sind die Verhältnisse heute in China schlimmer als während der Kulturrevolution? Im Gesamtbild sicherlich nicht. Annette Schavan erinnert im Interview mit Table.Media daran, dass Deutschland 1972 diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen hat. Willy Brandt war damals deutscher Bundeskanzler und Mao Zedong der Machthaber in China. Dort wurden Professoren als Volksfeinde durch die Straßen getrieben, buddhistische Tempel brannten, die Gesellschaft verrohte. Schavan plädiert nun als Vorsitzende des Deutsch-Chinesischen Dialogforums dafür, an die Denkweise der 1970er-Jahre anzuknüpfen und auch dann mit Peking zu reden, wenn die Verhältnisse dort schwierig sind. Heute haben wir es da immer noch leichter als vor 50 Jahren.
Am Dienstag ist der offizielle Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Es ist einerseits verständlich, dass sich die deutsche Politik von der chinesischen Seite nicht in Feierlaune hineinziehen lassen wollte. Schließlich hat sich China nach der Ukraine-Invasion an die Seite Russlands gestellt, während Deutschland Teil des Energiekriegs wurde. Dazu kamen die Drohungen gegen Taiwan, auf dessen Kosten die China-Diplomatie damals ging. Es ist zugleich bedauerlich, dass dieses Jubiläum in den vergangenen Monaten so gar nicht genutzt wurde, um neue Kanäle zu öffnen. Denn umgekehrt zeigen die aktuellen Krisen, wie wichtig ein Mindestmaß an Verständigung ist, um fatale Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Schavan ist hier übrigens durchaus nicht naiv. Auch Peking sei in der Pflicht, sich auf Deutschland zuzubewegen. “China muss die Strategie der Verschlossenheit beenden und die Zeichen der Öffnung setzen, die es früher gab”, fordert die ehemalige Forschungsministerin im Gespräch mit Felix Lee. Schließlich sind wir weiterhin gegenseitig voneinander abhängig.
Eine Abhängigkeit der heikleren Art beleuchtet unsere heutige Analyse. Der absolute Großteil der hierzulande verwendeten Antibiotika-Wirkstoffe kommt von einer Handvoll chinesischer Hersteller. China kann uns also von der Versorgung mit lebenswichtigen Arzneien abschneiden, schreibt Maria Koepf. Das gibt der Forderung einen Schub, mit Subventionen eine europäische Penicillin-Herstellung zu päppeln. Mehr Unabhängigkeit bei lebenswichtigen Medikamenten wäre kein gefährliches Decoupling, sondern schlicht Klugheit.
Frau Schavan, gibt es zu 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen angesichts der derzeitigen Schwierigkeiten zwischen China und Deutschland wirklich Gründe zu feiern?
Die 50 Jahre haben viele Früchte gebracht. Deshalb gibt es gute Gründe, mit Empathie auf das Verhältnis zu China zu schauen. Ich halte die Einstellung für richtig, die Helmut Schmidt einst sinngemäß formuliert hat: Wir haben es mit einer vier- bis fünftausendjährigen Kultur zu tun, die uns animieren sollte, noch kompetenter in Sachen China zu werden.
Wie würden Sie das momentane Verhältnis Deutschlands zu China beschreiben?
Die Lage ist schwierig und irgendwie auch traurig. Es sind derzeit nicht die Früchte der bisherigen Beziehungen im Blick. Das hat mit der Pandemie zu tun und damit, dass an die Stelle der Neugierde vor allem wechselseitige Skepsis getreten ist. In China wird der Westen als Quelle vielfältiger Gefahren definiert. In Deutschland wird China heute als verschlossen und auch zunehmend aggressiv wahrgenommen. Das ist keine gute Entwicklung.
Ist China unter Xi Jinping nicht tatsächlich aggressiv geworden?
Ja, so empfinden wir das und machen zudem die Erfahrung, dass von chinesischen Gesprächspartnern immer mehr Themen als “innere Angelegenheit” definiert werden und von der Tagesordnung fliegen. Dann aber wird ein Dialog zur Farce. Es ist gut, über gemeinsame Projekte, wie zum Beispiel eine deutsch-chinesische Junge Akademie zu beraten. Realisieren lässt sich das aber nur, wenn Kritik zugelassen und Vertrauen in den Dialog wiederhergestellt wird. Sonst hat das keinen Sinn.
Die Chinesen sagen, dass sich das Verhältnis zum Westen so verschlechtert hat, liege an den USA. Diese haben unter Donald Trump den Handelskrieg angezettelt.
Die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt welche Fehler gemacht hat, steht jetzt nicht im Vordergrund. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu Beginn dieser neuen Dekade unserer Beziehungen vor zentralen Zukunftsproblemen stehen, die wir nur gemeinsam angehen können: Klimaschutz, Biodiversität, Bekämpfung von Armut und Hunger, künftige Pandemien – das alles sind Themen, die global auftreten und globale Antworten brauchen. Das heißt auch: China ist auf uns und wir sind auf China angewiesen.
Aber was ist mit dem systemischen Wettbewerb, von dem neuerdings auch in Europa viel die Rede ist?
Einen systemischen Wettbewerb zwischen China und uns Europäern hat es immer gegeben, der ist überhaupt nicht neu. Auch die Vorstellung, bislang wurden Wirtschaftsbeziehungen gepflegt und jetzt reden wir plötzlich über Menschenrechte, verkennt die Realität. Das Thema Menschenrechte hat in den Beziehungen immer eine Rolle gespielt. 2003 hat Johannes Rau bei seiner Rede an der Universität Nanjing angemahnt, dass die Pflege guter Wirtschaftsbeziehungen und die Achtung von Menschenrechten sich nicht ausschließen. Angela Merkel hatte gleich zu Beginn ihrer Amtszeit den Dalai Lama empfangen. Dafür wurde sie von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder scharf kritisiert. Merkel hat bei ihren vielen China-Besuchen immer klare Zeichen gesetzt. Und immer wussten wir: Natürlich ist der Umgang mit China ein systemischer Wettbewerb und das wird er auch bleiben. Zu diesem Wettbewerb gehört zugleich, dass es eine wechselseitige Neugierde auf die große Verschiedenheit der Kulturen gibt.
Aber wenn es nicht nur um die Verletzung der Menschenrechte in China geht, sondern die kommunistische Führung auch aggressiv gegenüber Taiwan und den Nachbarstaaten im Südchinesischen Meer auftritt – müsste Deutschland sich nicht ganz klar gegen China positionieren?
Wenn Chinas Selbstbewusstsein zu Aggressivität führt, dann muss sie auch ganz klar so benannt werden. Aber ich warne davor, bei tagesaktuellen Konflikten gleich komplett die Türen zuzuschlagen. Deutschland und Europa brauchen einen langen Atem, um die Beziehungen mit China zu gestalten. In China ist mehr Wissen über Deutschland und Europa vorhanden als umgekehrt. Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen uns neue Wege des Austauschs überlegen. Es braucht Vereinbarungen über die Art und Weise, wie Dialogforen künftig arbeiten können. Beziehungen und Vertrauen sind schnell ruiniert. Der Aufbau braucht dann viel Zeit. Was wir an Beziehungen haben, sollten wir nicht leichtsinnig verspielen.
Die jetzige Bundesregierung wirft der Vorgängerregierung, also auch Ihnen, mehr oder weniger vor, im Umgang mit China zu naiv gewesen zu sein. Es habe an einer Strategie gefehlt.
Naivität heißt ja, nicht zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Das war uns im Blick auf China immer sehr wohl klar. Das war bereits Helmut Schmidt klar. Es gab wichtige strategische Ansätze: Das Wirtschaftsministerium hat als Antwort auf Chinas technologischem Aufstieg eine Innovationsstrategie entwickelt. Wir als Forschungsministerium haben schon früh und sehr klar artikuliert, in welchen wichtigen Zukunftsfragen wir intensiv mit China zusammenarbeiten wollen und müssen. Bereits 1978 wurde ein Regierungsabkommen über die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China unterschrieben. Das war die Basis für eine Erfolgsgeschichte, zu der zahlreiche Forschungskooperationen ebenso gehören wie der Austausch von Studierenden sowie Wissenschaftlern. Ich würde sagen: Dieser Austausch war das Fundament der Beziehungen unserer beiden Länder, von dem beide Seiten enorm profitiert haben. Manchmal können Wissenschafts-Kooperationen Pioniere sein. Und das könnte auch in politisch schwierigen Zeiten wie diese eine wichtige Brücke sein.
Doch selbst im Wissenschaftsaustausch knirscht es. Deutsche Hochschulen stehen in der Kritik, weil sie Kooperationen etwa mit Konfuzius-Instituten eingehen, die Kurse anbieten, in denen über China-kritische Themen nicht geredet werden darf. Hinzu kommen Versuche der politischen Beeinflussung deutscher Institute. Auf der anderen Seite ist die Stimmung an einigen deutschen Hochschulen so aufgeheizt, dass jeder, der mit China zu tun hat, der Käuflichkeit verdächtigt wird.
Wenn die Beziehungen an einem solchen Punkt angekommen sind, an dem alles unter Generalverdacht steht, wird entweder von selbst eine Phase der Differenzierung folgen. Denn man kann sich ja nicht endlos reinsteigern. Oder die Kooperation ist zu Ende. Ich kann nur dafür plädieren, es nicht so weit kommen zu lassen. Das aber heißt, China muss die Strategie der Verschlossenheit beenden und Zeichen der Öffnung setzen, die es früher gab. Ob das in absehbarer Zeit möglich sein wird, wage ich nicht zu prognostizieren.
Schwierig ist auch für die deutschen Stiftungen die Arbeit geworden, die jahrzehntelang ebenfalls Pioniere waren.
Für die Stiftungen gilt das gleiche wie für die Wissenschaftsorganisationen. Wenn bei ihnen der Eindruck entsteht, wirkliche Arbeit ist nicht mehr möglich, geht die Verve, mit der sie in China aktiv waren, zurück. Und dabei würde ebenfalls viel Wissen und Austausch verloren gehen. Andererseits gilt wohl auch, was Papst Franziskus jüngst so gesagt hat: Wer mit China redet, muss in Zeiträumen von Jahrhunderten denken. Dem würde ich zustimmen. Langer Atem ist bei diplomatischen Beziehungen und in der Politik immer wichtig, bei China aber ganz besonders.
Sie haben hervorgehoben, wie richtig Sie es finden, dass der Vatikan an der Annäherungspolitik zu Peking festhält. Manche sprechen von Verrat an den Opfern angesichts der aktuell brutalen Religionsverfolgungen.
Ja, die Nachrichten vom Umgang mit den Religionen in China sind bedrückend. Von Religionsfreiheit kann keine Rede sein. Seit der Jahrtausendwende bemüht sich der Vatikan um Gespräche mit Peking. Ich teile die Einschätzung, dass es einer Weltkirche nicht gleichgültig sein kann, wie es Millionen Christen in China geht. China beantwortet die Bemühungen derzeit schroff. Die Umerziehung der Uiguren wird als Maßnahme der Terrorprävention bezeichnet. Das Wirken christlicher Orden wird eingeschränkt. Umso wichtiger ist es, sich für jede mögliche Besserung einzusetzen. Möglicherweise liegt im Gespräch über Religionsfreiheit gar ein Schlüssel für künftige Dialoge.
Wie meinen Sie das?
Religionsfreiheit ist ein universales Menschenrecht und eine Quelle für das Freiheitsempfinden von Menschen. Das als westlich abzutun, verkennt die Kraft von Religionen. Was jetzt unterdrückt wird, bleibt für viele Millionen Chinesen und Chinesinnen die Quelle ihrer Hoffnung und Werte, bis in das Martyrium hinein. So düster es derzeit aussehen mag – die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Deutschlands mit China hatte 1972 Helmut Schmidt angestoßen, mitten in der Zeit der Kulturrevolution. Die Nachrichten aus China waren damals zutiefst irritierend. Dennoch hat Schmidt gewagt, was sich in den folgenden 50 Jahren als eine oft inspirierende, hoch komplizierte und doch überaus bedeutsame Beziehung erweisen sollte.
Annette Schavan (CDU) war von 1995 bis 2005 Kultusministerin in Baden-Württemberg und von 2005 bis 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung. Danach wirkte sie als deutsche Botschafterin beim Vatikan. Derzeit ist sie Vorsitzende des Deutsch-Chinesischen Dialogforums. Die Regierungen beider Länder haben dieses Format 2005 nach einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Wen Jiabao und Angela Merkel ins Leben gerufen, um “Vorschläge zur Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen” zu erarbeiten.
China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zum weltweit größten Exporteur von Antibiotika-Vorprodukten entwickelt. Das hat zwar geholfen, die Preise zu senken und die Kosten im Gesundheitssystem im Griff zu behalten. Doch die weltpolitische Unsicherheit der vergangenen Jahre lässt diese Strategie in einem neuen Licht erscheinen. “Bei der Antibiotika-Produktion ist Deutschland bereits heute stark vom asiatischen Markt abhängig“, sagt Morris Hosseini, Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger.
Es war Hosseini, der im Jahr 2018 die bis heute maßgebliche Antibiotikastudie für Pro Generika durchführte. Dabei handelt sich um den Verband der Hersteller von Generika, also von No-Name-Arzneimitteln, die Markenpräparate nachahmen, deren Patentschutz ausgelaufen ist. Das Ergebnis der Studie: Zum größten Teil werden Antibiotika-Wirkstoffe aus China und anderen Low-Cost-Schwellenländern importiert.
Hosseini wünscht sich deshalb für diese Substanzen eine gemeinsame EU-Strategie. Diese solle nicht nur die Antibiotikavorstufen umfassen, bei denen die Produktion weitgehend abgewandert ist, sondern auch solche Arzneimittelklassen, “bei denen wir trotz starker Produktion in Deutschland den Abwanderungseffekt schon spüren, wie bei Biosimilars”. Dabei handelt es sich um Nachahmungen von biotechnisch hergestellten Medikamenten.
Die Ursache für diese düstere Prognose: Die meisten heute gebräuchlichen Antibiotika unterliegen in der Regel keinem Patent mehr. Sie können somit im Niedrigpreissektor von weltweit angesiedelten Herstellern vertrieben werden. Das machte die lokale Produktion in Deutschland wie auch anderen EU-Ländern zusehends unwirtschaftlich.
Seit den 1980er-Jahren hat China zugleich die lokale Produktion von Antibiotika und Antibiotika-Vorprodukten massiv subventioniert. Die Volksrepublik hat immer höhere Kapazitäten geschaffen. Durch die Massenproduktion in vorher nicht gekanntem Ausmaß sanken die Kosten ganz erheblich.
Im Verdrängungswettbewerb konnte China, nachdem der nationale Bedarf gedeckt war, spätestens nach 2016 die niedrigsten Preise anbieten und zugleich noch Gewinn machen. Zugleich spielten den dortigen Herstellern Fehler auf europäischer Seite in die Hände. Nachdem eine Reihe von Patenten ausgelaufen waren, verzichtete die EU komplett darauf, die Herstellung im eigenen Inland zu fördern. Ab 2003 erlaubten zwei Gesetze der Bundesregierung den Kassen sogar, von Arzneimittelherstellern Rabatte auf Arzneimittel zu verlangen. Das erhöhte den Preisdruck.
Erst im Oktober 2021 wurde durch einen Kommunikationsfehler der AOK deutlich, dass Hersteller Rabatte bis zu 99,96 Prozent gewähren sollten. Außerdem stiegen für die Herstellung in Deutschland die Ansprüche bei Buchprüfungen, Umwelt- und Qualitätsstandards. Solch hohen Auflagen unterliegen asiatische Firmen nicht.
Als letztes europäisches Unternehmen konzentriert sich Sandoz auf die Herstellung von Penicillin an seinem Standort in Kundl, Österreich. Mit millionenschweren Investitionen in Kooperation mit der österreichischen Regierung konnte die Produktion kürzlich für die nächsten Jahre gesichert werden. Laut Sandoz war es keine einfache Entscheidung, diese Investitionen vorzunehmen. Aber für die Gesellschaft sei es “enorm wichtig”, die Produktion in Europa zu halten.
Die österreichische Großanlage für Penicillinfermentation sei zu überwiegenden Teilen ein “Selbstversorgungswerk”. Nur sehr wenige andere Hersteller erhalten das wichtige Vorprodukt für die eigene Produktion daraus abgeleiteter Wirkstoffe wie Amoxicillin, Ampicillin oder Piperacillin.
Der globale Absatz ist in den letzten Jahren nur flach gestiegen, da die Resistenzlage in Europa und im globalen Süden zu verhaltenem Einsatz von Antibiotika geführt hat. Weltweit betrachtet erfolgt die Penicillin-Fermentation neben dem Werk in Kundl nur noch an vier Standorten in China und bei einem Anbieter in Mexiko.
Vier von sechs Hersteller des Vorstufenmoleküls 6-APA, der Mutter aller Penicilline, sitzen in China. Für die Synthese von Amoxicillin-Trihydrat, dem aktuell wichtigsten Wirkstoff der Substanzklasse, konzentrieren sich sechs von zwölf Standorten auf die Volksrepublik.
Wie sehr dies Europa zum Verhängnis werden könnte, zeigt ein Beispiel aus der oben genannten Studie von 2018. Bis 2015 erreichte eine Anlage zur Fermentation von Cephalosporin-Vorprodukten (7-APA) in einer Anlage in Höchst bei Frankfurt einen Ausstoß von 1.300 Tonnen. Im Jahr 2016 verkaufte der Betreiber Novartis/Sandoz dieses vorletzte Werk in Deutschland jedoch “wegen der fehlender Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu Niedriglohnländern”.
Auf die Übernahme durch Cordon Pharma reagierten die chinesischen Standorte mit einer Preissenkung. Die Folge: Das britische Unternehmen Cordon musste den Standort binnen eines Jahres schließen. Noch bleibt offen, ob China künftig durch konzertierte Aktionen den niedrigsten Preis über Monate halten wird. Dies könnte sämtliche Wettbewerber auf dem Antibiotikamarkt in der EU verdrängen.
Kürzlich wurde neben Österreich auch in eine Reihe von Standorten in Frankreich investiert; so hat das Unternehmen Panpharma seine Produktion in Luitré in der Bretagne ausgebaut. Doch das wird nicht reichen.
Selbst wenn massive staatliche Investitionen flössen – notwendig wäre laut Hosseini eine EU-weite Gesundheitspolitik, die sämtliche Standorte in Europa nicht nach der hergestellten Menge an Antibiotika, sondern nach der bereitgestellten Produktionskapazität bezahlt. “Es geht hier um eine Risikoversicherung für kritische Arzneimittel in Europa”, sagt Hosseini. “Der Mehrwert kommt nicht daher, dass das Produkt aus Deutschland oder aus China kommt – es ist am Ende das gleiche Produkt – sondern resultiert aus der Versorgungssicherheit durch Zugriffsmöglichkeit auf lokale Produktion.” Und dieser Mehrwert sollte den Akteuren einen höheren Preis wert sein. Maria Köpf
Gerichte in Hongkong machen in diesen Tagen reichlich Gebrauch vom weiten Rechtsrahmen des Nationalen Sicherheitsgesetzes. Am Samstag hat ein Gericht fünf Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt. Die Angeklagten hätten auf Sozialmedien einen Umsturz gefordert, stellte Richter Kwok Wai-kin fest. Sie hätten eine “Revolution” angestrebt, um die chinesische Staatsmacht aus Hongkong zu entfernen. “Wenn auch nur eine Person in Hongkong aufrührerisch handelt, sind die Stabilität und die Sicherheit der Bürger gefährdet”, begründet Kwok das Urteil. Richter Kwok ist für seine Peking-hörigen Urteile bekannt.
Der Hongkonger Radiomoderator Edmund Wan muss derweil wegen “aufrührerischer” Äußerungen gegen die chinesische Regierung für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Das erklärte das Bezirksgericht der Sonderverwaltungszone am Freitag. Der Online-Radiomoderator habe die Unabhängigkeit der Stadt und den Sturz der Regierung gefordert und damit “Öl ins Feuer” gegossen, so die Bezirksrichterin Adriana Noelle Tse Ching.
Wan hatte in einer Sendung im Jahr 2020 den Sturz des früheren ukrainischen Staatschefs Viktor Janukowitsch zitiert und erklärt, die Hongkonger sollten auch ihre Regierungschefin Carrie Lam “ausweisen”. In einer anderen Sendung hatte er der Kommunistischen Partei die “kulturellen Auslöschung” von Minderheiten vorgeworfen und erklärt, Chinas Nationalflagge stehe für Autoritarismus.
Die Richterin argumentierte, dass einige von Wans Aussagen nach der Verabschiedung des nationalen Sicherheitsgesetzes getätigt wurden. Das Gesetz wurde in Verbindung mit einem aus der Kolonialzeit stammenden Aufwiegelungsgesetz von der Regierung genutzt, um während der pro-demokratischen Proteste gegen Demonstranten und Aktivisten vorzugehen. fpe/fin
Die US-Regierung weitet die Handelsinstrumente, die sie gegen Huawei erprobt hat, auf alle chinesischen Technikfirmen aus. Am Freitag hat das Handelsministerium in Washington neue Regeln erlassen, die US-Technikfirmen daran hindern, fortschrittliche Mikrochips oder Anlagen für deren Herstellung an chinesische Kunden zu verkaufen. Ausnahmen gelten für Kunden mit besonderen Lizenzen. Das Ziel ist Presse-Briefings der US-Regierung und Analysten zufolge, die technologischen und militärischen Fortschritte Chinas ausbremsen. Die neuen Regeln könnten nach Einschätzung von Experten die chinesische Chipindustrie um Jahre zurückwerfen.
Nach den alten Regeln durften Hersteller von Maschinen zur Chipherstellung ihre chinesischen Kunden immer noch weitreichend beliefern. Mit der Verschärfung vom Freitag können Unternehmen wie Applied Materials aus Kalifornien nur noch sehr eingeschränkt mit China Geschäfte machen. Weitere Firmen, die sich ihre Abnehmer nun genau aussuchen müssen, sind KLA-Tencor, das Ausrüstung zur Qualitätskontrolle von Platinen und Chips herstellt, oder Lam Research, das Ätzanlagen produziert. Auch Chiphersteller wie AMD und Nvidia sind von den US-Direktiven betroffen.
Der US-Verband der Halbleiterhersteller begrüßte die Ankündigung erwartungsgemäß, denn die Regierung schafft so erhebliche Nachteile für die asiatische Konkurrenz. Die neuen Regeln werden die Innovationen der USA “vor Chinas räuberischen Aktionen schützen”, hieß es in einer Mitteilung des Verbands. fin/rtr
Um den Aufbau seiner Software-Sparte in China zu beschleunigen, will VW laut Insidern mehr als eine Milliarde Euro in ein Joint-Venture mit einem chinesischen Partner investieren. Das berichtet eine mit den Vorgängen vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters. Um welches chinesische Unternehmen es sich handelt, soll demnach in der kommenden Woche bekannt gegeben werden. Volkswagen lehnte eine Stellungnahme bislang ab.
Mit einer Veröffentlichung der Pläne erst nach der Landtagswahl in Niedersachsen würde Volkswagen einen Konflikt mit seinen staatlichen Anteilseignern umgehen. Ansonsten hätten die Grünen, die im Fall einer Regierungsbeteiligung auf eine stärkere Rolle der Menschenrechte im China-Geschäft dringen, das Thema zu Wahlkampfzwecken nutzen können. Niedersachsen verfügt über zwei Aufsichtsratsmandate bei VW, die derzeit von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) besetzt werden. rtr
Wenige Tage vor dem Beginn des 20. Parteitags ist die Zahl der Covid-Infizierten wieder angestiegen. Die Nationale Gesundheitskommission meldete am Sonntag 1.925 neue Coronavirus-Fälle. Davon seien 501 Erkrankungen symptomatisch und 1.424 ohne Symptome. Es handelt sich um die höchste Fallzahl seit drei Monaten. Am Vortag lag die Zahl der Neuinfektionen noch bei 1.656. Neue Todesfälle gab es keine.
Auch wenn im weltweiten Vergleich die Zahlen in China damit noch immer gering sind, reagieren die Behörden mit rigiden Maßnahmen. In Shanghai sind mehrere Viertel wieder abgeriegelt und Zehntausende unter Quarantäne gestellt. Ähnliches wird aus anderen Städten berichtet. Die Provinz Xinjiang ist seit Tagen komplett abgesperrt. Dort sind weiterhin Tausende Touristen gestrandet, die die Oktoberfeiertage über dort verbringen wollten und nun nicht abreisen dürfen. flee
Perkuhns Weg nach China führt zunächst über Mexiko. Sie arbeitet dort 2003 als Au-Pair-Mädchen. In der südmexikanischen Provinz Oaxaca weckt ein Theaterstück über pazifische Seefahrten ihr Interesse an Ostasien. Es bleiben starke Eindrücke zurück; in Deutschland wühlt sich Perkuhn durch die Beschreibungen der Studienfächer und entscheidet sich für Sinologie – und damit “für die größte Herausforderung und das Unbekannte”. Aber ist Sinologie auch eine Entscheidung für China? Nein, sagt Perkuhn. “Sinologie ist eine Entscheidung für den chinesischen Kulturraum.”
Das Interesse an diesem Kulturraum steigt nach der Jahrtausendwende in Deutschland stark an, vor allem aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung. Doch Interesse an China übersetzt sich nicht direkt in Chinakompetenz. Perkuhn hat das erkannt und will ihren Beitrag dazu leisten, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine bessere Grundlage für ihre Einschätzungen haben.
Das sei heute wichtiger denn je, wie die konkreten Lieferkettenprobleme zeigen. China stellt einen oft vor schwere Entscheidungen. Ohne Solarzellen aus Xinjiang zum Beispiel könne Deutschland die Energiewende nicht meistern. “Es geht daher nicht um den Zhongguotong (Chinaexperten), der weiß, wie man Essen bestellt, sondern darum, dass man das in China Gesagte versteht und Verlinkungen herstellen, kann”.
Eine weitere Baustelle, wenn es um Chinakompetenz geht, ist Taiwan. Wissen über Taiwan genieße nicht den nötigen Stellenwert, klagt Perkuhn. Dabei könne Deutschland viel von Taiwans erfolgreichem Umgang mit der Pandemie lernen oder von seiner digitalen Demokratiegestaltung.
Perkuhn ist jetzt in der besten Position, hier etwas zu bewegen: Seit Anfang 2022 leitet sie das Projekt Taiwan als Pionier (TAP). Angedockt an drei Universitäten und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung soll das TAP die Lücke schließen, die die auf das Festland orientierte Sinologie hinterlässt.
Außerdem ist Perkuhn Non-Resident-Fellow am Institut für Sicherheitspolitik der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Und damit in Zeiten wachsender Spannungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan eine sehr gefragte Stimme. Für Perkuhn ist wichtig festzuhalten, dass es sich hier nicht nur um einen innerchinesischen Konflikt handele. Vielmehr liegt Taiwan an der globalen Konfliktlinie zwischen Autokratie und Demokratie und damit mitten im Wettbewerb um die “innovationstechnologische Überlegenheit”. Es geht um die Frage, wer das bessere System für die Zukunft hat. Chinas Technik-Diktatur oder Taiwans “partizipative Techniknutzung”? Beide Systeme könnten unterschiedlicher nicht sein. China fühle sich vom taiwanischen Gegenmodell bedroht, glaubt Perkuhn.
Aber muss das zu Krieg führen? Nicht zwangsläufig. Doch sie betont: “Wenn es in China eine Mehrheit gibt, die sagt, wir gehen da jetzt rein und lösen das Problem in kürzester Zeit, dann käme es zum Krieg. Aber diese Mehrheit gibt es in China noch nicht.” Damit das so bleibt, sollte auch Deutschland weiter die Hand nach Taiwan ausstrecken und gleichzeitig versuchen, die Hardliner in China zu beschwichtigen, fordert Perkuhn. Ganz im Sinne der vernetzten Chinakompetenz schaut sie jetzt gespannt auf den anstehenden 20. Parteitag und hofft, dass es auch danach nur bei Drohgebärden gegenüber Taiwan bleibt. Jonathan Lehrer
Richard Schleipen hat bei Starteam Global den Posten des General Managers China & Asia Sales Director übernommen. Das Unternehmen mit Sitz in Hongkong stellt seit mehr als 30 Jahren Leiterplatten für die Automobil-, Medizin- und Bahnindustrie her. Schleipen verfügt über langjährige China-Erfahrung. Er hat unter anderem für die CML Group in Shenzhen und Shanghai gearbeitet.
M. Burak Gümüs ist seit Oktober für Daimler China als Quality Engineer Battery tätig. An seinem Einsatzort in Peking ist er mitverantwortlich für den Bereich International Parts and Supply Chain Quality. Gümüs arbeitet seit 2017 für Mercedes Benz in China.
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Zur Sprache – Folge 72, 10.10.2022
不明觉厉
bùmíngjuélì
Ein faszinierendes Universum für sich eröffnen beim Chinesisch lernen die klassischen viergliedrigen Spruchweisheiten – die sogenannten Chengyu (成语 chéngyǔ). In nur vier unscheinbaren Schriftzeichen fassen diese Sinnsprüche im sprachlichen Hosentaschenformat tiefere Weisheiten und Erfahrungswerte zusammen, die in China seit Jahrhunderten überliefert wurden. Der einzige Haken: Verstehen kann die Chengyu oft nur, wer auch die Geschichte hinter dem Spruch kennt. Oder wüssten Sie auf Anhieb, was gemeint ist, wenn ein chinesischer Bekannter im Falle eines Unglücks plötzlich aus heiterem Himmel erklärt: “Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd” (塞翁失马 sàiwēngshīmǎ “Grenzgebiet – Greis – verlieren Pferd”).
Sie verstehen nur Bahnhof? Verständlich. Denn hinter vielen dieser “Vierzeicher” versteckt sich eine erklärende Anekdote, ja manchmal sogar eine längere Legende. In China kennen diese meist schon Grundschüler. Sie würden uns im Falle des besagten Sinnspruchs die Geschichte eines Greises aus dem Grenzgebiet zweier benachbarter Königreiche erzählen. Im Tiktok-Tempo lautet die Story ungefähr wie folgt: Dem Alten läuft sein Pferd über die Grenze davon, kommt aber später mit einem Artgenossen im Schlepptau (und damit gewinnbringend) zurück, nur um dann wenig später den Sohn des Greises beim Reiten abzuwerfen, wobei sich dieser wiederum Knochenbrüche zuzieht, die ihm später aber die Teilnahme an einem tödlichen Gefecht ersparen. “Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd” lässt sich also in etwa mit “wer weiß, wofür es gut ist” übersetzen – vorausgesetzt, man kennt die zugehörige Geschichte.
Das Besondere ist, wie bereits angedeutet: die Anekdoten hinter gängigen Redewendungen wie dieser gehören für Chinesen zum Allgemeinwissen. Der entsprechende Geschichtenkanon wird schon in Kindertagen vermittelt und geht damit in Fleisch und Blut über. Die Zeichenquartette sind also quasi nur die zarten, schillernden Blüten, die sich an der sprachlichen Oberfläche tummeln. Darunter aber wurzelt ein – für uns Ausländer erst einmal unsichtbares – dichtes Informationsgeflecht, das bei chinesischen Muttersprachlern automatisch aktiviert wird, sobald sie eine der sprachlichen Chengyu-Blüten sehen. Hier zeigt sich einerseits die tiefe Verwurzelung von Chinesisch-Muttersprachlern in ihrem kulturellen Erbe, eine Erdung, die sich faszinierender Weise selbst in der Semantik der Sprache niederschlägt. Andererseits demonstrieren die Chengyu als Redemittel auch in gewissem Grad die Kontextsensibilität des Mandarin. China gilt bekanntlich als high context culture, was für die Kommunikation bedeutet, dass verstärkt Hintergrundinformationen und Situationskontext für das sprachliche Verständnis einbezogen werden müssen. Dazu tragen also auch die Chenyu ihren Teil bei.
Wer jetzt denkt, solche Aphorismen seien nur was für Intellektuelle und Sprachforscher und im Internetzeitalter vom Aussterben bedroht, hat sich geschnitten. Im Gegenteil: In unserer von Instant Messaging, Internet und Social Media geprägten Kommunikationswelt leben die viergliedrigen Spruchweisheiten nicht nur fort, es kommen sogar neue hinzu! In den vergangenen Jahren hat Chinas Netzgemeinde immer wieder kreative Wortneuschöpfungen im traditionellen sprachlichen Gewand erschaffen, die – nach dem Vorbild der Chengyu – längere Sätze, Memes oder Situationen als Insidersprüche auf vier Schriftzeichen zusammenstauchen.
不明觉厉 bùmíngjuélì ist ein Beispiel für diese neuen “Online-Chengyus”. Besagte Redewendung wurde in den Weiten des Web geboren, ist mittlerweile aber in den Alltagssprachgebrauch übergegangen. Es ist die auf vier Zeichen verknappte Essenz eines längeren Ausspruchs beziehungsweise einer ganzen Szene aus dem Hongkonger Komödienklassiker “The God of Cookery” (食神 shí shén). Frei nachformuliert heißt es dort: “Ich hab’ zwar keinen blassen Schimmer (was jemand da tut oder sagt), aber es wirkt sehr eindrucksvoll.” Auf Chinesisch: 虽然不明白,但是觉得很厉害 (Suīrán bù míngbai, dànshì juéde hěn lìhai). Und dieses Sätzchen haben die Netizens auf die vier Zeichen不明觉厉 zusammengestaucht.
Je nach Kontext hat das neue Hipster-Chengyu zwei Lesearten: Zum einen kann es ehrfürchtige Bewunderung gegenüber Äußerungen oder Handlungen von echten Experten zum Ausdruck bringen (“Ich kann dir zwar nicht ganz folgen, aber erstarre in Ehrfurcht vor deinem Können.”). Zum anderen kann sich der Sprecher damit über “Möchtegern-Experten” amüsieren (“Ich hab’ zwar keine Ahnung, was das sein soll/worauf du hinaus willst, aber es hört sich schon mal eindrücklich an/sieht wenigstens eindrucksvoll aus.”).
Die Sprachökonomie der Chengyu ist also nicht totzukriegen und wäre doch auch mal etwas für deutsche Wortneuschöpfungen, oder? Warum nicht langatmige Formulierungen ins praktische Vierwortkostümchen zwängen? Machen wir doch gleich den Anfang bei 不明觉厉 bùmíngjuélì und zwar mit folgender Übersetzung: “Klingt rätselhaft, aber Respekt!”. Trifft ja irgendwie auch auf die Chengyu als solches zu. Und damit schließt sich der Kreis.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.
sind die Verhältnisse heute in China schlimmer als während der Kulturrevolution? Im Gesamtbild sicherlich nicht. Annette Schavan erinnert im Interview mit Table.Media daran, dass Deutschland 1972 diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen hat. Willy Brandt war damals deutscher Bundeskanzler und Mao Zedong der Machthaber in China. Dort wurden Professoren als Volksfeinde durch die Straßen getrieben, buddhistische Tempel brannten, die Gesellschaft verrohte. Schavan plädiert nun als Vorsitzende des Deutsch-Chinesischen Dialogforums dafür, an die Denkweise der 1970er-Jahre anzuknüpfen und auch dann mit Peking zu reden, wenn die Verhältnisse dort schwierig sind. Heute haben wir es da immer noch leichter als vor 50 Jahren.
Am Dienstag ist der offizielle Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Es ist einerseits verständlich, dass sich die deutsche Politik von der chinesischen Seite nicht in Feierlaune hineinziehen lassen wollte. Schließlich hat sich China nach der Ukraine-Invasion an die Seite Russlands gestellt, während Deutschland Teil des Energiekriegs wurde. Dazu kamen die Drohungen gegen Taiwan, auf dessen Kosten die China-Diplomatie damals ging. Es ist zugleich bedauerlich, dass dieses Jubiläum in den vergangenen Monaten so gar nicht genutzt wurde, um neue Kanäle zu öffnen. Denn umgekehrt zeigen die aktuellen Krisen, wie wichtig ein Mindestmaß an Verständigung ist, um fatale Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Schavan ist hier übrigens durchaus nicht naiv. Auch Peking sei in der Pflicht, sich auf Deutschland zuzubewegen. “China muss die Strategie der Verschlossenheit beenden und die Zeichen der Öffnung setzen, die es früher gab”, fordert die ehemalige Forschungsministerin im Gespräch mit Felix Lee. Schließlich sind wir weiterhin gegenseitig voneinander abhängig.
Eine Abhängigkeit der heikleren Art beleuchtet unsere heutige Analyse. Der absolute Großteil der hierzulande verwendeten Antibiotika-Wirkstoffe kommt von einer Handvoll chinesischer Hersteller. China kann uns also von der Versorgung mit lebenswichtigen Arzneien abschneiden, schreibt Maria Koepf. Das gibt der Forderung einen Schub, mit Subventionen eine europäische Penicillin-Herstellung zu päppeln. Mehr Unabhängigkeit bei lebenswichtigen Medikamenten wäre kein gefährliches Decoupling, sondern schlicht Klugheit.
Frau Schavan, gibt es zu 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen angesichts der derzeitigen Schwierigkeiten zwischen China und Deutschland wirklich Gründe zu feiern?
Die 50 Jahre haben viele Früchte gebracht. Deshalb gibt es gute Gründe, mit Empathie auf das Verhältnis zu China zu schauen. Ich halte die Einstellung für richtig, die Helmut Schmidt einst sinngemäß formuliert hat: Wir haben es mit einer vier- bis fünftausendjährigen Kultur zu tun, die uns animieren sollte, noch kompetenter in Sachen China zu werden.
Wie würden Sie das momentane Verhältnis Deutschlands zu China beschreiben?
Die Lage ist schwierig und irgendwie auch traurig. Es sind derzeit nicht die Früchte der bisherigen Beziehungen im Blick. Das hat mit der Pandemie zu tun und damit, dass an die Stelle der Neugierde vor allem wechselseitige Skepsis getreten ist. In China wird der Westen als Quelle vielfältiger Gefahren definiert. In Deutschland wird China heute als verschlossen und auch zunehmend aggressiv wahrgenommen. Das ist keine gute Entwicklung.
Ist China unter Xi Jinping nicht tatsächlich aggressiv geworden?
Ja, so empfinden wir das und machen zudem die Erfahrung, dass von chinesischen Gesprächspartnern immer mehr Themen als “innere Angelegenheit” definiert werden und von der Tagesordnung fliegen. Dann aber wird ein Dialog zur Farce. Es ist gut, über gemeinsame Projekte, wie zum Beispiel eine deutsch-chinesische Junge Akademie zu beraten. Realisieren lässt sich das aber nur, wenn Kritik zugelassen und Vertrauen in den Dialog wiederhergestellt wird. Sonst hat das keinen Sinn.
Die Chinesen sagen, dass sich das Verhältnis zum Westen so verschlechtert hat, liege an den USA. Diese haben unter Donald Trump den Handelskrieg angezettelt.
Die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt welche Fehler gemacht hat, steht jetzt nicht im Vordergrund. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu Beginn dieser neuen Dekade unserer Beziehungen vor zentralen Zukunftsproblemen stehen, die wir nur gemeinsam angehen können: Klimaschutz, Biodiversität, Bekämpfung von Armut und Hunger, künftige Pandemien – das alles sind Themen, die global auftreten und globale Antworten brauchen. Das heißt auch: China ist auf uns und wir sind auf China angewiesen.
Aber was ist mit dem systemischen Wettbewerb, von dem neuerdings auch in Europa viel die Rede ist?
Einen systemischen Wettbewerb zwischen China und uns Europäern hat es immer gegeben, der ist überhaupt nicht neu. Auch die Vorstellung, bislang wurden Wirtschaftsbeziehungen gepflegt und jetzt reden wir plötzlich über Menschenrechte, verkennt die Realität. Das Thema Menschenrechte hat in den Beziehungen immer eine Rolle gespielt. 2003 hat Johannes Rau bei seiner Rede an der Universität Nanjing angemahnt, dass die Pflege guter Wirtschaftsbeziehungen und die Achtung von Menschenrechten sich nicht ausschließen. Angela Merkel hatte gleich zu Beginn ihrer Amtszeit den Dalai Lama empfangen. Dafür wurde sie von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder scharf kritisiert. Merkel hat bei ihren vielen China-Besuchen immer klare Zeichen gesetzt. Und immer wussten wir: Natürlich ist der Umgang mit China ein systemischer Wettbewerb und das wird er auch bleiben. Zu diesem Wettbewerb gehört zugleich, dass es eine wechselseitige Neugierde auf die große Verschiedenheit der Kulturen gibt.
Aber wenn es nicht nur um die Verletzung der Menschenrechte in China geht, sondern die kommunistische Führung auch aggressiv gegenüber Taiwan und den Nachbarstaaten im Südchinesischen Meer auftritt – müsste Deutschland sich nicht ganz klar gegen China positionieren?
Wenn Chinas Selbstbewusstsein zu Aggressivität führt, dann muss sie auch ganz klar so benannt werden. Aber ich warne davor, bei tagesaktuellen Konflikten gleich komplett die Türen zuzuschlagen. Deutschland und Europa brauchen einen langen Atem, um die Beziehungen mit China zu gestalten. In China ist mehr Wissen über Deutschland und Europa vorhanden als umgekehrt. Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen uns neue Wege des Austauschs überlegen. Es braucht Vereinbarungen über die Art und Weise, wie Dialogforen künftig arbeiten können. Beziehungen und Vertrauen sind schnell ruiniert. Der Aufbau braucht dann viel Zeit. Was wir an Beziehungen haben, sollten wir nicht leichtsinnig verspielen.
Die jetzige Bundesregierung wirft der Vorgängerregierung, also auch Ihnen, mehr oder weniger vor, im Umgang mit China zu naiv gewesen zu sein. Es habe an einer Strategie gefehlt.
Naivität heißt ja, nicht zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Das war uns im Blick auf China immer sehr wohl klar. Das war bereits Helmut Schmidt klar. Es gab wichtige strategische Ansätze: Das Wirtschaftsministerium hat als Antwort auf Chinas technologischem Aufstieg eine Innovationsstrategie entwickelt. Wir als Forschungsministerium haben schon früh und sehr klar artikuliert, in welchen wichtigen Zukunftsfragen wir intensiv mit China zusammenarbeiten wollen und müssen. Bereits 1978 wurde ein Regierungsabkommen über die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China unterschrieben. Das war die Basis für eine Erfolgsgeschichte, zu der zahlreiche Forschungskooperationen ebenso gehören wie der Austausch von Studierenden sowie Wissenschaftlern. Ich würde sagen: Dieser Austausch war das Fundament der Beziehungen unserer beiden Länder, von dem beide Seiten enorm profitiert haben. Manchmal können Wissenschafts-Kooperationen Pioniere sein. Und das könnte auch in politisch schwierigen Zeiten wie diese eine wichtige Brücke sein.
Doch selbst im Wissenschaftsaustausch knirscht es. Deutsche Hochschulen stehen in der Kritik, weil sie Kooperationen etwa mit Konfuzius-Instituten eingehen, die Kurse anbieten, in denen über China-kritische Themen nicht geredet werden darf. Hinzu kommen Versuche der politischen Beeinflussung deutscher Institute. Auf der anderen Seite ist die Stimmung an einigen deutschen Hochschulen so aufgeheizt, dass jeder, der mit China zu tun hat, der Käuflichkeit verdächtigt wird.
Wenn die Beziehungen an einem solchen Punkt angekommen sind, an dem alles unter Generalverdacht steht, wird entweder von selbst eine Phase der Differenzierung folgen. Denn man kann sich ja nicht endlos reinsteigern. Oder die Kooperation ist zu Ende. Ich kann nur dafür plädieren, es nicht so weit kommen zu lassen. Das aber heißt, China muss die Strategie der Verschlossenheit beenden und Zeichen der Öffnung setzen, die es früher gab. Ob das in absehbarer Zeit möglich sein wird, wage ich nicht zu prognostizieren.
Schwierig ist auch für die deutschen Stiftungen die Arbeit geworden, die jahrzehntelang ebenfalls Pioniere waren.
Für die Stiftungen gilt das gleiche wie für die Wissenschaftsorganisationen. Wenn bei ihnen der Eindruck entsteht, wirkliche Arbeit ist nicht mehr möglich, geht die Verve, mit der sie in China aktiv waren, zurück. Und dabei würde ebenfalls viel Wissen und Austausch verloren gehen. Andererseits gilt wohl auch, was Papst Franziskus jüngst so gesagt hat: Wer mit China redet, muss in Zeiträumen von Jahrhunderten denken. Dem würde ich zustimmen. Langer Atem ist bei diplomatischen Beziehungen und in der Politik immer wichtig, bei China aber ganz besonders.
Sie haben hervorgehoben, wie richtig Sie es finden, dass der Vatikan an der Annäherungspolitik zu Peking festhält. Manche sprechen von Verrat an den Opfern angesichts der aktuell brutalen Religionsverfolgungen.
Ja, die Nachrichten vom Umgang mit den Religionen in China sind bedrückend. Von Religionsfreiheit kann keine Rede sein. Seit der Jahrtausendwende bemüht sich der Vatikan um Gespräche mit Peking. Ich teile die Einschätzung, dass es einer Weltkirche nicht gleichgültig sein kann, wie es Millionen Christen in China geht. China beantwortet die Bemühungen derzeit schroff. Die Umerziehung der Uiguren wird als Maßnahme der Terrorprävention bezeichnet. Das Wirken christlicher Orden wird eingeschränkt. Umso wichtiger ist es, sich für jede mögliche Besserung einzusetzen. Möglicherweise liegt im Gespräch über Religionsfreiheit gar ein Schlüssel für künftige Dialoge.
Wie meinen Sie das?
Religionsfreiheit ist ein universales Menschenrecht und eine Quelle für das Freiheitsempfinden von Menschen. Das als westlich abzutun, verkennt die Kraft von Religionen. Was jetzt unterdrückt wird, bleibt für viele Millionen Chinesen und Chinesinnen die Quelle ihrer Hoffnung und Werte, bis in das Martyrium hinein. So düster es derzeit aussehen mag – die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Deutschlands mit China hatte 1972 Helmut Schmidt angestoßen, mitten in der Zeit der Kulturrevolution. Die Nachrichten aus China waren damals zutiefst irritierend. Dennoch hat Schmidt gewagt, was sich in den folgenden 50 Jahren als eine oft inspirierende, hoch komplizierte und doch überaus bedeutsame Beziehung erweisen sollte.
Annette Schavan (CDU) war von 1995 bis 2005 Kultusministerin in Baden-Württemberg und von 2005 bis 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung. Danach wirkte sie als deutsche Botschafterin beim Vatikan. Derzeit ist sie Vorsitzende des Deutsch-Chinesischen Dialogforums. Die Regierungen beider Länder haben dieses Format 2005 nach einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Wen Jiabao und Angela Merkel ins Leben gerufen, um “Vorschläge zur Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen” zu erarbeiten.
China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zum weltweit größten Exporteur von Antibiotika-Vorprodukten entwickelt. Das hat zwar geholfen, die Preise zu senken und die Kosten im Gesundheitssystem im Griff zu behalten. Doch die weltpolitische Unsicherheit der vergangenen Jahre lässt diese Strategie in einem neuen Licht erscheinen. “Bei der Antibiotika-Produktion ist Deutschland bereits heute stark vom asiatischen Markt abhängig“, sagt Morris Hosseini, Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger.
Es war Hosseini, der im Jahr 2018 die bis heute maßgebliche Antibiotikastudie für Pro Generika durchführte. Dabei handelt sich um den Verband der Hersteller von Generika, also von No-Name-Arzneimitteln, die Markenpräparate nachahmen, deren Patentschutz ausgelaufen ist. Das Ergebnis der Studie: Zum größten Teil werden Antibiotika-Wirkstoffe aus China und anderen Low-Cost-Schwellenländern importiert.
Hosseini wünscht sich deshalb für diese Substanzen eine gemeinsame EU-Strategie. Diese solle nicht nur die Antibiotikavorstufen umfassen, bei denen die Produktion weitgehend abgewandert ist, sondern auch solche Arzneimittelklassen, “bei denen wir trotz starker Produktion in Deutschland den Abwanderungseffekt schon spüren, wie bei Biosimilars”. Dabei handelt es sich um Nachahmungen von biotechnisch hergestellten Medikamenten.
Die Ursache für diese düstere Prognose: Die meisten heute gebräuchlichen Antibiotika unterliegen in der Regel keinem Patent mehr. Sie können somit im Niedrigpreissektor von weltweit angesiedelten Herstellern vertrieben werden. Das machte die lokale Produktion in Deutschland wie auch anderen EU-Ländern zusehends unwirtschaftlich.
Seit den 1980er-Jahren hat China zugleich die lokale Produktion von Antibiotika und Antibiotika-Vorprodukten massiv subventioniert. Die Volksrepublik hat immer höhere Kapazitäten geschaffen. Durch die Massenproduktion in vorher nicht gekanntem Ausmaß sanken die Kosten ganz erheblich.
Im Verdrängungswettbewerb konnte China, nachdem der nationale Bedarf gedeckt war, spätestens nach 2016 die niedrigsten Preise anbieten und zugleich noch Gewinn machen. Zugleich spielten den dortigen Herstellern Fehler auf europäischer Seite in die Hände. Nachdem eine Reihe von Patenten ausgelaufen waren, verzichtete die EU komplett darauf, die Herstellung im eigenen Inland zu fördern. Ab 2003 erlaubten zwei Gesetze der Bundesregierung den Kassen sogar, von Arzneimittelherstellern Rabatte auf Arzneimittel zu verlangen. Das erhöhte den Preisdruck.
Erst im Oktober 2021 wurde durch einen Kommunikationsfehler der AOK deutlich, dass Hersteller Rabatte bis zu 99,96 Prozent gewähren sollten. Außerdem stiegen für die Herstellung in Deutschland die Ansprüche bei Buchprüfungen, Umwelt- und Qualitätsstandards. Solch hohen Auflagen unterliegen asiatische Firmen nicht.
Als letztes europäisches Unternehmen konzentriert sich Sandoz auf die Herstellung von Penicillin an seinem Standort in Kundl, Österreich. Mit millionenschweren Investitionen in Kooperation mit der österreichischen Regierung konnte die Produktion kürzlich für die nächsten Jahre gesichert werden. Laut Sandoz war es keine einfache Entscheidung, diese Investitionen vorzunehmen. Aber für die Gesellschaft sei es “enorm wichtig”, die Produktion in Europa zu halten.
Die österreichische Großanlage für Penicillinfermentation sei zu überwiegenden Teilen ein “Selbstversorgungswerk”. Nur sehr wenige andere Hersteller erhalten das wichtige Vorprodukt für die eigene Produktion daraus abgeleiteter Wirkstoffe wie Amoxicillin, Ampicillin oder Piperacillin.
Der globale Absatz ist in den letzten Jahren nur flach gestiegen, da die Resistenzlage in Europa und im globalen Süden zu verhaltenem Einsatz von Antibiotika geführt hat. Weltweit betrachtet erfolgt die Penicillin-Fermentation neben dem Werk in Kundl nur noch an vier Standorten in China und bei einem Anbieter in Mexiko.
Vier von sechs Hersteller des Vorstufenmoleküls 6-APA, der Mutter aller Penicilline, sitzen in China. Für die Synthese von Amoxicillin-Trihydrat, dem aktuell wichtigsten Wirkstoff der Substanzklasse, konzentrieren sich sechs von zwölf Standorten auf die Volksrepublik.
Wie sehr dies Europa zum Verhängnis werden könnte, zeigt ein Beispiel aus der oben genannten Studie von 2018. Bis 2015 erreichte eine Anlage zur Fermentation von Cephalosporin-Vorprodukten (7-APA) in einer Anlage in Höchst bei Frankfurt einen Ausstoß von 1.300 Tonnen. Im Jahr 2016 verkaufte der Betreiber Novartis/Sandoz dieses vorletzte Werk in Deutschland jedoch “wegen der fehlender Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu Niedriglohnländern”.
Auf die Übernahme durch Cordon Pharma reagierten die chinesischen Standorte mit einer Preissenkung. Die Folge: Das britische Unternehmen Cordon musste den Standort binnen eines Jahres schließen. Noch bleibt offen, ob China künftig durch konzertierte Aktionen den niedrigsten Preis über Monate halten wird. Dies könnte sämtliche Wettbewerber auf dem Antibiotikamarkt in der EU verdrängen.
Kürzlich wurde neben Österreich auch in eine Reihe von Standorten in Frankreich investiert; so hat das Unternehmen Panpharma seine Produktion in Luitré in der Bretagne ausgebaut. Doch das wird nicht reichen.
Selbst wenn massive staatliche Investitionen flössen – notwendig wäre laut Hosseini eine EU-weite Gesundheitspolitik, die sämtliche Standorte in Europa nicht nach der hergestellten Menge an Antibiotika, sondern nach der bereitgestellten Produktionskapazität bezahlt. “Es geht hier um eine Risikoversicherung für kritische Arzneimittel in Europa”, sagt Hosseini. “Der Mehrwert kommt nicht daher, dass das Produkt aus Deutschland oder aus China kommt – es ist am Ende das gleiche Produkt – sondern resultiert aus der Versorgungssicherheit durch Zugriffsmöglichkeit auf lokale Produktion.” Und dieser Mehrwert sollte den Akteuren einen höheren Preis wert sein. Maria Köpf
Gerichte in Hongkong machen in diesen Tagen reichlich Gebrauch vom weiten Rechtsrahmen des Nationalen Sicherheitsgesetzes. Am Samstag hat ein Gericht fünf Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt. Die Angeklagten hätten auf Sozialmedien einen Umsturz gefordert, stellte Richter Kwok Wai-kin fest. Sie hätten eine “Revolution” angestrebt, um die chinesische Staatsmacht aus Hongkong zu entfernen. “Wenn auch nur eine Person in Hongkong aufrührerisch handelt, sind die Stabilität und die Sicherheit der Bürger gefährdet”, begründet Kwok das Urteil. Richter Kwok ist für seine Peking-hörigen Urteile bekannt.
Der Hongkonger Radiomoderator Edmund Wan muss derweil wegen “aufrührerischer” Äußerungen gegen die chinesische Regierung für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Das erklärte das Bezirksgericht der Sonderverwaltungszone am Freitag. Der Online-Radiomoderator habe die Unabhängigkeit der Stadt und den Sturz der Regierung gefordert und damit “Öl ins Feuer” gegossen, so die Bezirksrichterin Adriana Noelle Tse Ching.
Wan hatte in einer Sendung im Jahr 2020 den Sturz des früheren ukrainischen Staatschefs Viktor Janukowitsch zitiert und erklärt, die Hongkonger sollten auch ihre Regierungschefin Carrie Lam “ausweisen”. In einer anderen Sendung hatte er der Kommunistischen Partei die “kulturellen Auslöschung” von Minderheiten vorgeworfen und erklärt, Chinas Nationalflagge stehe für Autoritarismus.
Die Richterin argumentierte, dass einige von Wans Aussagen nach der Verabschiedung des nationalen Sicherheitsgesetzes getätigt wurden. Das Gesetz wurde in Verbindung mit einem aus der Kolonialzeit stammenden Aufwiegelungsgesetz von der Regierung genutzt, um während der pro-demokratischen Proteste gegen Demonstranten und Aktivisten vorzugehen. fpe/fin
Die US-Regierung weitet die Handelsinstrumente, die sie gegen Huawei erprobt hat, auf alle chinesischen Technikfirmen aus. Am Freitag hat das Handelsministerium in Washington neue Regeln erlassen, die US-Technikfirmen daran hindern, fortschrittliche Mikrochips oder Anlagen für deren Herstellung an chinesische Kunden zu verkaufen. Ausnahmen gelten für Kunden mit besonderen Lizenzen. Das Ziel ist Presse-Briefings der US-Regierung und Analysten zufolge, die technologischen und militärischen Fortschritte Chinas ausbremsen. Die neuen Regeln könnten nach Einschätzung von Experten die chinesische Chipindustrie um Jahre zurückwerfen.
Nach den alten Regeln durften Hersteller von Maschinen zur Chipherstellung ihre chinesischen Kunden immer noch weitreichend beliefern. Mit der Verschärfung vom Freitag können Unternehmen wie Applied Materials aus Kalifornien nur noch sehr eingeschränkt mit China Geschäfte machen. Weitere Firmen, die sich ihre Abnehmer nun genau aussuchen müssen, sind KLA-Tencor, das Ausrüstung zur Qualitätskontrolle von Platinen und Chips herstellt, oder Lam Research, das Ätzanlagen produziert. Auch Chiphersteller wie AMD und Nvidia sind von den US-Direktiven betroffen.
Der US-Verband der Halbleiterhersteller begrüßte die Ankündigung erwartungsgemäß, denn die Regierung schafft so erhebliche Nachteile für die asiatische Konkurrenz. Die neuen Regeln werden die Innovationen der USA “vor Chinas räuberischen Aktionen schützen”, hieß es in einer Mitteilung des Verbands. fin/rtr
Um den Aufbau seiner Software-Sparte in China zu beschleunigen, will VW laut Insidern mehr als eine Milliarde Euro in ein Joint-Venture mit einem chinesischen Partner investieren. Das berichtet eine mit den Vorgängen vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters. Um welches chinesische Unternehmen es sich handelt, soll demnach in der kommenden Woche bekannt gegeben werden. Volkswagen lehnte eine Stellungnahme bislang ab.
Mit einer Veröffentlichung der Pläne erst nach der Landtagswahl in Niedersachsen würde Volkswagen einen Konflikt mit seinen staatlichen Anteilseignern umgehen. Ansonsten hätten die Grünen, die im Fall einer Regierungsbeteiligung auf eine stärkere Rolle der Menschenrechte im China-Geschäft dringen, das Thema zu Wahlkampfzwecken nutzen können. Niedersachsen verfügt über zwei Aufsichtsratsmandate bei VW, die derzeit von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) besetzt werden. rtr
Wenige Tage vor dem Beginn des 20. Parteitags ist die Zahl der Covid-Infizierten wieder angestiegen. Die Nationale Gesundheitskommission meldete am Sonntag 1.925 neue Coronavirus-Fälle. Davon seien 501 Erkrankungen symptomatisch und 1.424 ohne Symptome. Es handelt sich um die höchste Fallzahl seit drei Monaten. Am Vortag lag die Zahl der Neuinfektionen noch bei 1.656. Neue Todesfälle gab es keine.
Auch wenn im weltweiten Vergleich die Zahlen in China damit noch immer gering sind, reagieren die Behörden mit rigiden Maßnahmen. In Shanghai sind mehrere Viertel wieder abgeriegelt und Zehntausende unter Quarantäne gestellt. Ähnliches wird aus anderen Städten berichtet. Die Provinz Xinjiang ist seit Tagen komplett abgesperrt. Dort sind weiterhin Tausende Touristen gestrandet, die die Oktoberfeiertage über dort verbringen wollten und nun nicht abreisen dürfen. flee
Perkuhns Weg nach China führt zunächst über Mexiko. Sie arbeitet dort 2003 als Au-Pair-Mädchen. In der südmexikanischen Provinz Oaxaca weckt ein Theaterstück über pazifische Seefahrten ihr Interesse an Ostasien. Es bleiben starke Eindrücke zurück; in Deutschland wühlt sich Perkuhn durch die Beschreibungen der Studienfächer und entscheidet sich für Sinologie – und damit “für die größte Herausforderung und das Unbekannte”. Aber ist Sinologie auch eine Entscheidung für China? Nein, sagt Perkuhn. “Sinologie ist eine Entscheidung für den chinesischen Kulturraum.”
Das Interesse an diesem Kulturraum steigt nach der Jahrtausendwende in Deutschland stark an, vor allem aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung. Doch Interesse an China übersetzt sich nicht direkt in Chinakompetenz. Perkuhn hat das erkannt und will ihren Beitrag dazu leisten, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine bessere Grundlage für ihre Einschätzungen haben.
Das sei heute wichtiger denn je, wie die konkreten Lieferkettenprobleme zeigen. China stellt einen oft vor schwere Entscheidungen. Ohne Solarzellen aus Xinjiang zum Beispiel könne Deutschland die Energiewende nicht meistern. “Es geht daher nicht um den Zhongguotong (Chinaexperten), der weiß, wie man Essen bestellt, sondern darum, dass man das in China Gesagte versteht und Verlinkungen herstellen, kann”.
Eine weitere Baustelle, wenn es um Chinakompetenz geht, ist Taiwan. Wissen über Taiwan genieße nicht den nötigen Stellenwert, klagt Perkuhn. Dabei könne Deutschland viel von Taiwans erfolgreichem Umgang mit der Pandemie lernen oder von seiner digitalen Demokratiegestaltung.
Perkuhn ist jetzt in der besten Position, hier etwas zu bewegen: Seit Anfang 2022 leitet sie das Projekt Taiwan als Pionier (TAP). Angedockt an drei Universitäten und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung soll das TAP die Lücke schließen, die die auf das Festland orientierte Sinologie hinterlässt.
Außerdem ist Perkuhn Non-Resident-Fellow am Institut für Sicherheitspolitik der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Und damit in Zeiten wachsender Spannungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan eine sehr gefragte Stimme. Für Perkuhn ist wichtig festzuhalten, dass es sich hier nicht nur um einen innerchinesischen Konflikt handele. Vielmehr liegt Taiwan an der globalen Konfliktlinie zwischen Autokratie und Demokratie und damit mitten im Wettbewerb um die “innovationstechnologische Überlegenheit”. Es geht um die Frage, wer das bessere System für die Zukunft hat. Chinas Technik-Diktatur oder Taiwans “partizipative Techniknutzung”? Beide Systeme könnten unterschiedlicher nicht sein. China fühle sich vom taiwanischen Gegenmodell bedroht, glaubt Perkuhn.
Aber muss das zu Krieg führen? Nicht zwangsläufig. Doch sie betont: “Wenn es in China eine Mehrheit gibt, die sagt, wir gehen da jetzt rein und lösen das Problem in kürzester Zeit, dann käme es zum Krieg. Aber diese Mehrheit gibt es in China noch nicht.” Damit das so bleibt, sollte auch Deutschland weiter die Hand nach Taiwan ausstrecken und gleichzeitig versuchen, die Hardliner in China zu beschwichtigen, fordert Perkuhn. Ganz im Sinne der vernetzten Chinakompetenz schaut sie jetzt gespannt auf den anstehenden 20. Parteitag und hofft, dass es auch danach nur bei Drohgebärden gegenüber Taiwan bleibt. Jonathan Lehrer
Richard Schleipen hat bei Starteam Global den Posten des General Managers China & Asia Sales Director übernommen. Das Unternehmen mit Sitz in Hongkong stellt seit mehr als 30 Jahren Leiterplatten für die Automobil-, Medizin- und Bahnindustrie her. Schleipen verfügt über langjährige China-Erfahrung. Er hat unter anderem für die CML Group in Shenzhen und Shanghai gearbeitet.
M. Burak Gümüs ist seit Oktober für Daimler China als Quality Engineer Battery tätig. An seinem Einsatzort in Peking ist er mitverantwortlich für den Bereich International Parts and Supply Chain Quality. Gümüs arbeitet seit 2017 für Mercedes Benz in China.
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Zur Sprache – Folge 72, 10.10.2022
不明觉厉
bùmíngjuélì
Ein faszinierendes Universum für sich eröffnen beim Chinesisch lernen die klassischen viergliedrigen Spruchweisheiten – die sogenannten Chengyu (成语 chéngyǔ). In nur vier unscheinbaren Schriftzeichen fassen diese Sinnsprüche im sprachlichen Hosentaschenformat tiefere Weisheiten und Erfahrungswerte zusammen, die in China seit Jahrhunderten überliefert wurden. Der einzige Haken: Verstehen kann die Chengyu oft nur, wer auch die Geschichte hinter dem Spruch kennt. Oder wüssten Sie auf Anhieb, was gemeint ist, wenn ein chinesischer Bekannter im Falle eines Unglücks plötzlich aus heiterem Himmel erklärt: “Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd” (塞翁失马 sàiwēngshīmǎ “Grenzgebiet – Greis – verlieren Pferd”).
Sie verstehen nur Bahnhof? Verständlich. Denn hinter vielen dieser “Vierzeicher” versteckt sich eine erklärende Anekdote, ja manchmal sogar eine längere Legende. In China kennen diese meist schon Grundschüler. Sie würden uns im Falle des besagten Sinnspruchs die Geschichte eines Greises aus dem Grenzgebiet zweier benachbarter Königreiche erzählen. Im Tiktok-Tempo lautet die Story ungefähr wie folgt: Dem Alten läuft sein Pferd über die Grenze davon, kommt aber später mit einem Artgenossen im Schlepptau (und damit gewinnbringend) zurück, nur um dann wenig später den Sohn des Greises beim Reiten abzuwerfen, wobei sich dieser wiederum Knochenbrüche zuzieht, die ihm später aber die Teilnahme an einem tödlichen Gefecht ersparen. “Ein Alter verliert an der Grenze sein Pferd” lässt sich also in etwa mit “wer weiß, wofür es gut ist” übersetzen – vorausgesetzt, man kennt die zugehörige Geschichte.
Das Besondere ist, wie bereits angedeutet: die Anekdoten hinter gängigen Redewendungen wie dieser gehören für Chinesen zum Allgemeinwissen. Der entsprechende Geschichtenkanon wird schon in Kindertagen vermittelt und geht damit in Fleisch und Blut über. Die Zeichenquartette sind also quasi nur die zarten, schillernden Blüten, die sich an der sprachlichen Oberfläche tummeln. Darunter aber wurzelt ein – für uns Ausländer erst einmal unsichtbares – dichtes Informationsgeflecht, das bei chinesischen Muttersprachlern automatisch aktiviert wird, sobald sie eine der sprachlichen Chengyu-Blüten sehen. Hier zeigt sich einerseits die tiefe Verwurzelung von Chinesisch-Muttersprachlern in ihrem kulturellen Erbe, eine Erdung, die sich faszinierender Weise selbst in der Semantik der Sprache niederschlägt. Andererseits demonstrieren die Chengyu als Redemittel auch in gewissem Grad die Kontextsensibilität des Mandarin. China gilt bekanntlich als high context culture, was für die Kommunikation bedeutet, dass verstärkt Hintergrundinformationen und Situationskontext für das sprachliche Verständnis einbezogen werden müssen. Dazu tragen also auch die Chenyu ihren Teil bei.
Wer jetzt denkt, solche Aphorismen seien nur was für Intellektuelle und Sprachforscher und im Internetzeitalter vom Aussterben bedroht, hat sich geschnitten. Im Gegenteil: In unserer von Instant Messaging, Internet und Social Media geprägten Kommunikationswelt leben die viergliedrigen Spruchweisheiten nicht nur fort, es kommen sogar neue hinzu! In den vergangenen Jahren hat Chinas Netzgemeinde immer wieder kreative Wortneuschöpfungen im traditionellen sprachlichen Gewand erschaffen, die – nach dem Vorbild der Chengyu – längere Sätze, Memes oder Situationen als Insidersprüche auf vier Schriftzeichen zusammenstauchen.
不明觉厉 bùmíngjuélì ist ein Beispiel für diese neuen “Online-Chengyus”. Besagte Redewendung wurde in den Weiten des Web geboren, ist mittlerweile aber in den Alltagssprachgebrauch übergegangen. Es ist die auf vier Zeichen verknappte Essenz eines längeren Ausspruchs beziehungsweise einer ganzen Szene aus dem Hongkonger Komödienklassiker “The God of Cookery” (食神 shí shén). Frei nachformuliert heißt es dort: “Ich hab’ zwar keinen blassen Schimmer (was jemand da tut oder sagt), aber es wirkt sehr eindrucksvoll.” Auf Chinesisch: 虽然不明白,但是觉得很厉害 (Suīrán bù míngbai, dànshì juéde hěn lìhai). Und dieses Sätzchen haben die Netizens auf die vier Zeichen不明觉厉 zusammengestaucht.
Je nach Kontext hat das neue Hipster-Chengyu zwei Lesearten: Zum einen kann es ehrfürchtige Bewunderung gegenüber Äußerungen oder Handlungen von echten Experten zum Ausdruck bringen (“Ich kann dir zwar nicht ganz folgen, aber erstarre in Ehrfurcht vor deinem Können.”). Zum anderen kann sich der Sprecher damit über “Möchtegern-Experten” amüsieren (“Ich hab’ zwar keine Ahnung, was das sein soll/worauf du hinaus willst, aber es hört sich schon mal eindrücklich an/sieht wenigstens eindrucksvoll aus.”).
Die Sprachökonomie der Chengyu ist also nicht totzukriegen und wäre doch auch mal etwas für deutsche Wortneuschöpfungen, oder? Warum nicht langatmige Formulierungen ins praktische Vierwortkostümchen zwängen? Machen wir doch gleich den Anfang bei 不明觉厉 bùmíngjuélì und zwar mit folgender Übersetzung: “Klingt rätselhaft, aber Respekt!”. Trifft ja irgendwie auch auf die Chengyu als solches zu. Und damit schließt sich der Kreis.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.