Table.Briefing: China

Interview Mareike Ohlberg + Kreative Netizens + ILO-Abkommen

  • Sinologin Mareike Ohlberg über Medienzensur
  • Lockdown-Frust bahnt sich seinen Weg im Netz
  • Chinas Absichten hinter den Konventionen gegen Zwangsarbeit
  • Corona-Tests in Pekinger Bezirk Chaoyang
  • Billige Kohle gegen Konjunktur-Schwäche
  • EU und USA kritisieren China wegen Desinformation in Ukraine-Krieg
  • Im Portrait: Ulrich Ackermann – Krisenberater des VDMA
  • Zur Sprache: Die “Faulpelzwirtschaft”
Liebe Leserin, lieber Leser,

Chinas Medienzensoren haben einen ganz kurzen Zünder. Unliebsame Posts und Kommentare in Sozialmedien sind oft innerhalb von Minuten wieder verschwunden. Unerwünschte Narrative finden in der täglichen Berichterstattung der chinesischen Medien gar nicht statt, oder nur sehr am Rande. Zuletzt war das bei der russischen Invasion in der Ukraine zu beobachten. 

Im Interview mit China.Table erklärt die Sinologin Mareike Ohlberg, wie gebildete Chinesen trotzdem an Nachrichten aus dem Ausland kommen und aus welchen Quellen sich ihr Weltbild speist. Andere befürworten wiederum die Kontrolle der Medien. Zensur ist aus ihrer Sicht notwendig für die soziale Ordnung. Für die Partei ist die Medienzensur dennoch auch ein Problem, sagt Ohlberg im Gespräch mit Fabian Peltsch. “Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst.”

Ein Paradebeispiel mühsamer Zensur spielte sich auch an diesem Wochenende ab. In den Sozialmedien wird der Ton mit jedem weiteren Tag des Corona-Lockdowns in Shanghai immer rauer – die Nutzer:innen werden aber auch immer kreativer, um die staatlichen Löscher und Blocker zu umgehen, wie unsere Kollegen aus China berichten. Ein Video erreichte am Samstag und Sonntag besondere Aufmerksamkeit: “Stimme des April”. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie in unserer Analyse.

Die Lockdowns und Aufrechterhaltung der Versorgung während der Null-Covid-Politik erschwert derzeit Logistikern die Arbeit in der Volksrepublik. Über die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen und des Ukraine-Kriegs auf die Lieferketten berichten die AHK Hongkong und die Port of Hamburg Marketing in einer Panel-Diskussion am Donnerstag (28.4.). China.Table ist Medienpartner: Unsere Abonnenten können kostenlos an dem Webinar “Rethinking Global Supply Chains – Navigating Complex Challenges in 2022 and Beyond” teilnehmen. Als Lizenznehmer erhalten Sie dazu im Laufe des heutigen Montags eine separate E-Mail.

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die Woche!

Ihre
Amelie Richter
Bild von Amelie  Richter

Interview

“Auch für die Partei ist die Medienzensur ein Problem”

Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums.
Sinologin Mareike Ohlberg

Frau Ohlberg, die pro-russische Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hat wieder mal gezeigt, wie einseitig chinesische Staatsmedien ihr Narrativ verbreiten. Wir im Westen glauben gerne, dass die gebildeten Chinesen wissen, dass sie da Propaganda serviert bekommen.

Es ist eine Sache, zu wissen, dass Nachrichten gefiltert werden und man Propaganda gefüttert bekommt, und eine andere, nicht trotzdem dem Narrativ einen gewissen Glauben zu schenken. Natürlich wissen viele Chinesen, wie die eigenen Medien gemacht werden.  

Fühlen sie sich nicht bevormundet? 

Es gibt die einen, die sagen, “ja, das ist nervig”, aber sie nehmen es hin und werden dann doch auf die eine oder andere Art davon beeinflusst. Andere schenken anderen Quellen mehr Glauben, seien es ausländische Medien oder “alternative” chinesische Medien. Es gibt aber auch Chinesen, die die Medienzensur verteidigen. Das Argument ist mir das eine oder andere Mal an chinesischen Unis begegnet. Dort argumentieren eher regimekonforme Akademiker, Zensur sei notwendig für die soziale Ordnung und das Gemeinwohl. Das elitäre Denken einiger tendiert manchmal sogar in die Richtung, zu behaupten: Ihre Mitbürger in China seien unfähig oder nicht gebildet genug, um verantwortungsvoll mit der Wahrheit oder dem vollen Spektrum an Informationen umzugehen – oder auch eigene Parteien demokratisch zu wählen.  

Was lesen solche gebildete Chinesen denn, um an breit gefächerte Informationen über Politik aus dem Ausland zu kommen? 

Das ist natürlich eine große Gruppe an Menschen und dementsprechend gibt es Unterschiede, wie sich Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen informieren. Einige haben durchaus Zugang zu Nachrichten aus dem Ausland, sei es über einen VPN-Kanal oder weil sie im Ausland leben. Diese werden dann gegebenenfalls parallel zu offiziellen chinesischen Medien sowie häufig auch nicht-offiziellen chinesischen Medien mit Sitz im Ausland gelesen. Ein Phänomen, das chinesische Informationskreise jedoch sehr stark prägt, sind WeChat-Informationsblasen. Über WeChat bleibt man mit Freunden und Bekannten im Kontakt, ähnlich wie über WhatsApp, aber es ist auch eine Nachrichtenquelle beziehungsweise die Hauptnachrichtenquelle für viele Menschen, inklusive Chines:innen im Ausland. Welche Nachrichten man über WeChat konsumieren kann, unterliegt wiederum in der Regel Zensurvorgaben und Filtern der chinesischen Regierung. Die Administratoren müssen heute ganz genau Rechenschaft darüber ablegen, was in ihren Gruppen passiert. Vor ein paar Jahren gab es noch etwas mehr Freiräume.  

Welchen Spielraum haben chinesische Medien, um vom offiziellen Partei-Narrativ abzuweichen? 

Es gibt Medien, die immer mal wieder Freiräume finden, um etwas unabhängiger zu berichten. Man sah das zu Beginn der Pandemie, als Caixin recht frei und engagiert guten, investigativen Journalismus und eine klasse Berichterstattung vor Ort betrieben hat. Es gibt dieses Potenzial weiterhin, es kann jedoch häufig nur begrenzt genutzt werden. Je nach Medienkontrolle tun sich Fenster auf, die sich aber leider immer sehr schnell wieder schließen.  

Warum finanziert der Staat auf der einen Seite diesen riesigen Zensurapparat und geht auf der anderen Seite nicht entschiedener gegen die Verwendung von VPN-Kanälen vor, mit denen man doch recht unkompliziert ausländische Nachrichten lesen kann? 

Das hat sicher mit den Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland zu tun. Viele ausländische Unternehmen nutzen VPNs und wollen auch nicht unbedingt auf einen staatlich zur Verfügung gestellten Kanal zurückgreifen. Wenn man VPN kategorisch verbieten beziehungsweise blockieren würde, hätte das auch Auswirkungen auf die Auslands- und Wirtschaftsbeziehungen.

Gleichzeitig ist es der Partei gut gelungen, die Bevölkerung ohne Pauschalverbot davon abzuhalten, VPNs zu benutzen. Dabei setzt man zum Beispiel auf Abschreckung: Immer wieder werden einzelne Menschen verhaftet und verurteilt, meistens solche, die VPNs zur Verfügung stellen beziehungsweise verkaufen. Viele Chinesen denken, VPNs sind illegal, was so nicht richtig ist. Aber was erlaubt ist und was nicht, wird bewusst vage kommuniziert.

Es ist die alte Geschichte: Man weiß nicht, woran man ist. Und wenn der öffentliche Sicherheitsapparat einem Schwierigkeiten bereiten will, findet er sicher auch irgendwo einen Grund. Deshalb kann ich schon verstehen, wenn manche lieber vorsichtig sind. Vor allem aber glaube ich nicht, dass die Informationsbeschaffung über VPN-Kanäle eine Auswirkung auf die breite Masse hat, solange die Möglichkeiten, diese Informationen auch im öffentlichen Raum in China weiter diskutieren zu können, so stark eingeschränkt sind.  

Darf die Parteielite ganz offiziell VPN-Kanäle benutzen? 

Bestimmte Regierungsabteilungen beziehungsweise Unterabteilungen, denen vertraut wird und die für ihren Job Zugang zum ungefilterten Internets benötigen, haben auch ohne VPN Zugang zum westlichen Internet. Es gibt zum Beispiel Leute im Staatsapparat, deren Aufgabe es ist, die Medien im Ausland gezielt zu beobachten und zusammenzufassen, was dort diskutiert wird. Während des Ausbruchs der sogenannten Jasmin-Proteste 2011 hatte ich selbst ein Youtube-Video ins Netz gestellt. Die Hälfte der Klicks kam aus China. Andere haben ähnliches beobachtet.

Das deutet darauf hin, dass bestimmte Regierungsstellen über direkte Leitungen Zugriff haben. Hätten sie einen VPN benutzt, wäre als Ursprungsland des Clicks nicht China aufgetaucht, sondern der Standort des jeweiligen VPN-Servers, der genutzt wird, um die Zensur zu umgehen. Hinzu kommen Medienagenturen wie Xinhua, die Pressespiegel für die politische Elite erstellen. Je höher die Kader in der Rangordnung sind, umso größer ist meistens die Schrift, weil die dann meistens schon recht alt sind (lacht).   

Medien wie New York Times oder Spiegel übersetzen Enthüllungsgeschichten aus China gerne ins Chinesische. Hat das einen Effekt in China?  

Grundsätzlich kommt alles irgendwo an. Ich glaube aber nicht, dass solche Nachrichten eine kritische Masse erreichen. Diese wird in der Regel erst dann erreicht, wenn Menschen sich organisieren, gegenseitig austauschen, einen gemeinsamen öffentlichen Raum haben. Aber im Moment bewegen wir uns in die Gegenrichtung: Der Zugang wird immer schwieriger und sämtliche Kanäle, über die man sich austauschen kann, werden immer stärker kontrolliert.

In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” schreiben Sie, dass Peking die Medienzensur nicht ewig beibehalten will.

Für die Partei ist die Medienzensur auch ein Problem: Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst. Als langfristiges Ziel will Peking seine globale Diskursmacht ausbauen. Wenn das Ausland Pekings Narrativ folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee. Das ist jedoch ein bisschen wie mit der Auflösung des Staates bei Marx, also ein Ziel in sehr, sehr ferner Zukunft. Derzeit wird die Zensur weiterhin ausgebaut und das wird auch noch lange der Fall bleiben.

Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums. Ihre Schwerpunkte liegen in der chinesischen Außenpolitik, der Medien- und Digitalpolitik sowie den Entwicklungen in Hongkong und Taiwan.

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Analyse

Lockdown-Frust macht Netizens kreativ

Der Lockdown in Shanghai geht in die vierte Woche. Viel vom Unverständnis und dem Ärger der Großstädter findet seinen Weg auf Sozialplattformen. An diesem Wochenende verbreiteten sich nun besonders viele kritische Inhalte – die zum Teil so clever gestaltet waren, dass die Zensur mit dem Löschen nicht hinterherkam.

Besonders ein Video machte am Samstag und Sonntag die Runde. Der kurze Film trägt den Titel “Stimme des April” (四月之声). Er besteht aus Drohnenaufnahmen der Stadt, über die neben Textanimationen auch unterschiedliche Soundbites und mutmaßlich mitgeschnittene Telefongespräche gelegt wurden. Zu traurig anmutender Musik beklagen sich Menschen (mutmaßlich im Originalton) über Nahrungsmittelmangel oder machen ihrem Unmut über die Maßnahmen und deren schlechter Organisation Luft.

Die Kommentare werden unverblümter und giftiger

Das Video durchlief dann die üblichen Phasen der Videozensur. Es wurde prompt auf die Liste zensierter Inhalte gesetzt. Als nächstes entstanden abgeänderte Versionen, wie zum Beispiel hochformatige, spiegelverkehrte oder abgefilmte Fassungen. Oft nutzten die Netzbürger auch andere Bilder als Thumbnails, wie beispielsweise einen Batman-Schriftzug oder drei Mobiltelefone, die nebeneinander liegen. Alles, um den Zensuralgorithmen zu entgehen. Am Ende blieb das alles erfolglos, weil eben auch ein Heer menschlicher Kontrolleure auf die Inhalte schaut.

Ein anderer Beitrag macht dann die Sperrung selbst zum Inhalt. Im Thumbnail des Videos ist die Seite zu sehen, die angezeigt wird, wenn ein Inhalt bereits geblockt wurde. “Dieser Beitrag kann vorübergehend nicht angesehen werden”, steht dort in englischer oder chinesischer Sprache. Wenn man dieses Video dann versucht zu starten, ist es ironischerweise selbst geblockt und der Zuschauer bekommt genau den Schriftzug gezeigt, den das Video ohnehin angezeigt hätte.

Die Kommentare von Nutzern zu Posts werden derweil immer giftiger. Es tauchen immer öfter Äußerungen auf wie: “Löschen, löschen, löschen…” oder “Traut euch doch, auch das hier zu löschen”. Ein anderer Netizen veröffentlichte den Satz: “Zehn Menschen, die einen Schritt gehen, sind stärker als ein Mensch, der zehn Schritte geht” (十个人的一步,比一个人的十步强).

Gedichte und Musicals als scheinbar unverfängliche Inhalte

Viele Netizens nehmen die allzu offensichtliche Zensur derweil mit guten Argumenten aufs Korn. Zum einen fragen einige von ihnen öffentlich, was denn an “Stimme des April” genau das Problem sei. Schließlich hat der Clip nicht wirklich Stimmung gegen die Regierung gemacht, sondern nur reale Probleme vor Ort dokumentiert.

Andere werden beim Inhalt kreativ, um den Zensoren die Arbeit zu erschweren. Hier setzen sie auf die Taktik, Inhalte zu posten, deren doppelte Bedeutung sich glaubwürdig leugnen lässt. Ein Profilbild beispielsweise mit einem sehr blauen Himmel und einem sehr gelben Kornfeld beispielsweise. Auf den ersten Blick sieht es aus wie die ukrainische Fahne, doch genau genommen handelt es sich nur um ein farbgesättigtes Landschaftsbild.

Ähnlich gehen die Netizens mit Posts über Shanghai um. Oft greifen sie dabei auf Ausschnitte aus Hollywoodfilmen zurück. Ein Video zitiert einen Ausschnitt aus dem Film Interstellar, in dem ein Raumschiff abhebt und die Erde verlässt. Zu hören ist Michael Caine, wie er ein Gedicht von Dylan Thomas zitiert: “Wüte, wüte gegen das Sterben des Lichts” (“Rage, rage against the dying of the light”). Die Zeilen sind per Untertitel ins Chinesische übersetzt.

Wut ist auch in einem anderen Video ähnlicher Machart das zentrale Thema. Dieses Video ist ein Ausschnitt aus dem Film Les Miserables. Der Text geht hier: “Hörst du die Leute singen? Wie sie das Lied der verärgerten Menschen singen?” (“Do you hear the people sing, sing the songs of angry men?”) – ein Protestmarsch, der im Film direkt vor der Juni-Revolution 1832 gesungen wird.

China zensiert sogar die eigene Nationalhymne

Die schwierige Frage für die Behörden ist nun, ob es sich bei den Videos um Protestaufrufe handelt oder nicht. Es könnten ja auch einfach nur Ausschnitte aus beliebten Hollywoodfilmen sein. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum diese Videos zur Stunde noch sichtbar sind.

Auch in den letzten Wochen haben die Netizens schon ihre Beschlagenheit gegenüber den Zensoren unter Beweis gestellt und damit ein bizarres Ergebnis erzielt. Sie funktionierten kurzerhand die erste Zeile der chinesischen Nationalhymne zur Protestzeile um (“Steht auf, wir wollen keine Sklaven mehr sein” (起来不愿做奴隶的人们) und brachten damit die Zensoren in eine Zwickmühle. Es blieb nur die Möglichkeit, entweder die eigene Nationalhymne zu zensieren oder die Aufrufe zum Ungehorsam gegen die Coronavirus-Maßnahmen stehenzulassen. Die Zensoren bewiesen Entschlossenheit. Die Zeile wurde aus Weibo verbannt. Gregor Koppenburg/Jörn Petring

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Zwangsarbeits-Abkommen soll gut Wetter bei der EU machen

China hat in der vergangenen Woche zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsagentur (ILO) gegen Zwangsarbeit ratifiziert (China.Table berichtete). Der Schritt kam überraschend – seit Jahrzehnten wird mit der Volksrepublik über Zugeständnisse in dem Bereich verhandelt. Denn es handelt sich dabei um zwei altehrwürdige ILO-Übereinkommen:

Die ILO gehört zu den Vereinten Nationen (UN). Sie besteht schon seit 1919, ist also über hundert Jahre alt. Sie arbeitet darauf hin, den sozialen Rahmen für Arbeiter zu verbessern. Dafür setzt sie vor allem Regeln und Normen. Die Übereinkommen über Zwangsarbeit gehören daher zu den Grundpfeilern ihrer Projekte. Sie ächten “jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat”. Bis zur vergangenen Woche hat China seine Unterschrift verweigert. Kein Wunder in einem Land, das erst 2013 seine Arbeitslager formal geschlossen hat, nur um wenig später in Xinjiang neue zu eröffnen.

Echte Verbesserungen für die Arbeiter vor Ort erwarten Beobachter auch nun jedoch nicht. Der Schritt sei eine “diplomatische Entscheidung” gewesen, die zu keinen bedeutenden Veränderungen führen werde, sagte Aidan Chau von der Nichtregierungsorganisation China Labour Bulletin gegenüber China.Table. Die in Hongkong sitzende Organisation setzt sich für Arbeitnehmerrechte in der Volksrepublik ein.

Die Erfahrung zeige, dass China zwar viele Abkommen unterschreibt, die Praxis im Land sich aber nur unwesentlich verändert. So hat China auch das Übereinkommen über Sicherheit im Bauwesen von 1988 ratifiziert, so Chau. “Wir beobachten aber weiterhin, dass Arbeitsunfälle auf Baustellen wie beispielsweise Kran-Einstürze in China weit verbreitet sind.” Große Fortschritte bei den Interessen und Rechten der Arbeiter könne es nur durch Tarifverhandlungen geben, so Chau. Unabhängige Gewerkschaften gibt es in China aber nicht. Andere Formen von Arbeitnehmerorganisationen sind in China ebenfalls schwach aufgestellt.

Die ILO hat auch kaum Möglichkeiten, die Anwendung der Konventionen zu überprüfen. China weist den Vorwurf der Zwangsarbeit – vor allem in der Region Xinjiang – zurück. Vor-Ort-Untersuchungen durch unabhängige Experten wird Peking kaum zustimmen.

China will Bachelet bessere Bilanz vorlegen

Ganz zufällig ist der Zeitpunkt der Ratifizierung nicht gewählt. Im Mai steht erstmals ein Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, in China an – auch in der Region Xinjiang. Mit der Ratifizierung wolle China nun signalisieren, dass der Schutz der Arbeitnehmerrechte ernst genommen wird, sagte Surya Deva, Rechtsprofessor an der Macquarie University in Australien, der Zeitung South China Morning Post.

Deva zufolge ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die ILO-Konventionen vor Ort die Abschaffung der Zwangsarbeit bewirkt. Peking mache den Schritt aus Kalkül: “um die Beziehungen zur EU angesichts der zunehmenden Kluft mit den USA wegen der russischen Invasion in die Ukraine zu verbessern und zu versuchen, CAI wiederzubeleben”. Dass die Volksrepublik die ILO-Konventionen nicht ratifizieren wollte, war bislang einer der Hauptkritikpunkte an dem Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und China (CAI).

Dieser Kritikpunkt ist zwar ausgeräumt, aber das allein reicht eben nicht. CAI liegt seit mehr als einem Jahr auf Eis. Ausschlaggebend waren im März 2021 gegenseitige Sanktionen. Brüssel hatte diese wegen Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren gegen mehrere führende Beamte in Xinjiang verhängt. Peking reagierte mit Strafmaßnahmen unter anderem gegen EU-Abgeordnete.

Brüssel: Keine Aussicht auf Fortschritt bei CAI

Könnte die Zustimmung zu den Abkommen nun Bewegung in das CAI-Patt bringen? Eher nein. “Die Ratifizierung der ILO-Konventionen ist zwar eine große Geste Pekings gegenüber Brüssel, beseitigt aber nicht die Haupthindernisse für die CAI-Ratifizierung”, sagt Merics-Analyst Grzegorz Stec. CAI bleibe wegen ganz anderer Hindernisse weiterhin blockiert: wegen der gegenseitigen Sanktionen und des Handelsstreits um Litauen. “Keines dieser Probleme dürfte auf absehbare Zeit gelöst werden, auch im Kontext der politischen Spannungen um die Ausrichtung Pekings mit Moskau”, so Stec.

Peking scheine sich gegenüber der EU in einem “Schadensbegrenzungsmodus” zu befinden. Der EU-China-Gipfel lief nicht sonderlich gut (China.Table berichtete). Auch die ILO-Abkommen helfen Stec zufolge derzeit nicht viel. Der Fokus der EU-China-Beziehungen verschiebe sich vermehrt in Richtung “systemische Rivalität”. Für die Führung in Peking könnte es schwierig werden, die Beziehung zu Brüssel zu verbessern, erklärt Stec.

Auch vom EU-Handelskommissar kam eine klare Absage an Fortschritte bei der Anwendung des CAI wegen der Ratifizierung der ILO-Konvention. Die EU messe der ILO zwar große Bedeutung bei und begrüße den Schritt. Aber solange die Sanktionen gegen EU-Parlamentarier in Kraft seien, werde CAI nicht wiederbelebt.

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News

Massentest in Peking: Vorbote eines Lockdowns?

Die Einwohner und Arbeitnehmer im Pekinger Stadtbezirk Chaoyang müssen in dieser Woche drei Corona-Tests absolvieren. Die Abstrichproben sind am Montag (25.4.), Mittwoch (27.4.) und Freitag (29.4.) abzugeben. “Mehrere Ausbrüche der Pandemie im Bezirk Chaoyang gelten als Anzeichen für verdeckte Übertragungen”, lautet die Begründung der Behörden.

Am Samstag hat die Stadt Peking 22 neu aufgefundene Infektionen gemeldet. Chaoyang hat 3,5 Millionen Einwohner. Solche Massentests gehen in der Regel einem Lockdown voraus. Wegen der leichten Übertragbarkeit der Omikron-Variante des Coronavirus fanden sich bei einem vergleichbaren Massentest in Shanghai zahlreiche Fälle, die ohne Symptome verlaufen waren. Sie galten als Begründung für die bis heute geltenden Ausgangssperren.

Shanghai: Räumung ganzer Distrikte “zur Desinfektion”

Die Regierung in Shanghai wird einem Bericht der BBC zufolge weitere Distrikte in andere Städte evakuieren. Die Einwohner sollen dort dann in Quarantänezentren leben. Die Gesundheitsbehörden müssen ihre Wohnblocks angeblich besonders gründlich desinfizieren. Shanghai hat mit dieser Praxis bereits in der vergangenen Woche begonnen.

Die Bewohner sind beunruhigt. “Ich mache mir vor allen Dingen Sorgen, was mit meiner Katze passiert, wenn ich umgesiedelt werde”, schreibt eine Shanghaierin auf Sozialmedien. “Wir bekommen hier zwar gesagt, dass sich jemand um die Tiere kümmern würde, aber bei dem, was früher schon mit Haustieren passiert ist, mache ich mir trotzdem Sorgen.”

Damit spricht sie die Vorfälle an, bei denen Männer in weißen Schutzanzügen die Haustiere kurzerhand totgeschlagen haben, nachdem die Anwohner in Quarantäne verbracht wurden. gk/fin

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  • Peking

Kohle als Mittel gegen schwache Konjunktur

Die Regierung will offenbar der Wirtschaft helfen, indem sie mit billiger Kohle die Energiepreise drückt. Die Förderung soll in diesem Jahr um sieben Prozent steigen, berichtet die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf Medienberichte. Das sind 300 Millionen Tonnen mehr als im Vorjahr. Dabei handelt es sich seit 2020 um den zweiten hohen Anstieg in Folge. Im Rahmen der Konjunkturförderung sei auch der Bau neuer Kohlekraftwerke geplant.

Den Ausstieg aus fossilen Energieträgern hebt sich die Führung offenbar für Jahre ohne Krisen und Probleme auf. China hat sich ohnehin nie zu einem gleichmäßigen Abbau der Kohleförderung verpflichtet, sondern nur ihren Höhepunkt für das Jahr 2030 in Aussicht gestellt. fin

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EU und USA prangern Desinformation in Ukraine-Krieg an

Die Europäische Union und die USA haben China wegen der mutmaßlichen Verbreitung von “Desinformationen” über die russische Invasion in der Ukraine kritisiert und davor gewarnt, dass eine stillschweigende Unterstützung Moskaus nicht ohne Folgen bleiben werde. “Staatsmedien haben die Lügen und Verschwörungstheorien des Kremls nachgeplappert, einschließlich absurder Behauptungen, dass die Ukraine, die Nato und die EU eine Sicherheitsbedrohung für Russland darstellen”, beklagte die stellvertretende US-Außenministerin Wendy Sherman zum Ende ihrer mehrtägigen Gespräche mit hochrangigen EU-Vertretern in Brüssel. Dabei ging es neben Chinas Rolle im Ukraine-Krieg unter anderem auch um Themen wie Taiwan, den wirtschaftlichen Druck vonseiten Pekings und den Indo-Pazifik, wie aus einer gemeinsamen Erklärung hervorging.

Beide Seiten setzten sich das Ziel, die chinesische Führung bei Gesprächen in der Frage der Umgehung der Russland-Sanktionen auf den Zahn zu fühlen. Eine Umgehung der Strafmaßnahmen hätte “Konsequenzen für unsere jeweiligen Beziehungen”. Wie die Konsequenzen konkret aussehen, erklärten beide Seiten nicht. Auch die Frage, ob die EU und die USA dabei dieselben Vorstellungen haben, blieb bei einer Pressekonferenz von Sherman und dem Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Stefano Sannino, unbeantwortet.

Taiwan zeigte indes Unterstützung für die Ukraine: Der taiwanische Außenminister Joseph Wu telefonierte mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. “Der Kampfgeist des Bürgermeisters von Kiew ist bewundernswert. Champ, wir werden Ihnen und Ihren Leuten weiterhin zur Seite stehen. Die Freiheit wird siegen!”, schrieb Wu auf Twitter. ari

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Presseschau

Kampf gegen Pandemie in China: Behörden sehen “düstere” Zeiten für Peking ZDF
Beijing races to contain ‘urgent and grim’ Covid outbreak as Shanghai lockdown continues CNN
Corona-Ausbruch in China: Shanghai meldet Höchstwert trotz Lockdown BAZ
VW könnte in China wegen Corona-Lockdowns abermals Ziele verfehlen FAZ
Folgen der chinesischen Lockdowns: Staus und Stillstand an Shanghais Hafen GENERAL ANZEIGER
Das China-Dilemma der deutschen Wirtschaft SÜDDEUTSCHE
Finanzministerin Yellen: USA prüfen Abschaffung von Trumps China-Zöllen HANDELSBLATT
Autonomer Taxi-Dienst: Pony.ai bekommt Lizenz in China T3N
Chinesische Konzerne wollen offenbar die Anteile von Shell an russischem Erdgas-Projekt übernehmen BUSINESS INSIDER
USA warnen Inselstaat: Plant China eine dauerhafte Militärpräsenz auf den Salomonen? RND
Scott Morrison says Chinese military base in Solomon Islands would be ‘red line’ for Australia ABC AUSTRALIA
Chinesische Militärflugzeuge in Serbien: Raketen an Bord? BERLINER ZEITUNG
“Nicht akzeptabel”: Baerbock sichert Litauen Beistand im Konflikt mit China zu MERKUR
Null-Toleranz im Lockdown: Chinesische User wehren sich gegen Internet-Zensur SRF
Hong Kong’s Next Chief Executive Booted From YouTube VOA NEWS
Some Chinese State Banks to Cut Deposit Rates Monday BLOOMBERG

Portrait

Ulrich Ackermann – der Krisenberater

Ulrich Ackermann, VDMA-Leiter für Außenwirtschaft, würde sehr gerne mal wieder nach China reisen
Ulrich Ackermann, VDMA-Leiter für Außenwirtschaft, würde sehr gerne mal wieder nach China reisen

“Ich habe gehofft, dass wir nach zwei Jahren Corona jetzt mal in ruhigeres Fahrwasser kommen”, gesteht Ulrich Ackermann. Es kam anders. Seine Abteilung Außenwirtschaft beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hat momentan besonders viel zu tun. Aktuell die zentralen Themen: die Sanktionen gegen Russland und die Implikationen, auch für den Handel mit China. Bei Ackermann und seinem Team können sich die mehr als 3.400 Mitgliedsunternehmen melden, wenn sie Fragen haben zu Zöllen, Export-Regeln oder Rahmenbedingungen auf ausländischen Märkten.

Mittelständische Unternehmen schätzen VDMA Expertise

“Im Endeffekt sind wir eine Art Beratungsunternehmen für unsere Mitglieder in allen Fragen rund um die Themen Export und Außenwirtschaft”, beschreibt Ackermann seine Aufgabe. Und an Anfragen mangelt es nicht. Gerade bekam der 63-Jährige einen Anruf eines Mitgliedsunternehmens, das dringend einen neuen Stahllieferanten sucht, der Markt sei wie leergefegt. “Wer weiß denn schon, dass 20 Prozent der in Westeuropa verarbeiteten Stahlbrammen aus Russland und der Ukraine kommen?”, fragt Ackermann. Für Nicht-Expert:innen: Eine Bramme ist ein gegossener, länglicher Block. 

Vor allem die vielen mittelständischen Unternehmen der Branche schätzten die Expertise des VDMA. 15 Expert:innen für die Regionen der Welt und alle relevanten Sachthemen sitzen in seiner Abteilung in Frankfurt am Main. Zusätzliche Unterstützung bekommen sie aus dem Berliner Standort und den VDMA-Auslandsbüros, darunter auch zwei in China. Das Land ist extrem wichtig für die Branche, 2020 lieferten deutsche Unternehmen dorthin Maschinenbau-Produkte im Wert von über 18 Milliarden Euro. Sanktionen gegen China hätten enorme Auswirkungen.

Stabilität als Fundament für Freihandel und Wohlstand

Mit Sorge blickt Ackermann deshalb auf das Verhalten Xi Jinpings gegenüber Putin, aber auch auf das Verhältnis zu Taiwan. “Freihandel setzt einfach stabile Rahmenbedingungen voraus”, sagt der gebürtige Frankfurter. Märkte faszinieren ihn seit Jahrzehnten. Schon seine Diplomarbeit in Volkswirtschaftslehre schrieb Ackermann 1986 über eine mögliche Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs. Direkt im Anschluss landete er beim VDMA, beschäftigte sich dort mit dem damals entstehenden EG-Binnenmarkt. Seit 2005 steuert er nun die Außenwirtschaftsabteilung durch unsichere Zeiten.

Unsicherheit präge aktuell auch den chinesischen Markt. Durch die strengen Coronavirus-Einreiseregeln seien besonders kleine und mittelständische Firmen in ihrem Geschäft eingeschränkt. “Viele sagen uns, wir verlieren gerade ein Stück weit den Zugang zum Markt”, verrät er. “Es geht nichts darüber, wirklich vor Ort zu sein.” Er möchte selbst unbedingt bald wieder nach China fahren. Die landschaftlich schönen Regionen habe er sich bisher aufgehoben. “Touristisch war ich noch nie in China unterwegs, dafür kenne ich die Industriegebiete sehr gut”, erzählt er schmunzelnd. Paul Meerkamp

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Personalien

Helen Huang wird neue Geschäftsführerin China bei dem britischen Finanzdienstleister Fidelity International. Huang war bisher CEO bei Hwabao WP Fund Management.

Johannes Nippgen ist seit Anfang März neu als Chief Medical Officer bei Ionova Life Science in Guangzhou-Foshan. Nippgne war zuvor in der gleichen Position bei Alphamab Oncology tätig.

Imann Knieps-Chen ist seit Anfang des Monats neue Area-Managerin für China bei der Medentis Medical GmbH in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Sie war zuvor in der China-Abteilung der International Sales tätig.

Zur Sprache

“Faulpelzwirtschaft”

 Faulpelzwirtschaft: Didi-Ruftaxi oder Kuaidi-Express sind nur wenige der Dienste, die das Leben einfach machen.
懒人经济 – lǎnrén jīngjì – “Faulpelzwirtschaft”

Nach der Arbeit heim, Füße hoch und nur noch bedienen lassen? Das geht nicht nur im Hotel Mama, sondern mittlerweile auch in der chinesischen Großstadt. Vorausgesetzt, man hat ein bisschen (digitales) Kleingeld parat und ist bereit, es auszugeben. “Faulpelzwirtschaft” heißt der boomende Dienstleistungssektor, der das möglich macht. Warum die Dinge nicht einfach mal beim Namen nennen? Auf Chinesisch heißt die neue Sparte nämlich wirklich 懒人经济 lǎnrén jīngjì (懒人 lǎnrén “Faulpelz/fauler Mensch” + 经济 jīngjì “Wirtschaft”). 

Die üblichen Verdächtigen der urbanen Servicelandschaft im Reich der Mitte – nämlich der Drückeberger-Dreiklang aus Didi-Ruftaxi, Waimai-Lieferservice und Kuaidi-Expresszustellung – sind dabei nur die Spitze des Couch-Potato-Eisbergs.

Zu beliebten Blüten der Faulpelzwirtschaft zählen auch noch stadtweite Laufburschen-Dienste (同城配送 tóngchéng pèisòng) etwa für dringend benötigte Dokumente, vergessene Schlüssel oder kleine Last-Minute-Geschenke (natürlich werden nur die letzten Meter oder Stufen der Strecke tatsächlich gelaufen, der Rest läuft über knatternde Motorräder beziehungsweise wendige Elektroroller). Und fremde Beine lassen sich zudem auch engagieren, wenn das Lieblingsrestaurant oder die Lieblingsmilchteebude außerhalb der üblichen Standardreichweite der gängigen Essensliefer-Apps liegt. Sogenannte “Rennende Beine” (跑腿 pǎotuǐ) übernehmen dann gegen einen kleinen Aufpreis die zusätzlichen Meter.

Lust auf gesunde Hausmannskost, aber zu faul, groß das Küchenmesser zu schwingen? Kein Problem. Flinke Fingerkuppen am Smartphone genügen in China, um sich gewaschenes und vorgeschnittenes Gemüse sowie allerlei weitere Wok-fertige Zutaten im Handumdrehen nach Hause liefern zu lassen. Wem auch das zu viel ist, der bestellt sich den Privatkoch einfach gleich mit. Praktischerweise bringt der selbst die nötigen Kochutensilien und macht in der Regel am Schluss auch noch den Abwasch. Oder haben Sie vielleicht spontan Lust auf ein Hotpot-Menü in den eigenen vier Wänden? Well – große Feuertopfketten in China wie Haidilao (海底捞 Hǎidǐlāo) bieten für notorische Nichtstuer auch hier ein Rundum-sorglos-Paket. Vom Dipp bis zum Fleischröllchen, von der Schöpfkelle bis zur Elektroheizplatte wird alles geliefert und nach dem Fressgelage dann am selben oder Folgetag auch wieder eingesammelt. Essen muss man aber natürlich noch selbst.

Fauler geht’s nimmer, sagen Sie jetzt? Unterschätzen Sie bitte nicht den Erfindungsreichtum chinesischer Produktvermarkter. Die nämlich haben die monetäre Schwerkraft des Faulstrick-Segments natürlich längst erkannt und werfen seit geraumer Zeit neue Faulpelz-Köder in die Pantoffel-Arena. Allen voran: selbst erhitzende Fertiggerichte (自热方便食品 zìrè fāngbiàn shípǐn). Schnöde Instantnudeln waren gestern. Heute zaubern Großstadt-Faultiere mit ein bisschen aufgekochtem Wasser selbst dampfende Gerichte-Klassiker aus der Schale, zum Beispiel Reis mit Kungpao-Hähnchenwürfeln (宫保鸡丁 Gōngbǎo-jīdīng) oder duftendes Schweinegeschnetzeltes (鱼香肉丝  Yúxiāng-ròusī). Ein Chemikalienbeutelchen, das beim Kontakt mit Flüssigkeit Hitze freisetzt, macht’s möglich. Mit seiner Hilfe werden die Zutaten in der Plastikschale in wenigen Minuten mundreif gegart, ganz ohne Mikrowelle.

Weitere Unternehmen, die ein Stück vom Müßiggänger-Kuchen abhaben wollen, sind die Hersteller smarter Haushaltsgeräte (智能家用电器 zhìnéng jiāyòng diànqì). Sie sorgen dafür, dass sich Pantoffelhelden nicht einmal mehr nach der Fernbedienung recken oder die Chipkrümel vom Boden fegen müssen. Ersteres erübrigt sich dank intelligenter Geräte mit Sprachsteuerung, letzteres übernimmt ohne Klagen der Reinigungsroboter.

Das Bummelantentum brummt übrigens vor allem unter der jungen, Smartphone-affinen Klientel im entwickelten Osten Chinas (es gibt Statistiken zufolge ein deutliches Alters- und Ost-West-Gefälle).

Was die umgangssprachlichen Bezeichnungen für faule Zeitgenossen angeht, sind die Chinesen allerdings alles andere als mundfaul. Es gibt eine ganze Reihe von Faulpelz-Synonymen, die durch ihren bildlichen Charakter bestechen. Sie reichen vom “Faulgeist” (懒鬼 lǎnguǐ) und “faulen Ei” (懒蛋 lǎndàn) über den “faulen Wurm” (懒虫 lǎnchóng) und die “Faulkatze” (懒猫 lǎnmāo) bis hin zum “faulen Knochen” (懒骨头lǎn gǔtou). 

Danke, dass Sie wenigsten nicht zu faul waren, diesen Text bis zum Ende zu lesen. Jetzt haben wir uns aber erst mal ein Päuschen verdient – bis zur nächsten Sprachkolumne.   

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

  • Gesellschaft

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Chinas Medienzensoren haben einen ganz kurzen Zünder. Unliebsame Posts und Kommentare in Sozialmedien sind oft innerhalb von Minuten wieder verschwunden. Unerwünschte Narrative finden in der täglichen Berichterstattung der chinesischen Medien gar nicht statt, oder nur sehr am Rande. Zuletzt war das bei der russischen Invasion in der Ukraine zu beobachten. 

    Im Interview mit China.Table erklärt die Sinologin Mareike Ohlberg, wie gebildete Chinesen trotzdem an Nachrichten aus dem Ausland kommen und aus welchen Quellen sich ihr Weltbild speist. Andere befürworten wiederum die Kontrolle der Medien. Zensur ist aus ihrer Sicht notwendig für die soziale Ordnung. Für die Partei ist die Medienzensur dennoch auch ein Problem, sagt Ohlberg im Gespräch mit Fabian Peltsch. “Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst.”

    Ein Paradebeispiel mühsamer Zensur spielte sich auch an diesem Wochenende ab. In den Sozialmedien wird der Ton mit jedem weiteren Tag des Corona-Lockdowns in Shanghai immer rauer – die Nutzer:innen werden aber auch immer kreativer, um die staatlichen Löscher und Blocker zu umgehen, wie unsere Kollegen aus China berichten. Ein Video erreichte am Samstag und Sonntag besondere Aufmerksamkeit: “Stimme des April”. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie in unserer Analyse.

    Die Lockdowns und Aufrechterhaltung der Versorgung während der Null-Covid-Politik erschwert derzeit Logistikern die Arbeit in der Volksrepublik. Über die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen und des Ukraine-Kriegs auf die Lieferketten berichten die AHK Hongkong und die Port of Hamburg Marketing in einer Panel-Diskussion am Donnerstag (28.4.). China.Table ist Medienpartner: Unsere Abonnenten können kostenlos an dem Webinar “Rethinking Global Supply Chains – Navigating Complex Challenges in 2022 and Beyond” teilnehmen. Als Lizenznehmer erhalten Sie dazu im Laufe des heutigen Montags eine separate E-Mail.

    Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die Woche!

    Ihre
    Amelie Richter
    Bild von Amelie  Richter

    Interview

    “Auch für die Partei ist die Medienzensur ein Problem”

    Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums.
    Sinologin Mareike Ohlberg

    Frau Ohlberg, die pro-russische Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hat wieder mal gezeigt, wie einseitig chinesische Staatsmedien ihr Narrativ verbreiten. Wir im Westen glauben gerne, dass die gebildeten Chinesen wissen, dass sie da Propaganda serviert bekommen.

    Es ist eine Sache, zu wissen, dass Nachrichten gefiltert werden und man Propaganda gefüttert bekommt, und eine andere, nicht trotzdem dem Narrativ einen gewissen Glauben zu schenken. Natürlich wissen viele Chinesen, wie die eigenen Medien gemacht werden.  

    Fühlen sie sich nicht bevormundet? 

    Es gibt die einen, die sagen, “ja, das ist nervig”, aber sie nehmen es hin und werden dann doch auf die eine oder andere Art davon beeinflusst. Andere schenken anderen Quellen mehr Glauben, seien es ausländische Medien oder “alternative” chinesische Medien. Es gibt aber auch Chinesen, die die Medienzensur verteidigen. Das Argument ist mir das eine oder andere Mal an chinesischen Unis begegnet. Dort argumentieren eher regimekonforme Akademiker, Zensur sei notwendig für die soziale Ordnung und das Gemeinwohl. Das elitäre Denken einiger tendiert manchmal sogar in die Richtung, zu behaupten: Ihre Mitbürger in China seien unfähig oder nicht gebildet genug, um verantwortungsvoll mit der Wahrheit oder dem vollen Spektrum an Informationen umzugehen – oder auch eigene Parteien demokratisch zu wählen.  

    Was lesen solche gebildete Chinesen denn, um an breit gefächerte Informationen über Politik aus dem Ausland zu kommen? 

    Das ist natürlich eine große Gruppe an Menschen und dementsprechend gibt es Unterschiede, wie sich Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen informieren. Einige haben durchaus Zugang zu Nachrichten aus dem Ausland, sei es über einen VPN-Kanal oder weil sie im Ausland leben. Diese werden dann gegebenenfalls parallel zu offiziellen chinesischen Medien sowie häufig auch nicht-offiziellen chinesischen Medien mit Sitz im Ausland gelesen. Ein Phänomen, das chinesische Informationskreise jedoch sehr stark prägt, sind WeChat-Informationsblasen. Über WeChat bleibt man mit Freunden und Bekannten im Kontakt, ähnlich wie über WhatsApp, aber es ist auch eine Nachrichtenquelle beziehungsweise die Hauptnachrichtenquelle für viele Menschen, inklusive Chines:innen im Ausland. Welche Nachrichten man über WeChat konsumieren kann, unterliegt wiederum in der Regel Zensurvorgaben und Filtern der chinesischen Regierung. Die Administratoren müssen heute ganz genau Rechenschaft darüber ablegen, was in ihren Gruppen passiert. Vor ein paar Jahren gab es noch etwas mehr Freiräume.  

    Welchen Spielraum haben chinesische Medien, um vom offiziellen Partei-Narrativ abzuweichen? 

    Es gibt Medien, die immer mal wieder Freiräume finden, um etwas unabhängiger zu berichten. Man sah das zu Beginn der Pandemie, als Caixin recht frei und engagiert guten, investigativen Journalismus und eine klasse Berichterstattung vor Ort betrieben hat. Es gibt dieses Potenzial weiterhin, es kann jedoch häufig nur begrenzt genutzt werden. Je nach Medienkontrolle tun sich Fenster auf, die sich aber leider immer sehr schnell wieder schließen.  

    Warum finanziert der Staat auf der einen Seite diesen riesigen Zensurapparat und geht auf der anderen Seite nicht entschiedener gegen die Verwendung von VPN-Kanälen vor, mit denen man doch recht unkompliziert ausländische Nachrichten lesen kann? 

    Das hat sicher mit den Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland zu tun. Viele ausländische Unternehmen nutzen VPNs und wollen auch nicht unbedingt auf einen staatlich zur Verfügung gestellten Kanal zurückgreifen. Wenn man VPN kategorisch verbieten beziehungsweise blockieren würde, hätte das auch Auswirkungen auf die Auslands- und Wirtschaftsbeziehungen.

    Gleichzeitig ist es der Partei gut gelungen, die Bevölkerung ohne Pauschalverbot davon abzuhalten, VPNs zu benutzen. Dabei setzt man zum Beispiel auf Abschreckung: Immer wieder werden einzelne Menschen verhaftet und verurteilt, meistens solche, die VPNs zur Verfügung stellen beziehungsweise verkaufen. Viele Chinesen denken, VPNs sind illegal, was so nicht richtig ist. Aber was erlaubt ist und was nicht, wird bewusst vage kommuniziert.

    Es ist die alte Geschichte: Man weiß nicht, woran man ist. Und wenn der öffentliche Sicherheitsapparat einem Schwierigkeiten bereiten will, findet er sicher auch irgendwo einen Grund. Deshalb kann ich schon verstehen, wenn manche lieber vorsichtig sind. Vor allem aber glaube ich nicht, dass die Informationsbeschaffung über VPN-Kanäle eine Auswirkung auf die breite Masse hat, solange die Möglichkeiten, diese Informationen auch im öffentlichen Raum in China weiter diskutieren zu können, so stark eingeschränkt sind.  

    Darf die Parteielite ganz offiziell VPN-Kanäle benutzen? 

    Bestimmte Regierungsabteilungen beziehungsweise Unterabteilungen, denen vertraut wird und die für ihren Job Zugang zum ungefilterten Internets benötigen, haben auch ohne VPN Zugang zum westlichen Internet. Es gibt zum Beispiel Leute im Staatsapparat, deren Aufgabe es ist, die Medien im Ausland gezielt zu beobachten und zusammenzufassen, was dort diskutiert wird. Während des Ausbruchs der sogenannten Jasmin-Proteste 2011 hatte ich selbst ein Youtube-Video ins Netz gestellt. Die Hälfte der Klicks kam aus China. Andere haben ähnliches beobachtet.

    Das deutet darauf hin, dass bestimmte Regierungsstellen über direkte Leitungen Zugriff haben. Hätten sie einen VPN benutzt, wäre als Ursprungsland des Clicks nicht China aufgetaucht, sondern der Standort des jeweiligen VPN-Servers, der genutzt wird, um die Zensur zu umgehen. Hinzu kommen Medienagenturen wie Xinhua, die Pressespiegel für die politische Elite erstellen. Je höher die Kader in der Rangordnung sind, umso größer ist meistens die Schrift, weil die dann meistens schon recht alt sind (lacht).   

    Medien wie New York Times oder Spiegel übersetzen Enthüllungsgeschichten aus China gerne ins Chinesische. Hat das einen Effekt in China?  

    Grundsätzlich kommt alles irgendwo an. Ich glaube aber nicht, dass solche Nachrichten eine kritische Masse erreichen. Diese wird in der Regel erst dann erreicht, wenn Menschen sich organisieren, gegenseitig austauschen, einen gemeinsamen öffentlichen Raum haben. Aber im Moment bewegen wir uns in die Gegenrichtung: Der Zugang wird immer schwieriger und sämtliche Kanäle, über die man sich austauschen kann, werden immer stärker kontrolliert.

    In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” schreiben Sie, dass Peking die Medienzensur nicht ewig beibehalten will.

    Für die Partei ist die Medienzensur auch ein Problem: Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst. Als langfristiges Ziel will Peking seine globale Diskursmacht ausbauen. Wenn das Ausland Pekings Narrativ folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee. Das ist jedoch ein bisschen wie mit der Auflösung des Staates bei Marx, also ein Ziel in sehr, sehr ferner Zukunft. Derzeit wird die Zensur weiterhin ausgebaut und das wird auch noch lange der Fall bleiben.

    Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums. Ihre Schwerpunkte liegen in der chinesischen Außenpolitik, der Medien- und Digitalpolitik sowie den Entwicklungen in Hongkong und Taiwan.

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    Analyse

    Lockdown-Frust macht Netizens kreativ

    Der Lockdown in Shanghai geht in die vierte Woche. Viel vom Unverständnis und dem Ärger der Großstädter findet seinen Weg auf Sozialplattformen. An diesem Wochenende verbreiteten sich nun besonders viele kritische Inhalte – die zum Teil so clever gestaltet waren, dass die Zensur mit dem Löschen nicht hinterherkam.

    Besonders ein Video machte am Samstag und Sonntag die Runde. Der kurze Film trägt den Titel “Stimme des April” (四月之声). Er besteht aus Drohnenaufnahmen der Stadt, über die neben Textanimationen auch unterschiedliche Soundbites und mutmaßlich mitgeschnittene Telefongespräche gelegt wurden. Zu traurig anmutender Musik beklagen sich Menschen (mutmaßlich im Originalton) über Nahrungsmittelmangel oder machen ihrem Unmut über die Maßnahmen und deren schlechter Organisation Luft.

    Die Kommentare werden unverblümter und giftiger

    Das Video durchlief dann die üblichen Phasen der Videozensur. Es wurde prompt auf die Liste zensierter Inhalte gesetzt. Als nächstes entstanden abgeänderte Versionen, wie zum Beispiel hochformatige, spiegelverkehrte oder abgefilmte Fassungen. Oft nutzten die Netzbürger auch andere Bilder als Thumbnails, wie beispielsweise einen Batman-Schriftzug oder drei Mobiltelefone, die nebeneinander liegen. Alles, um den Zensuralgorithmen zu entgehen. Am Ende blieb das alles erfolglos, weil eben auch ein Heer menschlicher Kontrolleure auf die Inhalte schaut.

    Ein anderer Beitrag macht dann die Sperrung selbst zum Inhalt. Im Thumbnail des Videos ist die Seite zu sehen, die angezeigt wird, wenn ein Inhalt bereits geblockt wurde. “Dieser Beitrag kann vorübergehend nicht angesehen werden”, steht dort in englischer oder chinesischer Sprache. Wenn man dieses Video dann versucht zu starten, ist es ironischerweise selbst geblockt und der Zuschauer bekommt genau den Schriftzug gezeigt, den das Video ohnehin angezeigt hätte.

    Die Kommentare von Nutzern zu Posts werden derweil immer giftiger. Es tauchen immer öfter Äußerungen auf wie: “Löschen, löschen, löschen…” oder “Traut euch doch, auch das hier zu löschen”. Ein anderer Netizen veröffentlichte den Satz: “Zehn Menschen, die einen Schritt gehen, sind stärker als ein Mensch, der zehn Schritte geht” (十个人的一步,比一个人的十步强).

    Gedichte und Musicals als scheinbar unverfängliche Inhalte

    Viele Netizens nehmen die allzu offensichtliche Zensur derweil mit guten Argumenten aufs Korn. Zum einen fragen einige von ihnen öffentlich, was denn an “Stimme des April” genau das Problem sei. Schließlich hat der Clip nicht wirklich Stimmung gegen die Regierung gemacht, sondern nur reale Probleme vor Ort dokumentiert.

    Andere werden beim Inhalt kreativ, um den Zensoren die Arbeit zu erschweren. Hier setzen sie auf die Taktik, Inhalte zu posten, deren doppelte Bedeutung sich glaubwürdig leugnen lässt. Ein Profilbild beispielsweise mit einem sehr blauen Himmel und einem sehr gelben Kornfeld beispielsweise. Auf den ersten Blick sieht es aus wie die ukrainische Fahne, doch genau genommen handelt es sich nur um ein farbgesättigtes Landschaftsbild.

    Ähnlich gehen die Netizens mit Posts über Shanghai um. Oft greifen sie dabei auf Ausschnitte aus Hollywoodfilmen zurück. Ein Video zitiert einen Ausschnitt aus dem Film Interstellar, in dem ein Raumschiff abhebt und die Erde verlässt. Zu hören ist Michael Caine, wie er ein Gedicht von Dylan Thomas zitiert: “Wüte, wüte gegen das Sterben des Lichts” (“Rage, rage against the dying of the light”). Die Zeilen sind per Untertitel ins Chinesische übersetzt.

    Wut ist auch in einem anderen Video ähnlicher Machart das zentrale Thema. Dieses Video ist ein Ausschnitt aus dem Film Les Miserables. Der Text geht hier: “Hörst du die Leute singen? Wie sie das Lied der verärgerten Menschen singen?” (“Do you hear the people sing, sing the songs of angry men?”) – ein Protestmarsch, der im Film direkt vor der Juni-Revolution 1832 gesungen wird.

    China zensiert sogar die eigene Nationalhymne

    Die schwierige Frage für die Behörden ist nun, ob es sich bei den Videos um Protestaufrufe handelt oder nicht. Es könnten ja auch einfach nur Ausschnitte aus beliebten Hollywoodfilmen sein. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum diese Videos zur Stunde noch sichtbar sind.

    Auch in den letzten Wochen haben die Netizens schon ihre Beschlagenheit gegenüber den Zensoren unter Beweis gestellt und damit ein bizarres Ergebnis erzielt. Sie funktionierten kurzerhand die erste Zeile der chinesischen Nationalhymne zur Protestzeile um (“Steht auf, wir wollen keine Sklaven mehr sein” (起来不愿做奴隶的人们) und brachten damit die Zensoren in eine Zwickmühle. Es blieb nur die Möglichkeit, entweder die eigene Nationalhymne zu zensieren oder die Aufrufe zum Ungehorsam gegen die Coronavirus-Maßnahmen stehenzulassen. Die Zensoren bewiesen Entschlossenheit. Die Zeile wurde aus Weibo verbannt. Gregor Koppenburg/Jörn Petring

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    Zwangsarbeits-Abkommen soll gut Wetter bei der EU machen

    China hat in der vergangenen Woche zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsagentur (ILO) gegen Zwangsarbeit ratifiziert (China.Table berichtete). Der Schritt kam überraschend – seit Jahrzehnten wird mit der Volksrepublik über Zugeständnisse in dem Bereich verhandelt. Denn es handelt sich dabei um zwei altehrwürdige ILO-Übereinkommen:

    Die ILO gehört zu den Vereinten Nationen (UN). Sie besteht schon seit 1919, ist also über hundert Jahre alt. Sie arbeitet darauf hin, den sozialen Rahmen für Arbeiter zu verbessern. Dafür setzt sie vor allem Regeln und Normen. Die Übereinkommen über Zwangsarbeit gehören daher zu den Grundpfeilern ihrer Projekte. Sie ächten “jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat”. Bis zur vergangenen Woche hat China seine Unterschrift verweigert. Kein Wunder in einem Land, das erst 2013 seine Arbeitslager formal geschlossen hat, nur um wenig später in Xinjiang neue zu eröffnen.

    Echte Verbesserungen für die Arbeiter vor Ort erwarten Beobachter auch nun jedoch nicht. Der Schritt sei eine “diplomatische Entscheidung” gewesen, die zu keinen bedeutenden Veränderungen führen werde, sagte Aidan Chau von der Nichtregierungsorganisation China Labour Bulletin gegenüber China.Table. Die in Hongkong sitzende Organisation setzt sich für Arbeitnehmerrechte in der Volksrepublik ein.

    Die Erfahrung zeige, dass China zwar viele Abkommen unterschreibt, die Praxis im Land sich aber nur unwesentlich verändert. So hat China auch das Übereinkommen über Sicherheit im Bauwesen von 1988 ratifiziert, so Chau. “Wir beobachten aber weiterhin, dass Arbeitsunfälle auf Baustellen wie beispielsweise Kran-Einstürze in China weit verbreitet sind.” Große Fortschritte bei den Interessen und Rechten der Arbeiter könne es nur durch Tarifverhandlungen geben, so Chau. Unabhängige Gewerkschaften gibt es in China aber nicht. Andere Formen von Arbeitnehmerorganisationen sind in China ebenfalls schwach aufgestellt.

    Die ILO hat auch kaum Möglichkeiten, die Anwendung der Konventionen zu überprüfen. China weist den Vorwurf der Zwangsarbeit – vor allem in der Region Xinjiang – zurück. Vor-Ort-Untersuchungen durch unabhängige Experten wird Peking kaum zustimmen.

    China will Bachelet bessere Bilanz vorlegen

    Ganz zufällig ist der Zeitpunkt der Ratifizierung nicht gewählt. Im Mai steht erstmals ein Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, in China an – auch in der Region Xinjiang. Mit der Ratifizierung wolle China nun signalisieren, dass der Schutz der Arbeitnehmerrechte ernst genommen wird, sagte Surya Deva, Rechtsprofessor an der Macquarie University in Australien, der Zeitung South China Morning Post.

    Deva zufolge ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die ILO-Konventionen vor Ort die Abschaffung der Zwangsarbeit bewirkt. Peking mache den Schritt aus Kalkül: “um die Beziehungen zur EU angesichts der zunehmenden Kluft mit den USA wegen der russischen Invasion in die Ukraine zu verbessern und zu versuchen, CAI wiederzubeleben”. Dass die Volksrepublik die ILO-Konventionen nicht ratifizieren wollte, war bislang einer der Hauptkritikpunkte an dem Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und China (CAI).

    Dieser Kritikpunkt ist zwar ausgeräumt, aber das allein reicht eben nicht. CAI liegt seit mehr als einem Jahr auf Eis. Ausschlaggebend waren im März 2021 gegenseitige Sanktionen. Brüssel hatte diese wegen Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren gegen mehrere führende Beamte in Xinjiang verhängt. Peking reagierte mit Strafmaßnahmen unter anderem gegen EU-Abgeordnete.

    Brüssel: Keine Aussicht auf Fortschritt bei CAI

    Könnte die Zustimmung zu den Abkommen nun Bewegung in das CAI-Patt bringen? Eher nein. “Die Ratifizierung der ILO-Konventionen ist zwar eine große Geste Pekings gegenüber Brüssel, beseitigt aber nicht die Haupthindernisse für die CAI-Ratifizierung”, sagt Merics-Analyst Grzegorz Stec. CAI bleibe wegen ganz anderer Hindernisse weiterhin blockiert: wegen der gegenseitigen Sanktionen und des Handelsstreits um Litauen. “Keines dieser Probleme dürfte auf absehbare Zeit gelöst werden, auch im Kontext der politischen Spannungen um die Ausrichtung Pekings mit Moskau”, so Stec.

    Peking scheine sich gegenüber der EU in einem “Schadensbegrenzungsmodus” zu befinden. Der EU-China-Gipfel lief nicht sonderlich gut (China.Table berichtete). Auch die ILO-Abkommen helfen Stec zufolge derzeit nicht viel. Der Fokus der EU-China-Beziehungen verschiebe sich vermehrt in Richtung “systemische Rivalität”. Für die Führung in Peking könnte es schwierig werden, die Beziehung zu Brüssel zu verbessern, erklärt Stec.

    Auch vom EU-Handelskommissar kam eine klare Absage an Fortschritte bei der Anwendung des CAI wegen der Ratifizierung der ILO-Konvention. Die EU messe der ILO zwar große Bedeutung bei und begrüße den Schritt. Aber solange die Sanktionen gegen EU-Parlamentarier in Kraft seien, werde CAI nicht wiederbelebt.

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    Massentest in Peking: Vorbote eines Lockdowns?

    Die Einwohner und Arbeitnehmer im Pekinger Stadtbezirk Chaoyang müssen in dieser Woche drei Corona-Tests absolvieren. Die Abstrichproben sind am Montag (25.4.), Mittwoch (27.4.) und Freitag (29.4.) abzugeben. “Mehrere Ausbrüche der Pandemie im Bezirk Chaoyang gelten als Anzeichen für verdeckte Übertragungen”, lautet die Begründung der Behörden.

    Am Samstag hat die Stadt Peking 22 neu aufgefundene Infektionen gemeldet. Chaoyang hat 3,5 Millionen Einwohner. Solche Massentests gehen in der Regel einem Lockdown voraus. Wegen der leichten Übertragbarkeit der Omikron-Variante des Coronavirus fanden sich bei einem vergleichbaren Massentest in Shanghai zahlreiche Fälle, die ohne Symptome verlaufen waren. Sie galten als Begründung für die bis heute geltenden Ausgangssperren.

    Shanghai: Räumung ganzer Distrikte “zur Desinfektion”

    Die Regierung in Shanghai wird einem Bericht der BBC zufolge weitere Distrikte in andere Städte evakuieren. Die Einwohner sollen dort dann in Quarantänezentren leben. Die Gesundheitsbehörden müssen ihre Wohnblocks angeblich besonders gründlich desinfizieren. Shanghai hat mit dieser Praxis bereits in der vergangenen Woche begonnen.

    Die Bewohner sind beunruhigt. “Ich mache mir vor allen Dingen Sorgen, was mit meiner Katze passiert, wenn ich umgesiedelt werde”, schreibt eine Shanghaierin auf Sozialmedien. “Wir bekommen hier zwar gesagt, dass sich jemand um die Tiere kümmern würde, aber bei dem, was früher schon mit Haustieren passiert ist, mache ich mir trotzdem Sorgen.”

    Damit spricht sie die Vorfälle an, bei denen Männer in weißen Schutzanzügen die Haustiere kurzerhand totgeschlagen haben, nachdem die Anwohner in Quarantäne verbracht wurden. gk/fin

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    Kohle als Mittel gegen schwache Konjunktur

    Die Regierung will offenbar der Wirtschaft helfen, indem sie mit billiger Kohle die Energiepreise drückt. Die Förderung soll in diesem Jahr um sieben Prozent steigen, berichtet die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf Medienberichte. Das sind 300 Millionen Tonnen mehr als im Vorjahr. Dabei handelt es sich seit 2020 um den zweiten hohen Anstieg in Folge. Im Rahmen der Konjunkturförderung sei auch der Bau neuer Kohlekraftwerke geplant.

    Den Ausstieg aus fossilen Energieträgern hebt sich die Führung offenbar für Jahre ohne Krisen und Probleme auf. China hat sich ohnehin nie zu einem gleichmäßigen Abbau der Kohleförderung verpflichtet, sondern nur ihren Höhepunkt für das Jahr 2030 in Aussicht gestellt. fin

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    EU und USA prangern Desinformation in Ukraine-Krieg an

    Die Europäische Union und die USA haben China wegen der mutmaßlichen Verbreitung von “Desinformationen” über die russische Invasion in der Ukraine kritisiert und davor gewarnt, dass eine stillschweigende Unterstützung Moskaus nicht ohne Folgen bleiben werde. “Staatsmedien haben die Lügen und Verschwörungstheorien des Kremls nachgeplappert, einschließlich absurder Behauptungen, dass die Ukraine, die Nato und die EU eine Sicherheitsbedrohung für Russland darstellen”, beklagte die stellvertretende US-Außenministerin Wendy Sherman zum Ende ihrer mehrtägigen Gespräche mit hochrangigen EU-Vertretern in Brüssel. Dabei ging es neben Chinas Rolle im Ukraine-Krieg unter anderem auch um Themen wie Taiwan, den wirtschaftlichen Druck vonseiten Pekings und den Indo-Pazifik, wie aus einer gemeinsamen Erklärung hervorging.

    Beide Seiten setzten sich das Ziel, die chinesische Führung bei Gesprächen in der Frage der Umgehung der Russland-Sanktionen auf den Zahn zu fühlen. Eine Umgehung der Strafmaßnahmen hätte “Konsequenzen für unsere jeweiligen Beziehungen”. Wie die Konsequenzen konkret aussehen, erklärten beide Seiten nicht. Auch die Frage, ob die EU und die USA dabei dieselben Vorstellungen haben, blieb bei einer Pressekonferenz von Sherman und dem Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Stefano Sannino, unbeantwortet.

    Taiwan zeigte indes Unterstützung für die Ukraine: Der taiwanische Außenminister Joseph Wu telefonierte mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. “Der Kampfgeist des Bürgermeisters von Kiew ist bewundernswert. Champ, wir werden Ihnen und Ihren Leuten weiterhin zur Seite stehen. Die Freiheit wird siegen!”, schrieb Wu auf Twitter. ari

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    Presseschau

    Kampf gegen Pandemie in China: Behörden sehen “düstere” Zeiten für Peking ZDF
    Beijing races to contain ‘urgent and grim’ Covid outbreak as Shanghai lockdown continues CNN
    Corona-Ausbruch in China: Shanghai meldet Höchstwert trotz Lockdown BAZ
    VW könnte in China wegen Corona-Lockdowns abermals Ziele verfehlen FAZ
    Folgen der chinesischen Lockdowns: Staus und Stillstand an Shanghais Hafen GENERAL ANZEIGER
    Das China-Dilemma der deutschen Wirtschaft SÜDDEUTSCHE
    Finanzministerin Yellen: USA prüfen Abschaffung von Trumps China-Zöllen HANDELSBLATT
    Autonomer Taxi-Dienst: Pony.ai bekommt Lizenz in China T3N
    Chinesische Konzerne wollen offenbar die Anteile von Shell an russischem Erdgas-Projekt übernehmen BUSINESS INSIDER
    USA warnen Inselstaat: Plant China eine dauerhafte Militärpräsenz auf den Salomonen? RND
    Scott Morrison says Chinese military base in Solomon Islands would be ‘red line’ for Australia ABC AUSTRALIA
    Chinesische Militärflugzeuge in Serbien: Raketen an Bord? BERLINER ZEITUNG
    “Nicht akzeptabel”: Baerbock sichert Litauen Beistand im Konflikt mit China zu MERKUR
    Null-Toleranz im Lockdown: Chinesische User wehren sich gegen Internet-Zensur SRF
    Hong Kong’s Next Chief Executive Booted From YouTube VOA NEWS
    Some Chinese State Banks to Cut Deposit Rates Monday BLOOMBERG

    Portrait

    Ulrich Ackermann – der Krisenberater

    Ulrich Ackermann, VDMA-Leiter für Außenwirtschaft, würde sehr gerne mal wieder nach China reisen
    Ulrich Ackermann, VDMA-Leiter für Außenwirtschaft, würde sehr gerne mal wieder nach China reisen

    “Ich habe gehofft, dass wir nach zwei Jahren Corona jetzt mal in ruhigeres Fahrwasser kommen”, gesteht Ulrich Ackermann. Es kam anders. Seine Abteilung Außenwirtschaft beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hat momentan besonders viel zu tun. Aktuell die zentralen Themen: die Sanktionen gegen Russland und die Implikationen, auch für den Handel mit China. Bei Ackermann und seinem Team können sich die mehr als 3.400 Mitgliedsunternehmen melden, wenn sie Fragen haben zu Zöllen, Export-Regeln oder Rahmenbedingungen auf ausländischen Märkten.

    Mittelständische Unternehmen schätzen VDMA Expertise

    “Im Endeffekt sind wir eine Art Beratungsunternehmen für unsere Mitglieder in allen Fragen rund um die Themen Export und Außenwirtschaft”, beschreibt Ackermann seine Aufgabe. Und an Anfragen mangelt es nicht. Gerade bekam der 63-Jährige einen Anruf eines Mitgliedsunternehmens, das dringend einen neuen Stahllieferanten sucht, der Markt sei wie leergefegt. “Wer weiß denn schon, dass 20 Prozent der in Westeuropa verarbeiteten Stahlbrammen aus Russland und der Ukraine kommen?”, fragt Ackermann. Für Nicht-Expert:innen: Eine Bramme ist ein gegossener, länglicher Block. 

    Vor allem die vielen mittelständischen Unternehmen der Branche schätzten die Expertise des VDMA. 15 Expert:innen für die Regionen der Welt und alle relevanten Sachthemen sitzen in seiner Abteilung in Frankfurt am Main. Zusätzliche Unterstützung bekommen sie aus dem Berliner Standort und den VDMA-Auslandsbüros, darunter auch zwei in China. Das Land ist extrem wichtig für die Branche, 2020 lieferten deutsche Unternehmen dorthin Maschinenbau-Produkte im Wert von über 18 Milliarden Euro. Sanktionen gegen China hätten enorme Auswirkungen.

    Stabilität als Fundament für Freihandel und Wohlstand

    Mit Sorge blickt Ackermann deshalb auf das Verhalten Xi Jinpings gegenüber Putin, aber auch auf das Verhältnis zu Taiwan. “Freihandel setzt einfach stabile Rahmenbedingungen voraus”, sagt der gebürtige Frankfurter. Märkte faszinieren ihn seit Jahrzehnten. Schon seine Diplomarbeit in Volkswirtschaftslehre schrieb Ackermann 1986 über eine mögliche Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs. Direkt im Anschluss landete er beim VDMA, beschäftigte sich dort mit dem damals entstehenden EG-Binnenmarkt. Seit 2005 steuert er nun die Außenwirtschaftsabteilung durch unsichere Zeiten.

    Unsicherheit präge aktuell auch den chinesischen Markt. Durch die strengen Coronavirus-Einreiseregeln seien besonders kleine und mittelständische Firmen in ihrem Geschäft eingeschränkt. “Viele sagen uns, wir verlieren gerade ein Stück weit den Zugang zum Markt”, verrät er. “Es geht nichts darüber, wirklich vor Ort zu sein.” Er möchte selbst unbedingt bald wieder nach China fahren. Die landschaftlich schönen Regionen habe er sich bisher aufgehoben. “Touristisch war ich noch nie in China unterwegs, dafür kenne ich die Industriegebiete sehr gut”, erzählt er schmunzelnd. Paul Meerkamp

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    • Gesundheit
    • Handel

    Personalien

    Helen Huang wird neue Geschäftsführerin China bei dem britischen Finanzdienstleister Fidelity International. Huang war bisher CEO bei Hwabao WP Fund Management.

    Johannes Nippgen ist seit Anfang März neu als Chief Medical Officer bei Ionova Life Science in Guangzhou-Foshan. Nippgne war zuvor in der gleichen Position bei Alphamab Oncology tätig.

    Imann Knieps-Chen ist seit Anfang des Monats neue Area-Managerin für China bei der Medentis Medical GmbH in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Sie war zuvor in der China-Abteilung der International Sales tätig.

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    “Faulpelzwirtschaft”

     Faulpelzwirtschaft: Didi-Ruftaxi oder Kuaidi-Express sind nur wenige der Dienste, die das Leben einfach machen.
    懒人经济 – lǎnrén jīngjì – “Faulpelzwirtschaft”

    Nach der Arbeit heim, Füße hoch und nur noch bedienen lassen? Das geht nicht nur im Hotel Mama, sondern mittlerweile auch in der chinesischen Großstadt. Vorausgesetzt, man hat ein bisschen (digitales) Kleingeld parat und ist bereit, es auszugeben. “Faulpelzwirtschaft” heißt der boomende Dienstleistungssektor, der das möglich macht. Warum die Dinge nicht einfach mal beim Namen nennen? Auf Chinesisch heißt die neue Sparte nämlich wirklich 懒人经济 lǎnrén jīngjì (懒人 lǎnrén “Faulpelz/fauler Mensch” + 经济 jīngjì “Wirtschaft”). 

    Die üblichen Verdächtigen der urbanen Servicelandschaft im Reich der Mitte – nämlich der Drückeberger-Dreiklang aus Didi-Ruftaxi, Waimai-Lieferservice und Kuaidi-Expresszustellung – sind dabei nur die Spitze des Couch-Potato-Eisbergs.

    Zu beliebten Blüten der Faulpelzwirtschaft zählen auch noch stadtweite Laufburschen-Dienste (同城配送 tóngchéng pèisòng) etwa für dringend benötigte Dokumente, vergessene Schlüssel oder kleine Last-Minute-Geschenke (natürlich werden nur die letzten Meter oder Stufen der Strecke tatsächlich gelaufen, der Rest läuft über knatternde Motorräder beziehungsweise wendige Elektroroller). Und fremde Beine lassen sich zudem auch engagieren, wenn das Lieblingsrestaurant oder die Lieblingsmilchteebude außerhalb der üblichen Standardreichweite der gängigen Essensliefer-Apps liegt. Sogenannte “Rennende Beine” (跑腿 pǎotuǐ) übernehmen dann gegen einen kleinen Aufpreis die zusätzlichen Meter.

    Lust auf gesunde Hausmannskost, aber zu faul, groß das Küchenmesser zu schwingen? Kein Problem. Flinke Fingerkuppen am Smartphone genügen in China, um sich gewaschenes und vorgeschnittenes Gemüse sowie allerlei weitere Wok-fertige Zutaten im Handumdrehen nach Hause liefern zu lassen. Wem auch das zu viel ist, der bestellt sich den Privatkoch einfach gleich mit. Praktischerweise bringt der selbst die nötigen Kochutensilien und macht in der Regel am Schluss auch noch den Abwasch. Oder haben Sie vielleicht spontan Lust auf ein Hotpot-Menü in den eigenen vier Wänden? Well – große Feuertopfketten in China wie Haidilao (海底捞 Hǎidǐlāo) bieten für notorische Nichtstuer auch hier ein Rundum-sorglos-Paket. Vom Dipp bis zum Fleischröllchen, von der Schöpfkelle bis zur Elektroheizplatte wird alles geliefert und nach dem Fressgelage dann am selben oder Folgetag auch wieder eingesammelt. Essen muss man aber natürlich noch selbst.

    Fauler geht’s nimmer, sagen Sie jetzt? Unterschätzen Sie bitte nicht den Erfindungsreichtum chinesischer Produktvermarkter. Die nämlich haben die monetäre Schwerkraft des Faulstrick-Segments natürlich längst erkannt und werfen seit geraumer Zeit neue Faulpelz-Köder in die Pantoffel-Arena. Allen voran: selbst erhitzende Fertiggerichte (自热方便食品 zìrè fāngbiàn shípǐn). Schnöde Instantnudeln waren gestern. Heute zaubern Großstadt-Faultiere mit ein bisschen aufgekochtem Wasser selbst dampfende Gerichte-Klassiker aus der Schale, zum Beispiel Reis mit Kungpao-Hähnchenwürfeln (宫保鸡丁 Gōngbǎo-jīdīng) oder duftendes Schweinegeschnetzeltes (鱼香肉丝  Yúxiāng-ròusī). Ein Chemikalienbeutelchen, das beim Kontakt mit Flüssigkeit Hitze freisetzt, macht’s möglich. Mit seiner Hilfe werden die Zutaten in der Plastikschale in wenigen Minuten mundreif gegart, ganz ohne Mikrowelle.

    Weitere Unternehmen, die ein Stück vom Müßiggänger-Kuchen abhaben wollen, sind die Hersteller smarter Haushaltsgeräte (智能家用电器 zhìnéng jiāyòng diànqì). Sie sorgen dafür, dass sich Pantoffelhelden nicht einmal mehr nach der Fernbedienung recken oder die Chipkrümel vom Boden fegen müssen. Ersteres erübrigt sich dank intelligenter Geräte mit Sprachsteuerung, letzteres übernimmt ohne Klagen der Reinigungsroboter.

    Das Bummelantentum brummt übrigens vor allem unter der jungen, Smartphone-affinen Klientel im entwickelten Osten Chinas (es gibt Statistiken zufolge ein deutliches Alters- und Ost-West-Gefälle).

    Was die umgangssprachlichen Bezeichnungen für faule Zeitgenossen angeht, sind die Chinesen allerdings alles andere als mundfaul. Es gibt eine ganze Reihe von Faulpelz-Synonymen, die durch ihren bildlichen Charakter bestechen. Sie reichen vom “Faulgeist” (懒鬼 lǎnguǐ) und “faulen Ei” (懒蛋 lǎndàn) über den “faulen Wurm” (懒虫 lǎnchóng) und die “Faulkatze” (懒猫 lǎnmāo) bis hin zum “faulen Knochen” (懒骨头lǎn gǔtou). 

    Danke, dass Sie wenigsten nicht zu faul waren, diesen Text bis zum Ende zu lesen. Jetzt haben wir uns aber erst mal ein Päuschen verdient – bis zur nächsten Sprachkolumne.   

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

    • Gesellschaft

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