aus der China.Table-Redaktion senden wir Ihnen am heutigen Freitag eine Sonderausgabe zum Tod von Li Keqiang. Wir würdigen den Ex-Premier in einem Nachruf mit Beobachtungen von Weggefährten vom Studium bis in die Gegenwart. Fabian Peltsch fasst für Sie die Reaktionen in Medien und Sozialmedien zusammen. Und Christiane Kühl beschreibt seine Rivalität mit Xi Jinping, bei der Li von Anfang an den Kürzeren gezogen hatte.
Finn Mayer-Kuckuk beschreibt in einer Analyse das politische Konfliktpotenzial der Vorgänge. Denn der Tod von einstigen Spitzenpolitikern sorgt traditionell für Nervosität im Regierungsviertel von Peking. Wie die jüngere Geschichte zeigt, dienen Trauerbekundungen vielen Chinesinnen und Chinesen als Ventil, um ihren Unmut über die politischen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.
So war das 1976, als der damalige Premierminister Zhou Enlai starb. Oder als im April 1989 um den ehemaligen Generalsekretär und Reformer Hu Yaobang getrauert wurde. Die Trauer um Hu mündete in den Protesten auf dem Tiananmen-Platz, die nach mehreren Wochen blutig niedergeschlagen wurden. Daher war die Obrigkeit auch nervös, als vor einem Jahr der einstige Staatspräsident Jiang Zemin verstarb.
Dass mit dem plötzlichen Tod von Ex-Premierminister Li Keqiang der in weiten Teilen der Bevölkerung zweifellos bestehende Unmut nun ebenfalls öffentlich Ausdruck findet, ist jedoch nach heutigem Stand eher unwahrscheinlich. Denn auch wenn Li in seinen zehn Jahren als Premier zum liberalen Flügel der Führung gehörte, gelang es ihm nicht, sich wirksam gegen die Hardliner um Xi Jinping zu positionieren. Dafür verhielt sich Li zu unterwürfig.
Und doch geht mit dem Tod von Li etwas verloren: Die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit doch wieder weniger autoritär gefärbte Gruppen die Macht im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai übernehmen.
So kurz nach Ende seiner Amtszeit ist noch kein moderner chinesischer Premier verstorben: Li Keqiang trat im März turnusgemäß ab. Ganz im Unterschied zu Präsident Xi Jinping, der sich 2018 durch eine Verfassungsänderung das Recht auf unbegrenzte Amtszeiten gesichert hatte. Als Regierungschef war Li der wichtigste Ansprechpartner von Kanzlerin Angela Merkel und wurde so auch in Deutschland moderat bekannt. Li ist am Freitag im Alter von 68 Jahren gestorben.
In der chinesischen Öffentlichkeit wurde Li Keqiang eher als bieder wahrgenommen: Ein Bürokrat, der über Sachthemen redet. Er hat die Leute nicht mitgerissen, aber er hat sie überzeugt. Damit hat er Anfang an den Kontrast zum leutseligen, volksnahen Xi gebildet. “Er war mehr Professor als Politiker und hatte es schwer, sein Programm umzusetzen im Schatten eines Vollblutpolitikers wie Xi”, sagt Jörg Wuttke, der ehemalige Präsident der EU-Handelskammer in Peking.
Wuttke hat Li als “offenen und neugierigen Gesprächspartner” erlebt – und zwar schon in seiner Zeit als Regionalpolitiker in der Provinz Liaoning. Für den Kammerpräsidenten besonders erfreulich: “Er las immer unser Positionspapier vorab die Veröffentlichung auf Englisch.” Das Bedauern über Lis Ableben ist Wuttke deutlich anzumerken: “Es stimmt mich traurig, dass er die Pensionierung mit seiner wunderbaren Frau nicht genießen kann.”
Der Grünen-Politiker und China-Kenner Reinhardt Bütikofer sieht in der politischen Verpartnerung mit Xi Jinping die tragische Wendung in der Karriere Lis. “Wenn in einem autoritären Regime die Nummer eins das Ziel verfolgt, vom Primus inter Pares zum Alleinherrscher aufzusteigen, dann ist die Position der Nummer zwei immer unglücklich.” Li Keqiang habe diese unglückliche Position “mit dem Charme eines blassen Technokraten akkurat ausgefüllt”.
Doch Bütikofer erkennt auch an, dass Li hinter den Kulissen vermutlich viel Gutes bewirkt hat. “Er hat immer wieder, zum Teil sichtbar, zum Teil unsichtbar, versucht, Elemente der ökonomischen Rationalität gegen den Kurs von Xi, der die Sicherheit der Alleinherrschaft auch über ökonomische Ziele stellt, so gut er konnte zu verteidigen.” Letztlich war er dabei aber nicht erfolgreich, resümiert Bütikofer.
Wuttkes Einschätzung von Li als “kleinem Professor” deckt sich mit den Berichten von seinem Eifer als Schüler und Student. “Kommilitone Li Keqiang ist mal wieder ehrgeiziger als alle anderen”, schrieb sein Mitstudent He Qinhua im Jahr 1980 in sein Tagebuch. Neben dem Studium hatte Li Keqiang gerade ein Jura-Lehrbuch aus dem Englischen in Chinesische übersetzt. “Wie schafft der das alles?”, fragte sich He neidisch. Li galt als Streber. He selbst wurde später Jura-Professor in Shanghai.
Li hatte einen schwierigen Start im Gegensatz zu Xi, einem roten Prinzen mit einem einflussreichen Vater. Sein Vater war Bürgermeister im abgelegenen Kreis Fengyang in der zentralchinesischen Provinz Anhui. Während Li sich in der Mittelstufe als vorbildlicher Schüler erwies, brach über Chinas Jugend eine beispiellose Tragödie herein: das Chaos der Kulturrevolution.
In den Jahren von 1966 bis 1976 schuftete Li daher in einem abgelegenen Dorf auf dem Land. Es herrschte Mangel an Essen, und wie viele andere Jugendliche litt er Hunger. Er wurde oft krank und hatte Probleme mit seiner Haut. Als die Universitäten wieder öffneten, gelang es ihm, einen Studienplatz für Jura an der renommierten Peking-Universität zu ergattern.
In den späten 70er-Jahren Jura zu studieren war in China außergewöhnlich und geradezu mutig. Denn in China galt zu dieser Zeit nur das Recht der Kommunistischen Partei – wer einflussreiche Freunde hatte, konnte sich durchsetzen. Rechtswissenschaft wirkte wie ein Überbleibsel aus bürgerlichen Zeiten. Die Lehrbücher waren damals noch als “Vertraulich!” gestempelt und durften die Fakultät nicht verlassen.
Nach seinem Jurastudium und einem ersten Karrieresprung legte Li noch eine Promotion in Volkswirtschaftslehre nach. Damit war Li der erste chinesische Premierminister mit einer fundierten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung.
Tatsächlich hatte er als Gouverneur und Parteichef in den Provinzen Henan und Liaoning von 1998 bis 2007 eine gute wirtschaftspolitische Bilanz vorzuweisen. Unter seinem Einfluss stieg das Bruttoinlandprodukt um 50 Prozent. Es gab jedoch auch Kritik. Li war in Henan mit einem Skandal um HIV-Infektionen durch Blutspendedienste konfrontiert. Da die Blutspenden staatlich organisiert waren, folgte Li dem üblichen kommunistischen Reflex: Vertuschung statt Aufklärung.
Zu Beginn seiner Amtszeit setzte er sich als Premier noch mit seinen wirtschaftspolitischen Ideen gegen Xi Jinping durch. Er wollte den Privatsektor stärken und dem Markt größeren Einfluss auf die Nutzung des Kapitals geben. Die Folge war jedoch 2015 eine Blase am Aktienmarkt, die mit hohen Verlusten für die Investoren endete. Das gab dem Machtpolitiker Xi die Rechtfertigung, ihn zurückzupfeifen. Seitdem war von Li nicht mehr viel zu hören.
Im Gesamtbild bleibt das Bild eines weltoffenen Wirtschaftspolitikers, der in einer anderen Konstellation wohl mit viel Lob und großen Verdiensten ausgeschieden wäre. Nachdem in den vergangenen Jahren schon von gesundheitlichen Problemen gemunkelt wurde, gaben die Staatsmedien nun als Todesursache einen Herzinfarkt an.
Die zehn Jahre der Amtszeit von Ministerpräsident Li Keqiang waren eine Zeit der Krisen, geprägt durch den Handelskrieg mit den USA, steigende Staatsschulden, einen strauchelnden Immobiliensektor und die Corona-Pandemie. Doch das größte Problem für Li war, dass zu allen diesen Dingen sein Chef, Präsident und KP-Generalsekretär Xi Jinping, die Richtungsentscheidungen fällte. Und Xi fällte diese oftmals anders, als Li es getan hätte. Zumindest lassen einige wenige öffentliche Aussagen des Premiers darauf schließen.
Klar ist jedenfalls: Obwohl Li als Ministerpräsident und Nummer Zwei im Ständigen Ausschuss des Politbüros der KP auf dem Papier einer der mächtigsten Männer im Land war, dominierte Xi die Politik. So musste der wirtschaftsfreundliche Li mit ansehen, wie Xi andere Schwerpunkte setzte und das Wirtschaftswachstum zunehmend vernachlässigte.
So zeigt sich Xi als besessen von der Idee, die nationale Sicherheit und den Aufstieg Chinas zur Weltmacht über alles andere zu stellen. Anstatt das Land wirtschaftlich voranzubringen, musste Li mit ansehen, wie die Bedeutung seines Amtes immer weiter schrumpfte – weil Xi immer mehr Macht auf sich vereinte. Als er im März 2023 abtrat, soll er resigniert und frustriert gewesen sein.
Dabei galt Li Keqiang in den Nullerjahren noch als möglicher Nachfolger des damaligen Staats- und Parteichefs Hu Jintao. Li war damals Parteichef der Provinzen Henan und Liaoning. Li war ebenso wie Präsident Hu über die Kommunistische Jugendliga aufgestiegen; aus dieser Zeit kannten und schätzten sich die beiden. Doch als auf dem Parteitag 2007 der neue Ständige Ausschuss des Politbüros präsentiert wurde, stand plötzlich Xi Jinping auf Rang 6, einen Platz vor Li. Damit wurde klar: Xi hatte sich im internen Machtkampf durchgesetzt. Xi wurde Anfang 2008 Vizepräsident, und Li wurde Vizepremier unter Ministerpräsident Wen Jiabao.
2012 wurde Xi Jinping Parteichef. 2013 wurden Xi und Li Präsident und Premier. Xi begann sofort, die Macht immer stärker auf seine Person zu konzentrieren – die von Hu propagierte innerparteiliche Demokratie lehnte Xi ebenso ab wie einen kollektiven Führungsstil. Xi schuf in der Partei ein Geflecht aus kleinen Führungsgruppen und Zentralen Kommissionen mit sich selbst an der Spitze. Diese bestimmten zunehmend die Politik zu Wirtschaft, Finanzen oder Sicherheit – und schufen damit eine Parallelstruktur zu den staatlichen Organen, die Premier Li unterstanden. Li und seine Regierung wurden damit schrittweise zu Umsetzungsbehörden degradiert.
2018 ließ Xi die Verfassung ändern, um bei Bedarf auf Lebenszeit Präsident bleiben zu können. Den Abstieg der Jugendliga-Fraktion in die politische Bedeutungslosigkeit besiegelte die unwürdige Szene auf dem Parteitag 2022, als der schwach erscheinende Hu Jintao ohne Vorwarnung plötzlich aus dem Saal geführt wurde. Beim Gehen klopfte Hu noch einmal auf die Schulter des neben Xi platzierten Li Keqiang. Li verlor auf der Tagung seinen Sitz im Politbüro. Das gleiche Schicksal ereilte den reformorientierten Hu Chunhua, den Hu Jintao (nicht verwandt) und Li gern als Nachfolger im Amt des Premiers gesehen hätten. Xi aber wollte ihn nicht, und ohne Politbüro-Sitz kein Spitzenamt.
Bei seinem letzten Auftritt als Premier auf dem Nationalen Volkskongress erwähnte Li Keqing sieben Mal die herausragende Rolle von Xi als “Kern” der politischen Führung. Doch nicht immer plapperte er die Xi-Slogans nach. Immer wieder schien Li dem starken Mann in Reden zu widersprechen. Wann immer Beobachtende das bemerkten, kam es zu Spekulationen über Spannungen zwischen den beiden. Doch Li gab seine wahren Gedanken über Xi nie öffentlich preis, und so blieben sie sein Geheimnis.
Ab und zu aber gelangen Li Keqiang mit seinem vorsichtigen Ansatz gewisse Erfolge. Ein Beispiel: “Wir unterstützen die Plattformökonomie”, sagte er während einer Reise zu Tech-Unternehmen in Jiangsu im Frühjahr 2022 bei einem Technologieunternehmen, wie aus einem Video der Veranstaltung hervorgeht. “Wir unterstützen Unternehmer.” Wenige Tage später drang aus dem Politbüro, dass Xi seinen Crackdown gegen Chinas Tech-Firmen einstellte.
Auch versprach Li, “sinnlose Formalitäten und Bürokratie” zu beseitigen, und wurde dafür gelobt, dass er die Zeit für die Anmeldung eines Unternehmens während seiner Amtszeit von 35 Tage auf zehn Tage verkürzte. Und so milderte Li zwar die Politik des Parteichefs ab, der die Politisierung der Wirtschaft vorantrieb. Doch eine offene Herausforderung Xis wagte Li Keqiang nicht.
Sein Andenken werden also eher Worte prägen als starke Maßnahmen. Schlagzeilen machte Li 2020, als er sagte, in China lebten noch immer rund 600 Millionen Menschen mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 1.000 Yuan (umgerechnet 132 Euro), und folgerte: “Nach Covid sollte der Lebensunterhalt der Menschen unsere Priorität sein.” Xi war nach der Pandemie aber gegen hohe Sozialleistungen, und setzte sich damit auch wie üblich durch. Doch “Li Keqiang wird wahrscheinlich mit diesem Satz in die Geschichte eingehen, meint der Politologe Wen-Ti Sung von der Australian National University: “Der ehemalige Premierminister, der sich um die kleinen Leute sorgte.”
Im August 2022 sorgte Li noch einmal mit einer Aussage für Wirbel: Als er damals einen Kranz an der Statue des Reformpatriarchen Deng Xiaoping in Shenzhen niederlegte, betonte Li: “Reformen und die Öffnung werden nicht enden. So wie der Jangtse und der Gelbe Fluss nicht rückwärts fließen”. Videoclips der Rede gingen viral, wurden aber später zensiert – da sie weithin als verschlüsselte Kritik an Xis Politik galten.
Direkt vor dem Nationalen Volkskongress im März verabschiedete Li sich von 800 hohen Regierungsmitarbeitern mit den Worten. “Der Himmel sieht, was die Menschen tun. Das Firmament hat Augen.” Manche interpretierten die auf vielen Smartphone-Clips festgehaltenen Worte als Warnung an Xi.
Der Tod eines bekannten Top-Kaders ist in China stets ein Anlass für gesteigerte Aufmerksamkeit. Historische Vorbilder haben eine Assoziation geschaffen zwischen den Trauerfeiern für einen Spitzenpolitiker und Protesten in seinem Namen. Das gilt vor allem dann, wenn der Verstorbene für eine andere politische Richtung steht als die aktuelle Führung.
“Wenn man die jüngste Geschichte Chinas betrachtet, könnte der plötzliche Tod eines Spitzenpolitikers ein Katalysator für Veränderungen sein“, schreibt der Journalistik-Professor Wang Xiangwei auf X. “Nur wenige Tage nach dem Tod Jiang Zemins am 30. November hob China die Null-Covid-Beschränkungen auf.” Wang hat als Journalist bei China Daily und South China Morning Post erheblichen Einblick in die Zusammenhänge der KP erhalten und unterrichtet heute in Hongkong.
So wie Li Keqiang stand der ehemalige Präsident Jiang Zemin für einen ganz anderen Politikstil und war zudem sehr beliebt. Sein Tod Ende November vergangenen Jahres hatte – wie jetzt der Lis – sofort für Spekulationen über Unruhen gesorgt. Gerade der Kontrast des lockeren Pragmatikers Jiang zum bombastischen Xi fiel auf.
Das bevorstehende Begräbnis galt sofort als möglicher Ausgangspunkt für Versammlungen von Bürgern, die sich über die Corona-Maßnahmen ärgern. Tatsächlich ist es Xi aber gelungen, die Situation komplett zu entschärfen: Am 1. Dezember hob er die Pandemie-Beschränkungen auf, während die Trauerfeier für Jiang unter kontrollierten Bedingungen in der Großen Halle des Volkes stattfand.
Die starke Assoziation von Trauerfeiern mit Unruhen gehen heute vor allem auf die Ereignisse nach dem Tod des ehemaligen Generalsekretärs Hu Yaobang (1915-1989) zurück. Hu war Anfang der 1980er-Jahre Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Ihm war inoffiziell noch ein Mann vorgesetzt: der oberste Führer Deng Xiaoping. Das Duo Deng-Hu stand für Reformen, Öffnung und politische Neuerungen.
Nach Studentendemonstrationen 1986 stürzten die Hardliner in der Partei Hu im Jahr 1987, weil er angeblich zu nachsichtig mit den Protesten umgegangen war. Zwei Jahre später starb er, und aus den Trauerfeiern für den bei der Jugend beliebten Hu wurden die großen Proteste des Jahres 1989.
Der Grünen-Politiker und China-Kenner Reinhard Bütikofer warnt jedoch davor, bei Li den Vergleich mit Hu Yaobang zu strapazieren. “Hu Yaobang war jemand, der gegen die Betonköpfe in der Kommunistischen Partei einen Aufbruch versuchte, während Li Keqiang jemand war, der unter dem Druck der Betonköpfe den Rückzug angetreten hat.”
Für passender hält Bütikofer den Vergleich mit Zhou Enlai (1898-1976), dem Premier unter Mao Zedong. Zhou hatte sich immer Mühe gegeben, die Exzesse Maos abzufedern und auszugleichen. Sein Tod kurz vor dem Maos löste in der Bevölkerung große Trauer aus.
Entsprechend heftig war der Ärger, als die Polizei Kränze für Zhou vom Platz des Himmlischen Friedens entfernen ließ. Die Polizei setzte Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen. Bis 1989 hieß dieses Ereignis der “Tian’anmen-Zwischenfall”.
Generell steht der Premier in China tendenziell für eine technokratische, gute Verwaltung des Landes. Er ist vor allem für die Wirtschaft zuständig und nimmt damit eine zentrale Rolle ein. Der KP-Generalsekretär dagegen legt die Leitlinien der Politik fest, herrscht über die Partei und dominiert auch die Außenpolitik. Der Premier stand zumeist im Schatten des Generalsekretärs. Ein Extrembeispiel war Zhou.
Vor Maos Säuberungen war niemand sicher, und Zhou konnte von Glück sagen, nur an den Rand gedrängt, aber nicht verfolgt worden zu sein. Zhu Rongji galt unter Jiang Zemin als wirtschaftlicher Macher, doch Jiang sonnte sich auf der Weltbühne. Einzig Lis Vorgänger Wen Jiabao wurde nicht dauernd vom KP-Chef Hu Jintao überstrahlt – was aber auch daran lag, dass Hu selbst eher ein unauffälliges Profil hatte. Mit Xi zog wieder ein äußerst machtbewusster Mann an die Spitze der Partei.
aus der China.Table-Redaktion senden wir Ihnen am heutigen Freitag eine Sonderausgabe zum Tod von Li Keqiang. Wir würdigen den Ex-Premier in einem Nachruf mit Beobachtungen von Weggefährten vom Studium bis in die Gegenwart. Fabian Peltsch fasst für Sie die Reaktionen in Medien und Sozialmedien zusammen. Und Christiane Kühl beschreibt seine Rivalität mit Xi Jinping, bei der Li von Anfang an den Kürzeren gezogen hatte.
Finn Mayer-Kuckuk beschreibt in einer Analyse das politische Konfliktpotenzial der Vorgänge. Denn der Tod von einstigen Spitzenpolitikern sorgt traditionell für Nervosität im Regierungsviertel von Peking. Wie die jüngere Geschichte zeigt, dienen Trauerbekundungen vielen Chinesinnen und Chinesen als Ventil, um ihren Unmut über die politischen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.
So war das 1976, als der damalige Premierminister Zhou Enlai starb. Oder als im April 1989 um den ehemaligen Generalsekretär und Reformer Hu Yaobang getrauert wurde. Die Trauer um Hu mündete in den Protesten auf dem Tiananmen-Platz, die nach mehreren Wochen blutig niedergeschlagen wurden. Daher war die Obrigkeit auch nervös, als vor einem Jahr der einstige Staatspräsident Jiang Zemin verstarb.
Dass mit dem plötzlichen Tod von Ex-Premierminister Li Keqiang der in weiten Teilen der Bevölkerung zweifellos bestehende Unmut nun ebenfalls öffentlich Ausdruck findet, ist jedoch nach heutigem Stand eher unwahrscheinlich. Denn auch wenn Li in seinen zehn Jahren als Premier zum liberalen Flügel der Führung gehörte, gelang es ihm nicht, sich wirksam gegen die Hardliner um Xi Jinping zu positionieren. Dafür verhielt sich Li zu unterwürfig.
Und doch geht mit dem Tod von Li etwas verloren: Die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit doch wieder weniger autoritär gefärbte Gruppen die Macht im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai übernehmen.
So kurz nach Ende seiner Amtszeit ist noch kein moderner chinesischer Premier verstorben: Li Keqiang trat im März turnusgemäß ab. Ganz im Unterschied zu Präsident Xi Jinping, der sich 2018 durch eine Verfassungsänderung das Recht auf unbegrenzte Amtszeiten gesichert hatte. Als Regierungschef war Li der wichtigste Ansprechpartner von Kanzlerin Angela Merkel und wurde so auch in Deutschland moderat bekannt. Li ist am Freitag im Alter von 68 Jahren gestorben.
In der chinesischen Öffentlichkeit wurde Li Keqiang eher als bieder wahrgenommen: Ein Bürokrat, der über Sachthemen redet. Er hat die Leute nicht mitgerissen, aber er hat sie überzeugt. Damit hat er Anfang an den Kontrast zum leutseligen, volksnahen Xi gebildet. “Er war mehr Professor als Politiker und hatte es schwer, sein Programm umzusetzen im Schatten eines Vollblutpolitikers wie Xi”, sagt Jörg Wuttke, der ehemalige Präsident der EU-Handelskammer in Peking.
Wuttke hat Li als “offenen und neugierigen Gesprächspartner” erlebt – und zwar schon in seiner Zeit als Regionalpolitiker in der Provinz Liaoning. Für den Kammerpräsidenten besonders erfreulich: “Er las immer unser Positionspapier vorab die Veröffentlichung auf Englisch.” Das Bedauern über Lis Ableben ist Wuttke deutlich anzumerken: “Es stimmt mich traurig, dass er die Pensionierung mit seiner wunderbaren Frau nicht genießen kann.”
Der Grünen-Politiker und China-Kenner Reinhardt Bütikofer sieht in der politischen Verpartnerung mit Xi Jinping die tragische Wendung in der Karriere Lis. “Wenn in einem autoritären Regime die Nummer eins das Ziel verfolgt, vom Primus inter Pares zum Alleinherrscher aufzusteigen, dann ist die Position der Nummer zwei immer unglücklich.” Li Keqiang habe diese unglückliche Position “mit dem Charme eines blassen Technokraten akkurat ausgefüllt”.
Doch Bütikofer erkennt auch an, dass Li hinter den Kulissen vermutlich viel Gutes bewirkt hat. “Er hat immer wieder, zum Teil sichtbar, zum Teil unsichtbar, versucht, Elemente der ökonomischen Rationalität gegen den Kurs von Xi, der die Sicherheit der Alleinherrschaft auch über ökonomische Ziele stellt, so gut er konnte zu verteidigen.” Letztlich war er dabei aber nicht erfolgreich, resümiert Bütikofer.
Wuttkes Einschätzung von Li als “kleinem Professor” deckt sich mit den Berichten von seinem Eifer als Schüler und Student. “Kommilitone Li Keqiang ist mal wieder ehrgeiziger als alle anderen”, schrieb sein Mitstudent He Qinhua im Jahr 1980 in sein Tagebuch. Neben dem Studium hatte Li Keqiang gerade ein Jura-Lehrbuch aus dem Englischen in Chinesische übersetzt. “Wie schafft der das alles?”, fragte sich He neidisch. Li galt als Streber. He selbst wurde später Jura-Professor in Shanghai.
Li hatte einen schwierigen Start im Gegensatz zu Xi, einem roten Prinzen mit einem einflussreichen Vater. Sein Vater war Bürgermeister im abgelegenen Kreis Fengyang in der zentralchinesischen Provinz Anhui. Während Li sich in der Mittelstufe als vorbildlicher Schüler erwies, brach über Chinas Jugend eine beispiellose Tragödie herein: das Chaos der Kulturrevolution.
In den Jahren von 1966 bis 1976 schuftete Li daher in einem abgelegenen Dorf auf dem Land. Es herrschte Mangel an Essen, und wie viele andere Jugendliche litt er Hunger. Er wurde oft krank und hatte Probleme mit seiner Haut. Als die Universitäten wieder öffneten, gelang es ihm, einen Studienplatz für Jura an der renommierten Peking-Universität zu ergattern.
In den späten 70er-Jahren Jura zu studieren war in China außergewöhnlich und geradezu mutig. Denn in China galt zu dieser Zeit nur das Recht der Kommunistischen Partei – wer einflussreiche Freunde hatte, konnte sich durchsetzen. Rechtswissenschaft wirkte wie ein Überbleibsel aus bürgerlichen Zeiten. Die Lehrbücher waren damals noch als “Vertraulich!” gestempelt und durften die Fakultät nicht verlassen.
Nach seinem Jurastudium und einem ersten Karrieresprung legte Li noch eine Promotion in Volkswirtschaftslehre nach. Damit war Li der erste chinesische Premierminister mit einer fundierten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung.
Tatsächlich hatte er als Gouverneur und Parteichef in den Provinzen Henan und Liaoning von 1998 bis 2007 eine gute wirtschaftspolitische Bilanz vorzuweisen. Unter seinem Einfluss stieg das Bruttoinlandprodukt um 50 Prozent. Es gab jedoch auch Kritik. Li war in Henan mit einem Skandal um HIV-Infektionen durch Blutspendedienste konfrontiert. Da die Blutspenden staatlich organisiert waren, folgte Li dem üblichen kommunistischen Reflex: Vertuschung statt Aufklärung.
Zu Beginn seiner Amtszeit setzte er sich als Premier noch mit seinen wirtschaftspolitischen Ideen gegen Xi Jinping durch. Er wollte den Privatsektor stärken und dem Markt größeren Einfluss auf die Nutzung des Kapitals geben. Die Folge war jedoch 2015 eine Blase am Aktienmarkt, die mit hohen Verlusten für die Investoren endete. Das gab dem Machtpolitiker Xi die Rechtfertigung, ihn zurückzupfeifen. Seitdem war von Li nicht mehr viel zu hören.
Im Gesamtbild bleibt das Bild eines weltoffenen Wirtschaftspolitikers, der in einer anderen Konstellation wohl mit viel Lob und großen Verdiensten ausgeschieden wäre. Nachdem in den vergangenen Jahren schon von gesundheitlichen Problemen gemunkelt wurde, gaben die Staatsmedien nun als Todesursache einen Herzinfarkt an.
Die zehn Jahre der Amtszeit von Ministerpräsident Li Keqiang waren eine Zeit der Krisen, geprägt durch den Handelskrieg mit den USA, steigende Staatsschulden, einen strauchelnden Immobiliensektor und die Corona-Pandemie. Doch das größte Problem für Li war, dass zu allen diesen Dingen sein Chef, Präsident und KP-Generalsekretär Xi Jinping, die Richtungsentscheidungen fällte. Und Xi fällte diese oftmals anders, als Li es getan hätte. Zumindest lassen einige wenige öffentliche Aussagen des Premiers darauf schließen.
Klar ist jedenfalls: Obwohl Li als Ministerpräsident und Nummer Zwei im Ständigen Ausschuss des Politbüros der KP auf dem Papier einer der mächtigsten Männer im Land war, dominierte Xi die Politik. So musste der wirtschaftsfreundliche Li mit ansehen, wie Xi andere Schwerpunkte setzte und das Wirtschaftswachstum zunehmend vernachlässigte.
So zeigt sich Xi als besessen von der Idee, die nationale Sicherheit und den Aufstieg Chinas zur Weltmacht über alles andere zu stellen. Anstatt das Land wirtschaftlich voranzubringen, musste Li mit ansehen, wie die Bedeutung seines Amtes immer weiter schrumpfte – weil Xi immer mehr Macht auf sich vereinte. Als er im März 2023 abtrat, soll er resigniert und frustriert gewesen sein.
Dabei galt Li Keqiang in den Nullerjahren noch als möglicher Nachfolger des damaligen Staats- und Parteichefs Hu Jintao. Li war damals Parteichef der Provinzen Henan und Liaoning. Li war ebenso wie Präsident Hu über die Kommunistische Jugendliga aufgestiegen; aus dieser Zeit kannten und schätzten sich die beiden. Doch als auf dem Parteitag 2007 der neue Ständige Ausschuss des Politbüros präsentiert wurde, stand plötzlich Xi Jinping auf Rang 6, einen Platz vor Li. Damit wurde klar: Xi hatte sich im internen Machtkampf durchgesetzt. Xi wurde Anfang 2008 Vizepräsident, und Li wurde Vizepremier unter Ministerpräsident Wen Jiabao.
2012 wurde Xi Jinping Parteichef. 2013 wurden Xi und Li Präsident und Premier. Xi begann sofort, die Macht immer stärker auf seine Person zu konzentrieren – die von Hu propagierte innerparteiliche Demokratie lehnte Xi ebenso ab wie einen kollektiven Führungsstil. Xi schuf in der Partei ein Geflecht aus kleinen Führungsgruppen und Zentralen Kommissionen mit sich selbst an der Spitze. Diese bestimmten zunehmend die Politik zu Wirtschaft, Finanzen oder Sicherheit – und schufen damit eine Parallelstruktur zu den staatlichen Organen, die Premier Li unterstanden. Li und seine Regierung wurden damit schrittweise zu Umsetzungsbehörden degradiert.
2018 ließ Xi die Verfassung ändern, um bei Bedarf auf Lebenszeit Präsident bleiben zu können. Den Abstieg der Jugendliga-Fraktion in die politische Bedeutungslosigkeit besiegelte die unwürdige Szene auf dem Parteitag 2022, als der schwach erscheinende Hu Jintao ohne Vorwarnung plötzlich aus dem Saal geführt wurde. Beim Gehen klopfte Hu noch einmal auf die Schulter des neben Xi platzierten Li Keqiang. Li verlor auf der Tagung seinen Sitz im Politbüro. Das gleiche Schicksal ereilte den reformorientierten Hu Chunhua, den Hu Jintao (nicht verwandt) und Li gern als Nachfolger im Amt des Premiers gesehen hätten. Xi aber wollte ihn nicht, und ohne Politbüro-Sitz kein Spitzenamt.
Bei seinem letzten Auftritt als Premier auf dem Nationalen Volkskongress erwähnte Li Keqing sieben Mal die herausragende Rolle von Xi als “Kern” der politischen Führung. Doch nicht immer plapperte er die Xi-Slogans nach. Immer wieder schien Li dem starken Mann in Reden zu widersprechen. Wann immer Beobachtende das bemerkten, kam es zu Spekulationen über Spannungen zwischen den beiden. Doch Li gab seine wahren Gedanken über Xi nie öffentlich preis, und so blieben sie sein Geheimnis.
Ab und zu aber gelangen Li Keqiang mit seinem vorsichtigen Ansatz gewisse Erfolge. Ein Beispiel: “Wir unterstützen die Plattformökonomie”, sagte er während einer Reise zu Tech-Unternehmen in Jiangsu im Frühjahr 2022 bei einem Technologieunternehmen, wie aus einem Video der Veranstaltung hervorgeht. “Wir unterstützen Unternehmer.” Wenige Tage später drang aus dem Politbüro, dass Xi seinen Crackdown gegen Chinas Tech-Firmen einstellte.
Auch versprach Li, “sinnlose Formalitäten und Bürokratie” zu beseitigen, und wurde dafür gelobt, dass er die Zeit für die Anmeldung eines Unternehmens während seiner Amtszeit von 35 Tage auf zehn Tage verkürzte. Und so milderte Li zwar die Politik des Parteichefs ab, der die Politisierung der Wirtschaft vorantrieb. Doch eine offene Herausforderung Xis wagte Li Keqiang nicht.
Sein Andenken werden also eher Worte prägen als starke Maßnahmen. Schlagzeilen machte Li 2020, als er sagte, in China lebten noch immer rund 600 Millionen Menschen mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 1.000 Yuan (umgerechnet 132 Euro), und folgerte: “Nach Covid sollte der Lebensunterhalt der Menschen unsere Priorität sein.” Xi war nach der Pandemie aber gegen hohe Sozialleistungen, und setzte sich damit auch wie üblich durch. Doch “Li Keqiang wird wahrscheinlich mit diesem Satz in die Geschichte eingehen, meint der Politologe Wen-Ti Sung von der Australian National University: “Der ehemalige Premierminister, der sich um die kleinen Leute sorgte.”
Im August 2022 sorgte Li noch einmal mit einer Aussage für Wirbel: Als er damals einen Kranz an der Statue des Reformpatriarchen Deng Xiaoping in Shenzhen niederlegte, betonte Li: “Reformen und die Öffnung werden nicht enden. So wie der Jangtse und der Gelbe Fluss nicht rückwärts fließen”. Videoclips der Rede gingen viral, wurden aber später zensiert – da sie weithin als verschlüsselte Kritik an Xis Politik galten.
Direkt vor dem Nationalen Volkskongress im März verabschiedete Li sich von 800 hohen Regierungsmitarbeitern mit den Worten. “Der Himmel sieht, was die Menschen tun. Das Firmament hat Augen.” Manche interpretierten die auf vielen Smartphone-Clips festgehaltenen Worte als Warnung an Xi.
In China, wo strikte Medienkontrolle herrscht, werden selbst Nachrufe streng orchestriert. Bislang findet sich auf offiziellen Nachrichtenwebseiten wie People’s Daily nur eine Meldung, die den Tod des ehemaligen Premiers Li Keqiang kurz und knapp zusammenfasst: Li, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros des 17., 18. und 19. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und ehemaliger Ministerpräsident, ist am Freitag in Shanghai verstorben. Todesursache Herzinfarkt. Er wurde 68 Jahre alt. Ein Nachruf erscheint später.
Die Medienwelt scheint nicht über einen dramatisch schlechten Gesundheitszustand Lis informiert gewesen zu sein. Ein vorbereiteter Nachruf, wie in Medienhäusern durchaus üblich, lag nicht in der Schublade. Auf der chinesischen Startseite der People’s Daily ist der Tod Lis nicht einmal die wichtigste Meldung des Tages. Ganz oben steht ein Artikel über das Treffen des kolumbianischen Präsidenten mit Xi Jinping, gefettet und in zweimal größerer Schrift als die Todesnachricht.
Kollegen und Prominente halten sich ebenfalls noch mit einordnenden Beileidsbekundungen zurück. Bis ein offizielles Narrativ feststeht, wie Lis Lebenswerk von den Staatsmedien bewertet wird, will keiner vorpreschen. Wer dennoch etwas sagen will, wählt unverfängliche und positive Worte. Der Ökonom und CCTV-Kommentator Kou Yuan erinnert sich auf Weibo an die Teilnahme Lis auf einem Symposium über die wirtschaftliche Situation im Jahr 2021: “Er war entschlossen, an der Reform und Öffnung festzuhalten. Nun ist er von uns gegangen.” Journalist Li Wei Ao etwa erinnert sich daran, wie Li schon kurz nach dem Ausbruch der Covid-Pandemie ins Epizentrum Wuhan gekommen war, um mit Arbeitern und dem medizinischen Personal der Krankenhäuser zu sprechen.
Li war in gebildeten Kreisen, aber auch in der Mittelschicht durchaus beliebter als Staatspräsident Xi Jinping. Er stand für wirtschaftliche Reformen und Pragmatismus, Volksnähe und in beschränktem Maße auch für Rechtsstaatlichkeit. “Wir haben ihn immer geliebt und respektiert”, schreibt ein Nutzer unter einen Nachruf, den die Schweizer Botschaft in China auf Weibo gepostet hatte. Ein chinesischer User auf X erinnert daran, dass Li während der Corona-Pandemie vielen Menschen mit folgendem Satz Hoffnung gab: “600 Millionen Chinesen verdienen immer noch kaum 1.000 Yuan im Monat. Nach Covid sollte der Lebensunterhalt der Menschen unsere Priorität sein.”
Dass die wirtschaftliche Situation sich für die meisten Chinesen eben doch nicht verbessert hat, lastet ihm niemand an. Im Gegenteil, sein Abgang gilt als Verlust. Der unerbittliche Lockdown in Shanghai ging schließlich bereits auf das Konto seines Nachfolgers Li Qiang, der auf dem Höhepunkt der Pandemie Parteisekretär der Metropole war.
Andere posteten das Liebeskummer-Lied “Kexi bushi ni 可惜不是你”, der chinesisch-malaysischen Sängerin Liang Jingru aus dem Jahr 2005. Zu Deutsch: “Leider bist es nicht du”. Es ist ein bösartiger Seitenhieb auf Xi Jinping, der schon nach dem Tod des ehemaligen Staatschefs Jiang Zemin die Runde machte. Die Zensur löschte die Postings, die man frei übersetzen könnte als “Leider hat es nicht dich erwischt, Xi”, umgehend.
Die Social-Media-Kanäle staatlicher Seiten haben ihre Kommentarspalten zum Teil gleich ganz abgeschaltet. Bei anderen Nachrichtenseiten dominieren Emojis von brennenden Kerzen und die Phrase “Yilu zouhao 一路走好” – gute Reise oder “Ruhe in Frieden”. Lis Tod sei ein Verlust, heißt es häufig. Der Ex-Premier habe hart für das Wohl des Volkes gearbeitet und einen großen Beitrag für China geleistet, ist die scheinbar einhellige Meinung, die nach dem Filterprozess der Zensur als öffentliche Meinung übrigbleibt.
Der Tod eines bekannten Top-Kaders ist in China stets ein Anlass für gesteigerte Aufmerksamkeit. Historische Vorbilder haben eine Assoziation geschaffen zwischen den Trauerfeiern für einen Spitzenpolitiker und Protesten in seinem Namen. Das gilt vor allem dann, wenn der Verstorbene für eine andere politische Richtung steht als die aktuelle Führung.
“Wenn man die jüngste Geschichte Chinas betrachtet, könnte der plötzliche Tod eines Spitzenpolitikers ein Katalysator für Veränderungen sein“, schreibt der Journalistik-Professor Wang Xiangwei auf X. “Nur wenige Tage nach dem Tod Jiang Zemins am 30. November hob China die Null-Covid-Beschränkungen auf.” Wang hat als Journalist bei China Daily und South China Morning Post erheblichen Einblick in die Zusammenhänge der KP erhalten und unterrichtet heute in Hongkong.
So wie Li Keqiang stand der ehemalige Präsident Jiang Zemin für einen ganz anderen Politikstil und war zudem sehr beliebt. Sein Tod Ende November vergangenen Jahres hatte – wie jetzt der Lis – sofort für Spekulationen über Unruhen gesorgt. Gerade der Kontrast des lockeren Pragmatikers Jiang zum bombastischen Xi fiel auf.
Das bevorstehende Begräbnis galt sofort als möglicher Ausgangspunkt für Versammlungen von Bürgern, die sich über die Corona-Maßnahmen ärgern. Tatsächlich ist es Xi aber gelungen, die Situation komplett zu entschärfen: Am 1. Dezember hob er die Pandemie-Beschränkungen auf, während die Trauerfeier für Jiang unter kontrollierten Bedingungen in der Großen Halle des Volkes stattfand.
Die starke Assoziation von Trauerfeiern mit Unruhen gehen heute vor allem auf die Ereignisse nach dem Tod des ehemaligen Generalsekretärs Hu Yaobang (1915-1989) zurück. Hu war Anfang der 1980er-Jahre Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Ihm war inoffiziell noch ein Mann vorgesetzt: der oberste Führer Deng Xiaoping. Das Duo Deng-Hu stand für Reformen, Öffnung und politische Neuerungen.
Nach Studentendemonstrationen 1986 stürzten die Hardliner in der Partei Hu im Jahr 1987, weil er angeblich zu nachsichtig mit den Protesten umgegangen war. Zwei Jahre später starb er, und aus den Trauerfeiern für den bei der Jugend beliebten Hu wurden die großen Proteste des Jahres 1989.
Der Grünen-Politiker und China-Kenner Reinhard Bütikofer warnt jedoch davor, bei Li den Vergleich mit Hu Yaobang zu strapazieren. “Hu Yaobang war jemand, der gegen die Betonköpfe in der Kommunistischen Partei einen Aufbruch versuchte, während Li Keqiang jemand war, der unter dem Druck der Betonköpfe den Rückzug angetreten hat.”
Für passender hält Bütikofer den Vergleich mit Zhou Enlai (1898-1976), dem Premier unter Mao Zedong. Zhou hatte sich immer Mühe gegeben, die Exzesse Maos abzufedern und auszugleichen. Sein Tod kurz vor dem Maos löste in der Bevölkerung große Trauer aus.
Entsprechend heftig war der Ärger, als die Polizei Kränze für Zhou vom Platz des Himmlischen Friedens entfernen ließ. Die Polizei setzte Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen. Bis 1989 hieß dieses Ereignis der “Tian’anmen-Zwischenfall”.
Generell steht der Premier in China tendenziell für eine technokratische, gute Verwaltung des Landes. Er ist vor allem für die Wirtschaft zuständig und nimmt damit eine zentrale Rolle ein. Der KP-Generalsekretär dagegen legt die Leitlinien der Politik fest, herrscht über die Partei und dominiert auch die Außenpolitik. Der Premier stand zumeist im Schatten des Generalsekretärs. Ein Extrembeispiel war Zhou.
Vor Maos Säuberungen war niemand sicher, und Zhou konnte von Glück sagen, nur an den Rand gedrängt, aber nicht verfolgt worden zu sein. Zhu Rongji galt unter Jiang Zemin als wirtschaftlicher Macher, doch Jiang sonnte sich auf der Weltbühne. Einzig Lis Vorgänger Wen Jiabao wurde nicht dauernd vom KP-Chef Hu Jintao überstrahlt – was aber auch daran lag, dass Hu selbst eher ein unauffälliges Profil hatte. Mit Xi zog wieder ein äußerst machtbewusster Mann an die Spitze der Partei.
So reagiert China auf den Tod Li Keqiangs
In China, wo strikte Medienkontrolle herrscht, werden selbst Nachrufe streng orchestriert. Bislang findet sich auf offiziellen Nachrichtenwebseiten wie People’s Daily nur eine Meldung, die den Tod des ehemaligen Premiers Li Keqiang kurz und knapp zusammenfasst: Li, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros des 17., 18. und 19. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und ehemaliger Ministerpräsident, ist am Freitag in Shanghai verstorben. Todesursache Herzinfarkt. Er wurde 68 Jahre alt. Ein Nachruf erscheint später.
Die Medienwelt scheint nicht über einen dramatisch schlechten Gesundheitszustand Lis informiert gewesen zu sein. Ein vorbereiteter Nachruf, wie in Medienhäusern durchaus üblich, lag nicht in der Schublade. Auf der chinesischen Startseite der People’s Daily ist der Tod Lis nicht einmal die wichtigste Meldung des Tages. Ganz oben steht ein Artikel über das Treffen des kolumbianischen Präsidenten mit Xi Jinping, gefettet und in zweimal größerer Schrift als die Todesnachricht.
Keiner will mit einem Nachruf vorpreschen
Kollegen und Prominente halten sich ebenfalls noch mit einordnenden Beileidsbekundungen zurück. Bis ein offizielles Narrativ feststeht, wie Lis Lebenswerk von den Staatsmedien bewertet wird, will keiner vorpreschen. Wer dennoch etwas sagen will, wählt unverfängliche und positive Worte. Der Ökonom und CCTV-Kommentator Kou Yuan erinnert sich auf Weibo an die Teilnahme Lis auf einem Symposium über die wirtschaftliche Situation im Jahr 2021: “Er war entschlossen, an der Reform und Öffnung festzuhalten. Nun ist er von uns gegangen.” Journalist Li Wei Ao etwa erinnert sich daran, wie Li schon kurz nach dem Ausbruch der Covid-Pandemie ins Epizentrum Wuhan gekommen war, um mit Arbeitern und dem medizinischen Personal der Krankenhäuser zu sprechen.
Li war in gebildeten Kreisen, aber auch in der Mittelschicht durchaus beliebter als Staatspräsident Xi Jinping. Er stand für wirtschaftliche Reformen und Pragmatismus, Volksnähe und in beschränktem Maße auch für Rechtsstaatlichkeit. “Wir haben ihn immer geliebt und respektiert”, schreibt ein Nutzer unter einen Nachruf, den die Schweizer Botschaft in China auf Weibo gepostet hatte. Ein chinesischer User auf X erinnert daran, dass Li während der Corona-Pandemie vielen Menschen mit folgendem Satz Hoffnung gab: “600 Millionen Chinesen verdienen immer noch kaum 1.000 Yuan im Monat. Nach Covid sollte der Lebensunterhalt der Menschen unsere Priorität sein.”
Dass die wirtschaftliche Situation sich für die meisten Chinesen eben doch nicht verbessert hat, lastet ihm niemand an. Im Gegenteil, sein Abgang gilt als Verlust. Der unerbittliche Lockdown in Shanghai ging schließlich bereits auf das Konto seines Nachfolgers Li Qiang, der auf dem Höhepunkt der Pandemie Parteisekretär der Metropole war.
Hämische Kommentare werden umgehend gelöscht
Andere posteten das Liebeskummer-Lied “Kexi bushi ni 可惜不是你”, der chinesisch-malaysischen Sängerin Liang Jingru aus dem Jahr 2005. Zu Deutsch: “Leider bist es nicht du”. Es ist ein bösartiger Seitenhieb auf Xi Jinping, der schon nach dem Tod des ehemaligen Staatschefs Jiang Zemin die Runde machte. Die Zensur löschte die Postings, die man frei übersetzen könnte als “Leider hat es nicht dich erwischt, Xi”, umgehend.
Die Social-Media-Kanäle staatlicher Seiten haben ihre Kommentarspalten zum Teil gleich ganz abgeschaltet. Bei anderen Nachrichtenseiten dominieren Emojis von brennenden Kerzen und die Phrase “Yilu zouhao 一路走好” – gute Reise oder “Ruhe in Frieden”. Lis Tod sei ein Verlust, heißt es häufig. Der Ex-Premier habe hart für das Wohl des Volkes gearbeitet und einen großen Beitrag für China geleistet, ist die scheinbar einhellige Meinung, die nach dem Filterprozess der Zensur als öffentliche Meinung übrigbleibt.