chinesisch einen unverfänglichen Anstrich: sich “den Frühling kaufen” (买春 mǎichūn) ist nämlich eines der Codewörter für den Besuch bei einer Prostituierten. Und die wiederum “verkauft den Frühling” (卖春 màichūn). Vielleicht eignen sich ja unsere “Frühlingsgefühle” oder der “zweite Frühling” als Eselsbrücken. Ohnehin vergessen Sie diese Vokabel am besten schnell wieder. Denn Sexarbeit ist in China noch immer landesweit verboten.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.