Menschen sind manipulierbar. Das gilt für Diktaturen gleichermaßen wie für Demokratien. Wer bestimmte Informationen emotional aufbereitet und Wege findet, sie weit in der Gesellschaft zu streuen, hat ein mächtiges Werkzeug an der Hand. In einer Diktatur ist besonders die Manipulation durch den Staat ausgeprägt, weil autokratische Regierungen die Mittel haben, ihre Bürger systematisch von alljenen Informationen abzuschneiden, die ein anderes Bild zeichnen als ihr eigenes.
Entsprechend brachial und teilweise menschenverachtend kann es in chinesischen Medien oder Sozialmedien zugehen. Aufgeputschte Nationalisten potenzieren die Emotionalität, die der Staat mit seiner Propaganda provoziert. Der Hass, der beispielsweise auf Nancy Pelosi projiziert wurde, mündete gar in Morddrohungen. Diese Auswüchse sind der Regierung genehm, weil sie ihre Politik innerhalb der Bevölkerung bestärken. Die strengen Zensoren drücken dann gerne ein Auge zu.
Ein Gruppe von Aktivisten außerhalb China hat sich deshalb seit einer Weile zur Aufgabe gemacht, besonders scharfe und maßlose Kommentare aus dem chinesischen Internet zu übersetzen und beim Kurznachrichtendienst Twitter zu veröffentlichen. Das Interesse an dem Kanal wächst kontinuierlich. Fast 200.000 Menschen folgen ihm bereits, weil er für Nicht-Sinologen interessante Einblicke ermöglicht.
Die dolmetschenden Dissidenten sollen angeblich schon Chinas Staatsmedien dazu bewegt haben, deren schrillen Nationalismus etwas zurückzufahren, um einen weiteren Imageverlust des Landes im Ausland zu verhindern. Mag sein, mag nicht sein. Spätestens seit dem Pelosi-Besuch hat das offizielle China sowieos seine Contenance verloren. Die Morddrohungen kamen nicht aus den Sozialmedien, sondern von jenen, die sie im Auftrag des Staates befeuern.
Als Tiziano Terzani, der 2004 verstorbene ehemalige China-Korrespondent des Spiegel, einmal einen chinesischen Kader auf Mandarin ansprach, soll dieser sich zu seinen Untergebenen umgedreht und gefragt haben: “Welcher Verräter hat ihm unsere Sprache beigebracht?”
Ähnlich überfordert verhält sich die chinesische Regierung derzeit gegenüber einem Twitter-Account, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, chinesischen Content in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Der Kanal, der unter dem Namen und Hashtag #TheGreatTranslationMovement (大翻译运动官方推号) arbeitet, überträgt Beiträge aus offiziellen staatlichen Medien sowie chinesische Social-Media-Kommentare ins Englische, Japanische, Französische, Koreanische, Spanische und Arabische. Dabei werden vor allem Kommentare ausgewählt, die in China besonders viele Likes und Shares generiert haben.
Ziel sei, der Welt zu zeigen, wie arrogant, nationalistisch, empathielos, grausam und manchmal auch blutdürstig die öffentliche Meinung in China sein kann, erklärt ein anonymes Mitglied des Netzwerks in einem chinesischen Beitrag der Deutschen Welle. So findet sich auf dem Kanal etwa der Kommentar eines Shanghaier Universitätsdozenten der namhaften Fudan Universität, der auf Weibo erklärt hatte, dass das Butscha-Massaker nur eine inszenierte Show gewesen sei.
Ein übersetzter Bericht aus der Staatszeitung People’s Daily behauptet, die US-Armee habe Insassen einer psychiatrischen Klinik in der Ukraine als medizinische Versuchskaninchen benutzt. “Amerikanische Teufel” nennt sie ein Nutzer in den ebenfalls übersetzten Kommentaren. Ein anderer User ehrt Putin als “Kaiser”, dessen militärische Eingriffe den Weltfrieden bringen werden.
Die Beiträge von The Great Translation Movement zeigen, wie unter der vermeintlich moderaten Fassade der Staatspropaganda der Hass wuchern darf, ja wuchern soll. Ganz aktuell: Morddrohungen – so utopisch ihre Durchführung auch sein mag – gegen die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, wegen deren Besuchs in Taiwan.
Oder Russlands Invasion der Ukraine: Social-Media-Posts, die den Krieg verdammen oder ukrainische Positionen vertreten, werden in China rigide zensiert. Pro-russische Kommentare werden dagegen in der Regel stehengelassen. Selbst wenn sie so menschenverachtend sind wie jene, die die “Große Übersetzungsbewegung” einem nicht chinesisch sprechenden Publikum zugänglich macht. Während Peking nach außen versucht, im Ukraine-Krieg Neutralität zu wahren, sendet die Billigung solcher Kommentare eben doch eine Botschaft.
Und genau hier wird das Great Translation Movement, das mittlerweile knapp 194.000 Follower hat, für Peking zum Problem. Chinas Propagandaministerium unterscheidet klar, welche Botschaften es nach innen kommuniziert und welche es nach außen sendet. Je schriller der Nationalismus, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Botschaft für Chinesen auf dem Festland bestimmt ist. In seinen englischsprachigen Propagandamedien wählt die Volksrepublik meist einen diplomatischeren Ton, der gerne auch die eigene Opferrolle herauskehrt. Die aggressiven Entgleisungen, die der Twitter-Kanal täglich in Form von übersetzten Screenshots veröffentlicht, belasten Chinas Image im Ausland damit zusätzlich.
Mehrere Artikel in den chinesischen Staatsmedien haben sich bereits dem Twitter-Account gewidmet, und das, obwohl Twitter in China geblockt ist. Die englischsprachige Global Times spricht von einer “Hexenjagd”. Das Great Translation Movement gehe auf einige wenige frustrierte Chinesen zurück, die sich mit feindlichen Kräften aus dem Ausland zusammengetan hätten, um Hass gegen Chinas Bürger zu schüren. Nur durch solche Manöver könne sich der absteigende Westen noch immer kulturell überlegen gegenüber China fühlen, schreibt Wang Qiang, der ansonsten für militärische Angelegenheiten zuständige Autor des Artikels. Der Text, dem die Illustration eines mit Farbe beschmierten Pandabären beigefügt ist, endet mit der Drohung, dass man die IP-Adressen der Beteiligten “demaskieren” werde.
Ob sich die Macher von Great Translation Movement tatsächlich auf dem chinesischen Festland befinden, ist jedoch unklar. Im Interview mit der Deutschen Welle erklärt ein Mitglied, die Gruppe sei dezentral organisiert. Identitäten und Aufenthaltsorte würde man untereinander nicht kennen. Sicher ist, dass das Projekt seinen Ursprung auf der amerikanischen Plattform Reddit hatte, genauer gesagt im Sub-Reddit ChonglangTV, einem der größten chinesischsprachigen Online-Foren im Ausland mit mehr als 53.000 Mitgliedern. Anfang März wurde das Forum jedoch gesperrt, weil es Persönlichkeitsrechte verletzt haben soll, wie die Plattform mitteilte. Ausgelöst wurde die Translation-Kampagne durch sexistische Kommentare chinesischer User, die nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges angeboten hatten, sich um attraktive Ukrainerinnen “zu kümmern”.
Einige Kritiker sagen, die dolmetschenden Dissidenten des Great Translation Movement würden mit ihren selektiven Übersetzungen anti-chinesischen beziehungsweise anti-asiatischen Hass fördern. Die Plattform reagierte, indem sie neben politisch polarisierenden Kommentaren auch den alltäglichen Rassismus in China bloßstellt. Übersetzte Kommentare unter einer Werbung des Modehauses Gucci spekulieren etwa über die Baumwollpflück-Qualitäten und den Wert eines schwarzen Models auf dem Sklavenmarkt. Laut eigenen Angaben mussten Übersetzer des Translation Movement immer wieder Social-Media-Pausen einlegen, um die eigene “geistige Gesundheit nicht zu gefährden”.
Den Anspruch, die öffentlichen Meinung Chinas ausgewogen abzubilden, hat der Kanal ganz offenbar nicht. The Great Translation Movement karikiert vielmehr die Staatsmedien, die selbst in unterschiedlichen Sprachen präsent sind und auf diese Weise das offizielle Narrativ von China als friedliebender Nation in die Welt tragen wollen. Die Popularität des Accounts im Ausland habe die Medien und Behörden in China bereits dazu gedrängt, weniger hasserfüllten Content zu posten, schreibt die Übersetzergruppe auf Twitter. Es sei “ermutigend”, dass sie bereits immer weniger Übersetzungsmaterial fänden.
Sara Kettenmeyer sagt es ziemlich direkt: “Hätte ich gewusst, wie sich das Studium entwickelt, hätte ich es so wahrscheinlich nicht angefangen.” Kettenmeyer studiert Sinologie, hat sechs Semester absolviert und sollte jetzt eigentlich ihre Bachelor-Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München schreiben, um den Studiengang abzuschließen. Sie gehört zum ersten Jahrgang von Sinologie-Studierenden in Deutschland, die während des gesamten Studiums wegen der Corona-Pandemie keinen Fuß in die Volksrepublik setzen konnten.
Kettenmeyer hatte ihr Sinologie-Studium im Wintersemester 2019/20 begonnen. Im ersten Semester sei noch alles normal abgelaufen, erzählt die 22-Jährige. Dann verbrachte sie vier Semester mit Online-Kursen. Das Sommersemester 2022, das an den meisten deutschen Hochschulen noch bis Ende des Monats läuft, wurde dann wieder in Präsenz-Unterricht abgehalten. Zu ihrem China-Aufenthalt, der im Studien-Plan eigentlich nach dem vierten Semester vorgesehen war, kam es nicht.
“Ich habe mich mehrfach beworben bei den chinesischen Unis, hatte eine Zusage der Beijing Normal University, aber dann kam es nicht zum Austausch”, sagt die Studentin. Die Fachschaft und die Mitarbeiter des Sinologie-Instituts hätten immer versucht, zu helfen. “Sie haben ja aber auch nicht wirklich gewusst, was los ist.” Bei den Studierenden habe die fehlende Auslandszeit zwei Folgen gehabt: “Einige haben das Studium in einem schon hohen Semester abgebrochen, weil es einfach frustrierend ist”, sagt Kettenmeyer. Und: “Ich kann die Sprache nicht wirklich.” Anderen Kommilitonen ohne jegliche China-Erfahrung gehe es ähnlich.
Das zeige sich vor allem in den höheren Semestern, wenn beispielsweise Zeitungslektüre im Sprachunterricht hinzukäme. Man merke einen Unterschied bei den Studierenden, die vor Beginn der Corona-Pandemie schon einmal nach China reisen konnten – und den Sinologen und Sinologinnen, die im Rahmen des Studiums nicht in einem Mandarin-sprachigen Umfeld waren, findet Kettenmeyer. Sie hat beschlossen, ihr Studium zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit der Bachelor-Arbeit abzuschließen, sondern ein Jahr zu arbeiten, um dann im akademischen Jahr 2023/24 ihren China-Aufenthalt nachholen zu können.
Die 22-Jährige aus München ist mit ihrer eher negativ geprägten Erfahrung nicht allein. In den vergangenen Jahren habe es eine durchschnittlich höhere Zahl an Studienabbrechern gegeben als vor der Corona-Pandemie, heißt es aus einem Sinologie-Institut in der norddeutschen Region. Dass der “Run” auf das Studienfach in den vergangenen Jahren nicht der höchste war und Studierende aus Frust das Studium schmeißen, sei keine große Überraschung, so eine Mitarbeiterin, die lieber anonym bleiben möchte. Die Bilder des harten Lockdowns in Shanghai seien unter den Studierenden diskutiert worden und hätten bei einigen zu Bedenken geführt, was einen China-Aufenthalt in der Zukunft angehe. Trotz allem: Sollte sich abzeichnen, dass im Jahr 2023 eine Einreise für Studierende wieder möglich sei, rechnet sie mit einem starken Anstieg der Einschreibungen zum Wintersemester.
Sein Sinologie-Studium während und trotz der Pandemie begonnen hat Korbinian Rausch, ebenfalls Student an der LMU. Er hat die Volksrepublik noch nie besucht. Der 29-Jährige hatte zuvor Geschichte und Politik studiert und seine Bachelor-Arbeit über das Verhältnis zwischen Taiwan und China geschrieben. Als er beim Verständnis der Quellen an seine Grenzen kam, entschied er sich 2020 für den Beginn des Sinologie-Studiums – obwohl eine Einreise in die Volksrepublik da schon praktisch unmöglich war. Ein ganzes Auslandsjahr hatte er ohnehin nicht geplant, da er bereits arbeitet. “Aber ich hatte schon gehofft, vielleicht in diesem Sommer eine Summer School in China besuchen zu können.” Daraus wurde nichts. Er setzte das Studium aus, ist jetzt offiziell erst im zweiten Semester. “Aber ich bleibe dran”, sagt Rausch.
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die China schon kennen, fordern derweil die Möglichkeit, dorthin zurückzukehren. Das betrifft nicht nur deutsche Studenten und Studentinnen. Auf Twitter, Instagram und anderen sozialen Netzwerken haben sich Gruppen gegründet, die unter dem Hashtag #takeusbacktochina eine Öffnung für Akademiker fordern. In den Gruppen tauschen sich die Studierenden zu den Neuigkeiten aus – oder lassen ihrem Unmut über die Situation freien Lauf. Für viele hängt das Auslandssemester in China direkt mit den Job-Aussichten nach dem Studium zusammen. Wegen der Einreisebeschränkungen hängen sie nun auch finanziell in den Seilen. Nicht jeder kann sich eine Verzögerung des Studiums leisten.
Das “Ersatz-Programm” durch Online-Kurse an chinesischen Unis komme keinem richtigen Austausch gleich, sagt Greta Biondi. Die Italienerin hat erst diesen Monat ihren Doppelabschluss an der Ca’ Foscari Universität Venedig und der Capital Normal University in Peking beendet – und hat zwei Jahre chinesisches Online-Studium hinter sich, war aber noch nie in der Volksrepublik. Sie habe es zwar toll gefunden, dass sie überhaupt an einer chinesischen Uni studieren konnte, so Biondi.
Aber vor allem das zweite Studienjahr sei wegen des Zeitunterschieds und nachlassender Motivation bei Studierenden und Lehrenden keine gute Erfahrung gewesen. Unterricht und Prüfungen fanden teilweise während der europäischen Nacht statt, der sprachliche Austausch fast gar nicht, so Biondi. “Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich eine wirtschaftliche Transaktion auf Mandarin durchführen, aber nicht nach einfachen alltäglichen Dingen fragen kann.”
Gleich ganz gegen ein solches Online-Studium an einer chinesischen Uni entschieden hat sich Veronica. Die 24-jährige Spanierin schloss ihr Bachelor-Studium 2020 ab und hatte Zusagen von Universitäten in China. “Ich wollte in China studieren, aber da war bereits klar, dass es nicht möglich ist.” In der Volksrepublik war sie noch nie. Sie wählte einen Master-Studiengang an der Universität Leiden und möchte nun anschließend ihren Doktor in China machen. “Es geht nicht nur um die Sprache”, sagt Veronika. “Man kann nicht wirklich zu China arbeiten und nie dort gewesen sein.”
Um den akademischen Austausch wieder hochzufahren, arbeite die chinesische Regierung an mehreren Ideen, berichtet eine Vertreterin eines europäisch-chinesischen Uni-Joint-Ventures gegenüber China.Table. So werde über Charterflüge nachgedacht und die Einrichtung von “akademischen Hubs” in mehreren Städten, damit Studentinnen und Studenten zumindest für die wichtige Feldarbeit wieder einreisen könnten. Es gebe ein großes Bestreben der Regierung, die Studierenden zurückzubringen, so die Britin. Offen darüber sprechen möchte sie jedoch nicht, dann “machen sich meine Studierenden vielleicht Hoffnungen darauf, dass es schnell geht und das können wir nicht garantieren”.
Das britische Parlament hat seinen Tiktok-Account wegen Datenschutz-Bedenken geschlossen. Abgeordnete befürchteten, der chinesische Mutterkonzern von Tiktok könne Daten an die Regierung in Peking weiterleiten. Die Parlamentsmitglieder hatten sich zuvor schriftlich an die Sprecher des Unter- und Oberhauses gewendet.
Eine Tory-Abgeordnete erklärte, Manager von Tiktok konnten den Abgeordneten “nicht versichern, dass das Unternehmen den Datentransfer” zu seiner Muttergesellschaft in China “verhindern kann”, wie Sky News berichtet. Der Tiktok-Account des Parlaments galt als Versuch, auch jüngere Menschen für die Arbeit der Abgeordneten zu begeistern. Ein weiterer Abgeordneter sagte, der Account hätte niemals eröffnet werden dürfen.
Die Kurzvideo-App und ihr Mutterkonzern standen in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, Daten westlicher Nutzerinnen und Nutzer an die Regierung weiterzuleiten. Eine US-Behörde hatte jüngst gefordert, die App aus US-App-Stores entfernen zu lassen (China.Table berichtete). nib
Mit dem Projekt “China Spektrum” will der Berliner China-Thinktank Merics zusammen mit dem China-Institut der Universität Trier die Debatten innerhalb Chinas sichtbar machen und das breite Meinungsspektrum abbilden, das in der Volksrepublik vorhanden ist. Zwar hat unter Xi Jinping als Staats- und Parteichef die Zensur deutlich angezogen und die Meinungsfreiheit wurde massiv eingeschränkt. Doch lebhafte Debatten jenseits der offiziellen Linien der kommunistischen Führung finden weiter statt – vor allem in chinesischen Online-Foren und sozialen Medien.
“Gerade dort, wo Bürger:innen persönlich betroffen sind, können staatliche Zensoren Online-Debatten nicht vollständig ersticken“, schreiben die Projektleiterinnen Kristin Shi-Kupfer von der Uni Trier und Katja Drinhausen von Merics in ihrer ersten Analyse. Schwerpunktthemen der ersten Ausgabe der Online-Publikation China Spektrum sind Debatten über den Krieg in der Ukraine, das Corona-Krisenmanagement der chinesischen Führung und Kritik am Vorgehen Peking gegen den IT-Sektor.
Bei allen Themen gehe es darum, “nicht nur einzelne Stimmen oder Artikel, sondern eine erhebliche Bandbreite an Meinungen abzubilden und in Bezug zu offiziellen Positionen zu setzen,” erklärt Drinhausen. Wenn bestimmte Themen überhaupt kontrovers diskutiert werden können, liegt das nach Einschätzung von Shi-Kupfer auch an Differenzen innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten. “Wir können aus den Debatten vorsichtige Rückschlüsse ziehen, was innerhalb der Eliten an Konsens herrscht und wie groß die Bandbreite an Positionen zu einem Thema ist.”
Das Projekt wird von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) gefördert und ist auf zwei Jahre angelegt ist. Die erste Studie können Sie hier online lesen. flee
Die Folgen des Corona-Lockdowns in Shanghai sind weiterhin spürbar. Wo neue Fälle auftauchen, werden einzelne Gebäude oder ganze Nachbarschaften abgeriegelt, die Bewohner müssen sich regelmäßig testen lassen, andernfalls droht ihnen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Ein Ende der strengen Kontrollen ist nicht in Sicht, solange die Zentralregierung in Peking, wie angekündigt, an ihrer Null-Covid-Strategie festhält.
Die Menschen in der 25-Millionen-Metropole am Huangpu hoffen jedoch, dass ihnen ein abermals flächendeckender Lockdown erspart bleibt. Die kompromisslosen und teils unverständlichen Maßnahmen im vergangenen Frühjahr brachten die Bewohner Shanghais an die Grenzen ihrer psychischen Belastungsfähigkeit.
Eine beeindruckende Darstellung der Zustände in Shanghai zwischen dem 10. April und dem 10. Mai dieses Jahres bietet die Dokumentation Shanghai Spring (上海之春) (Revised). Die Non-Profit-Organisation China Change hat auf ihrem Youtube-Kanal einzelne private Videosequenzen, die während dieser Zeit entstanden, zu einer 100-minütige Zusammenfassung in zehn Episoden samt englischer Untertitel zusammengetragen.
Die Szenen sind unkommentiert, nach Sinnabschnitten aneinandergefügt und dokumentieren das Geschehen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Shanghai Spring ist eine editierte Version der im April erschienenen Dokumentation Lockdown Shanghai 2022. Youtube hatte die erste Fassung wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung gesperrt, weil sie mehrere Szenen von Suiziden enthielt. In der Neuauflage sind diese Bilder nicht mehr zu sehen. grz
Nachdem Chen Quanguo 2016 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei in Xinjiang ernannt worden war, verhängte er Maßnahmen, die zu einem schockierenden Geburtenrückgang geführt haben. Einige Beobachter warfen der chinesischen Führung vor, durch erzwungene Sterilisationen und Abtreibungen einen Genozid gegen die meist muslimische Bevölkerungsgruppe der Uiguren zu führen. Der chinesische Außenminister Wang Yi tat die Anschuldigungen als “Schmierenkampagne” ab und argumentierte, die uigurische Bevölkerung Xinjiangs sei zwischen 2010 und 2018 stetig um 25 Prozent auf 12,7 Millionen gewachsen – und damit schneller als die Gesamtbevölkerung der Provinz.
Aber kürzlich veröffentlichte Volkszählungsdaten von 2020 stellen einen Schlag ins Gesicht des Ministers dar. Diese Zahlen zeigen, dass die uigurische Bevölkerung in Xinjiang seit 2010 auf lediglich 11,6 Millionen gewachsen ist – was einem 16-prozentigen Anstieg entspricht und damit unter der 19-prozentigen Steigerung der Gesamtbevölkerung Xinjiangs liegt. Noch schockierender ist, dass die Zahl der uigurischen Kinder bis vier Jahre nur 36 Prozent der Anzahl der Kinder zwischen fünf und neun Jahren erreichte.
Den einzigen vergleichbaren Fall gab es Anfang der 1990er-Jahre in der Provinz Shandong, als einige Parteikader versucht hatten, eine Kampagne zu starten, um “in 100 Tagen frei von Neugeborenen” zu sein. Im Jahr 2000 belief sich die Zahl der Fünf- bis Neunjährigen in der Stadt Tai’an auf nur 28 Prozent der Zahl der Zehn- bis 14-Jährigen. Und im Jahr 1980, als die chinesischen Behörden über die Ein-Kind-Politik diskutierten, gab es sogar den gruseligen Vorschlag, alle paar Jahre ein “neugeborenenfreies Jahr” einzuführen.
Um zu verstehen, warum die Geburtenzahl in Xinjiang zurückgegangen ist, hilft es, die Geschichte der dortigen Bevölkerungskontrolle zu betrachten: China hatte 1973 landesweit die Familienplanung und 1980 die Ein-Kind-Politik eingeführt. Aber für die ethnischen Minderheiten in Xinjiang kam die Familienplanung später. 1989 durften Minderheitenpaare in den Städten zwei Kinder haben. Paare im ländlichen Raum durften dies auch und wurden weniger häufig zu Abtreibungen und Sterilisationen gezwungen. Gemeinsam mit der geringeren Ausbildung führte diese “milde” Politik unter den Uiguren zu höheren Fruchtbarkeitsraten. Die landesweiten Raten lagen 1989, 2000 und 2010 bei 2,3, 1,22 und 1,18 Kindern pro Frau, und für uigurische Frauen bei 4,31, 2,0 und 1,84.
Chens Vorgänger Zhang Chunxian, der zwischen 2005 und 2010 Parteisekretär der Hunan-Provinz war, setzte sich stark für Bevölkerungskontrolle ein. Unter dem Motto, “die Familienplanung zu regeln, heißt, die Produktivität zu regeln”, startete er 2006 in Hunan eine entsprechende Kampagne. Dies betraf auch meine angeheiratete Cousine, die ein paar Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes gezwungen wurde, abzutreiben, weil sie ihre Geburtserlaubnis nicht rechtzeitig beantragt hatte.
2010 wurde Zhang nach Xinjiang versetzt, und Hunans neuer Gouverneur Xu Shousheng schmiedete neue Pläne und weitere Aktionen zur Stärkung der Bevölkerungskontrolle in der Provinz. Im Januar 2011 veröffentlichte ich einen “Offenen Brief an den Sekretär und Gouverneur von Hunan zur Familienplanung” , wo ich Zhang und Xu euphemistisch kritisierte. Daraufhin luden mich die Behörden von Hunan ein, in der Provinz einen Vortrag zu halten. Damals schloss sich der inzwischen inhaftierte uigurische Ökonom und Menschenrechtsaktivist Ilham Tohti meinem Aufruf an, die Familienplanung für die Uiguren zu beenden.
Am 31. Juli 2014 veröffentlichte Zhang dann in der Parteizeitung Suche nach der Wahrheit einen Aufsatz und argumentierte, Xinjiang müsse “eine Familienplanungspolitik einführen, die für alle ethnischen Gruppen gleich ist” und “die Geburtenrate auf ein mittleres Niveau verringern und stabilisieren”. Ich war so besorgt, dass ich im März 2015 in der Zeitschrift Bevölkerung und Gesellschaft eine von anderen Wissenschaftlern überprüfte Antwort mit dem Titel “Angesichts der geringen Fruchtbarkeitsraten ethnischer Minderheiten müssen wir die Bevölkerungskontrolle dringend stoppen” veröffentlichte.
Letztlich hat Zhang die Familienplanung in Xinjiang doch nicht verschärft. Während seiner Amtszeit blieben die Geburtenraten in der Provinz stabil. Aber wir wissen, dass die Anzahl der Geburten unter Chen von 389.695 im Jahr 2017 auf 267.250 in 2018 und 159.528 in 2021 abgestürzt ist, was zwischen 2018 und 2021 eine Viertelmillion weniger Geburten bedeutet.
Da die chinesischen Behörden schon lang dafür berüchtigt sind, Abtreibungen, Sterilisationen und intrauterine Eingriffe anzuordnen, liegt die Annahme nahe, dass der dramatische Geburtenrückgang in Xinjiang auf solche Maßnahmen zurückzuführen ist. Aber die Dinge liegen nicht so einfach, da es in der Provinz von 2017 bis 2020 etwas weniger Abtreibungen und intrauterine Eingriffe gab als von 2013 bis 2016; und obwohl 70.000 mehr Sterilisationen stattfanden, ist diese Zahl immer noch eine Zehnerpotenz kleiner als der Rückgang der Geburtenrate.
Angesichts dessen, dass Paare in Xinjiang zwei oder drei Kinder haben dürfen, ist es unwahrscheinlich, dass die Behörden bei Frauen, die nur ein oder zwei Kinder hatten, systematisch Abtreibungen, Ligaturen oder intrauterine Eingriffe durchgeführt haben. Warum lag dann die uigurische Fruchtbarkeitsrate im Jahr 2020 bei nur einem Kind pro Frau? Wahrscheinlich liegt dies daran, dass Chens brutales Durchgreifen (unter dem Vorwand des Kampfs gegen den islamistischen Extremismus) zu wirtschaftlicher Repression und steigender Arbeitslosigkeit geführt hat, wodurch die Ressourcen für Eltern verringert wurden. Da das ländliche Xinjiang unter schwerer kultureller Unterdrückung und wirtschaftlichen Einschränkungen litt, fiel die Fruchtbarkeitsrate 2020 verglichen mit den städtischen Gebieten auf ein ungewöhnlich niedriges Niveau.
Ein weiterer Grund für den Geburtenrückgang waren wohl auch verbesserte Bildungsmöglichkeiten, die einen Teil der Frauen dazu gebracht haben, Heirat und Schwangerschaft aufzuschieben. Die chinesischen Behörden haben massiv investiert, um in Xinjiang 15 Jahre kostenlose und verpflichtende Ausbildung einzuführen – verglichen mit neun Jahren im Gesamtland. Daraufhin stieg in Xinjiang die Einschreibungsrate für weiterführende Schulen von 69 Prozent im Jahr 2010 auf 99 Prozent in 2020, während dieser Wert landesweit von 83 auf nur 91 Prozent stieg. Natürlich mussten die Uiguren Zwangssterilisationen über sich ergehen lassen. Einen stärkeren Einfluss auf die Geburtenrate hat aber wohl dieser erzwungene kulturelle Wandel gehabt.
Während die chinesischen Behörden die Fruchtbarkeitsrate sehr effektiv senken konnten, waren sie viel weniger erfolgreich dabei, sie wieder zu steigern. Die jüngste Zwei-Kind- und Drei-Kind-Politik war ein massiver Fehlschlag. Auch zukünftig werden alle Bemühungen zur Geburtenförderung in Xinjiang scheitern, wenn die sozioökonomische Vitalität der Region weiter abnimmt.
Diese Fehlschläge werden dazu führen, dass China seine geopolitischen Vorteile in Zentralasien verliert, wo das Land mit Russland um Einfluss ringt. Die chinesischen Regierenden haben Chen massiv gelobt, müssen aber erst noch verstehen, dass sein Durchgreifen in Xinjiang die Grundlage für schwere langfristige Probleme geschaffen hat.
Yi Fuxian, leitender Forscher im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der Universität von Wisconsin-Madison, ist Verfasser von Big Country with an Empty Nest(China Development Press 2013). Übersetzung: Harald Eckhoff.
Copyright: Project Syndicate, 2022.
www.project-syndicate.org
Menschen sind manipulierbar. Das gilt für Diktaturen gleichermaßen wie für Demokratien. Wer bestimmte Informationen emotional aufbereitet und Wege findet, sie weit in der Gesellschaft zu streuen, hat ein mächtiges Werkzeug an der Hand. In einer Diktatur ist besonders die Manipulation durch den Staat ausgeprägt, weil autokratische Regierungen die Mittel haben, ihre Bürger systematisch von alljenen Informationen abzuschneiden, die ein anderes Bild zeichnen als ihr eigenes.
Entsprechend brachial und teilweise menschenverachtend kann es in chinesischen Medien oder Sozialmedien zugehen. Aufgeputschte Nationalisten potenzieren die Emotionalität, die der Staat mit seiner Propaganda provoziert. Der Hass, der beispielsweise auf Nancy Pelosi projiziert wurde, mündete gar in Morddrohungen. Diese Auswüchse sind der Regierung genehm, weil sie ihre Politik innerhalb der Bevölkerung bestärken. Die strengen Zensoren drücken dann gerne ein Auge zu.
Ein Gruppe von Aktivisten außerhalb China hat sich deshalb seit einer Weile zur Aufgabe gemacht, besonders scharfe und maßlose Kommentare aus dem chinesischen Internet zu übersetzen und beim Kurznachrichtendienst Twitter zu veröffentlichen. Das Interesse an dem Kanal wächst kontinuierlich. Fast 200.000 Menschen folgen ihm bereits, weil er für Nicht-Sinologen interessante Einblicke ermöglicht.
Die dolmetschenden Dissidenten sollen angeblich schon Chinas Staatsmedien dazu bewegt haben, deren schrillen Nationalismus etwas zurückzufahren, um einen weiteren Imageverlust des Landes im Ausland zu verhindern. Mag sein, mag nicht sein. Spätestens seit dem Pelosi-Besuch hat das offizielle China sowieos seine Contenance verloren. Die Morddrohungen kamen nicht aus den Sozialmedien, sondern von jenen, die sie im Auftrag des Staates befeuern.
Als Tiziano Terzani, der 2004 verstorbene ehemalige China-Korrespondent des Spiegel, einmal einen chinesischen Kader auf Mandarin ansprach, soll dieser sich zu seinen Untergebenen umgedreht und gefragt haben: “Welcher Verräter hat ihm unsere Sprache beigebracht?”
Ähnlich überfordert verhält sich die chinesische Regierung derzeit gegenüber einem Twitter-Account, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, chinesischen Content in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Der Kanal, der unter dem Namen und Hashtag #TheGreatTranslationMovement (大翻译运动官方推号) arbeitet, überträgt Beiträge aus offiziellen staatlichen Medien sowie chinesische Social-Media-Kommentare ins Englische, Japanische, Französische, Koreanische, Spanische und Arabische. Dabei werden vor allem Kommentare ausgewählt, die in China besonders viele Likes und Shares generiert haben.
Ziel sei, der Welt zu zeigen, wie arrogant, nationalistisch, empathielos, grausam und manchmal auch blutdürstig die öffentliche Meinung in China sein kann, erklärt ein anonymes Mitglied des Netzwerks in einem chinesischen Beitrag der Deutschen Welle. So findet sich auf dem Kanal etwa der Kommentar eines Shanghaier Universitätsdozenten der namhaften Fudan Universität, der auf Weibo erklärt hatte, dass das Butscha-Massaker nur eine inszenierte Show gewesen sei.
Ein übersetzter Bericht aus der Staatszeitung People’s Daily behauptet, die US-Armee habe Insassen einer psychiatrischen Klinik in der Ukraine als medizinische Versuchskaninchen benutzt. “Amerikanische Teufel” nennt sie ein Nutzer in den ebenfalls übersetzten Kommentaren. Ein anderer User ehrt Putin als “Kaiser”, dessen militärische Eingriffe den Weltfrieden bringen werden.
Die Beiträge von The Great Translation Movement zeigen, wie unter der vermeintlich moderaten Fassade der Staatspropaganda der Hass wuchern darf, ja wuchern soll. Ganz aktuell: Morddrohungen – so utopisch ihre Durchführung auch sein mag – gegen die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, wegen deren Besuchs in Taiwan.
Oder Russlands Invasion der Ukraine: Social-Media-Posts, die den Krieg verdammen oder ukrainische Positionen vertreten, werden in China rigide zensiert. Pro-russische Kommentare werden dagegen in der Regel stehengelassen. Selbst wenn sie so menschenverachtend sind wie jene, die die “Große Übersetzungsbewegung” einem nicht chinesisch sprechenden Publikum zugänglich macht. Während Peking nach außen versucht, im Ukraine-Krieg Neutralität zu wahren, sendet die Billigung solcher Kommentare eben doch eine Botschaft.
Und genau hier wird das Great Translation Movement, das mittlerweile knapp 194.000 Follower hat, für Peking zum Problem. Chinas Propagandaministerium unterscheidet klar, welche Botschaften es nach innen kommuniziert und welche es nach außen sendet. Je schriller der Nationalismus, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Botschaft für Chinesen auf dem Festland bestimmt ist. In seinen englischsprachigen Propagandamedien wählt die Volksrepublik meist einen diplomatischeren Ton, der gerne auch die eigene Opferrolle herauskehrt. Die aggressiven Entgleisungen, die der Twitter-Kanal täglich in Form von übersetzten Screenshots veröffentlicht, belasten Chinas Image im Ausland damit zusätzlich.
Mehrere Artikel in den chinesischen Staatsmedien haben sich bereits dem Twitter-Account gewidmet, und das, obwohl Twitter in China geblockt ist. Die englischsprachige Global Times spricht von einer “Hexenjagd”. Das Great Translation Movement gehe auf einige wenige frustrierte Chinesen zurück, die sich mit feindlichen Kräften aus dem Ausland zusammengetan hätten, um Hass gegen Chinas Bürger zu schüren. Nur durch solche Manöver könne sich der absteigende Westen noch immer kulturell überlegen gegenüber China fühlen, schreibt Wang Qiang, der ansonsten für militärische Angelegenheiten zuständige Autor des Artikels. Der Text, dem die Illustration eines mit Farbe beschmierten Pandabären beigefügt ist, endet mit der Drohung, dass man die IP-Adressen der Beteiligten “demaskieren” werde.
Ob sich die Macher von Great Translation Movement tatsächlich auf dem chinesischen Festland befinden, ist jedoch unklar. Im Interview mit der Deutschen Welle erklärt ein Mitglied, die Gruppe sei dezentral organisiert. Identitäten und Aufenthaltsorte würde man untereinander nicht kennen. Sicher ist, dass das Projekt seinen Ursprung auf der amerikanischen Plattform Reddit hatte, genauer gesagt im Sub-Reddit ChonglangTV, einem der größten chinesischsprachigen Online-Foren im Ausland mit mehr als 53.000 Mitgliedern. Anfang März wurde das Forum jedoch gesperrt, weil es Persönlichkeitsrechte verletzt haben soll, wie die Plattform mitteilte. Ausgelöst wurde die Translation-Kampagne durch sexistische Kommentare chinesischer User, die nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges angeboten hatten, sich um attraktive Ukrainerinnen “zu kümmern”.
Einige Kritiker sagen, die dolmetschenden Dissidenten des Great Translation Movement würden mit ihren selektiven Übersetzungen anti-chinesischen beziehungsweise anti-asiatischen Hass fördern. Die Plattform reagierte, indem sie neben politisch polarisierenden Kommentaren auch den alltäglichen Rassismus in China bloßstellt. Übersetzte Kommentare unter einer Werbung des Modehauses Gucci spekulieren etwa über die Baumwollpflück-Qualitäten und den Wert eines schwarzen Models auf dem Sklavenmarkt. Laut eigenen Angaben mussten Übersetzer des Translation Movement immer wieder Social-Media-Pausen einlegen, um die eigene “geistige Gesundheit nicht zu gefährden”.
Den Anspruch, die öffentlichen Meinung Chinas ausgewogen abzubilden, hat der Kanal ganz offenbar nicht. The Great Translation Movement karikiert vielmehr die Staatsmedien, die selbst in unterschiedlichen Sprachen präsent sind und auf diese Weise das offizielle Narrativ von China als friedliebender Nation in die Welt tragen wollen. Die Popularität des Accounts im Ausland habe die Medien und Behörden in China bereits dazu gedrängt, weniger hasserfüllten Content zu posten, schreibt die Übersetzergruppe auf Twitter. Es sei “ermutigend”, dass sie bereits immer weniger Übersetzungsmaterial fänden.
Sara Kettenmeyer sagt es ziemlich direkt: “Hätte ich gewusst, wie sich das Studium entwickelt, hätte ich es so wahrscheinlich nicht angefangen.” Kettenmeyer studiert Sinologie, hat sechs Semester absolviert und sollte jetzt eigentlich ihre Bachelor-Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München schreiben, um den Studiengang abzuschließen. Sie gehört zum ersten Jahrgang von Sinologie-Studierenden in Deutschland, die während des gesamten Studiums wegen der Corona-Pandemie keinen Fuß in die Volksrepublik setzen konnten.
Kettenmeyer hatte ihr Sinologie-Studium im Wintersemester 2019/20 begonnen. Im ersten Semester sei noch alles normal abgelaufen, erzählt die 22-Jährige. Dann verbrachte sie vier Semester mit Online-Kursen. Das Sommersemester 2022, das an den meisten deutschen Hochschulen noch bis Ende des Monats läuft, wurde dann wieder in Präsenz-Unterricht abgehalten. Zu ihrem China-Aufenthalt, der im Studien-Plan eigentlich nach dem vierten Semester vorgesehen war, kam es nicht.
“Ich habe mich mehrfach beworben bei den chinesischen Unis, hatte eine Zusage der Beijing Normal University, aber dann kam es nicht zum Austausch”, sagt die Studentin. Die Fachschaft und die Mitarbeiter des Sinologie-Instituts hätten immer versucht, zu helfen. “Sie haben ja aber auch nicht wirklich gewusst, was los ist.” Bei den Studierenden habe die fehlende Auslandszeit zwei Folgen gehabt: “Einige haben das Studium in einem schon hohen Semester abgebrochen, weil es einfach frustrierend ist”, sagt Kettenmeyer. Und: “Ich kann die Sprache nicht wirklich.” Anderen Kommilitonen ohne jegliche China-Erfahrung gehe es ähnlich.
Das zeige sich vor allem in den höheren Semestern, wenn beispielsweise Zeitungslektüre im Sprachunterricht hinzukäme. Man merke einen Unterschied bei den Studierenden, die vor Beginn der Corona-Pandemie schon einmal nach China reisen konnten – und den Sinologen und Sinologinnen, die im Rahmen des Studiums nicht in einem Mandarin-sprachigen Umfeld waren, findet Kettenmeyer. Sie hat beschlossen, ihr Studium zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit der Bachelor-Arbeit abzuschließen, sondern ein Jahr zu arbeiten, um dann im akademischen Jahr 2023/24 ihren China-Aufenthalt nachholen zu können.
Die 22-Jährige aus München ist mit ihrer eher negativ geprägten Erfahrung nicht allein. In den vergangenen Jahren habe es eine durchschnittlich höhere Zahl an Studienabbrechern gegeben als vor der Corona-Pandemie, heißt es aus einem Sinologie-Institut in der norddeutschen Region. Dass der “Run” auf das Studienfach in den vergangenen Jahren nicht der höchste war und Studierende aus Frust das Studium schmeißen, sei keine große Überraschung, so eine Mitarbeiterin, die lieber anonym bleiben möchte. Die Bilder des harten Lockdowns in Shanghai seien unter den Studierenden diskutiert worden und hätten bei einigen zu Bedenken geführt, was einen China-Aufenthalt in der Zukunft angehe. Trotz allem: Sollte sich abzeichnen, dass im Jahr 2023 eine Einreise für Studierende wieder möglich sei, rechnet sie mit einem starken Anstieg der Einschreibungen zum Wintersemester.
Sein Sinologie-Studium während und trotz der Pandemie begonnen hat Korbinian Rausch, ebenfalls Student an der LMU. Er hat die Volksrepublik noch nie besucht. Der 29-Jährige hatte zuvor Geschichte und Politik studiert und seine Bachelor-Arbeit über das Verhältnis zwischen Taiwan und China geschrieben. Als er beim Verständnis der Quellen an seine Grenzen kam, entschied er sich 2020 für den Beginn des Sinologie-Studiums – obwohl eine Einreise in die Volksrepublik da schon praktisch unmöglich war. Ein ganzes Auslandsjahr hatte er ohnehin nicht geplant, da er bereits arbeitet. “Aber ich hatte schon gehofft, vielleicht in diesem Sommer eine Summer School in China besuchen zu können.” Daraus wurde nichts. Er setzte das Studium aus, ist jetzt offiziell erst im zweiten Semester. “Aber ich bleibe dran”, sagt Rausch.
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die China schon kennen, fordern derweil die Möglichkeit, dorthin zurückzukehren. Das betrifft nicht nur deutsche Studenten und Studentinnen. Auf Twitter, Instagram und anderen sozialen Netzwerken haben sich Gruppen gegründet, die unter dem Hashtag #takeusbacktochina eine Öffnung für Akademiker fordern. In den Gruppen tauschen sich die Studierenden zu den Neuigkeiten aus – oder lassen ihrem Unmut über die Situation freien Lauf. Für viele hängt das Auslandssemester in China direkt mit den Job-Aussichten nach dem Studium zusammen. Wegen der Einreisebeschränkungen hängen sie nun auch finanziell in den Seilen. Nicht jeder kann sich eine Verzögerung des Studiums leisten.
Das “Ersatz-Programm” durch Online-Kurse an chinesischen Unis komme keinem richtigen Austausch gleich, sagt Greta Biondi. Die Italienerin hat erst diesen Monat ihren Doppelabschluss an der Ca’ Foscari Universität Venedig und der Capital Normal University in Peking beendet – und hat zwei Jahre chinesisches Online-Studium hinter sich, war aber noch nie in der Volksrepublik. Sie habe es zwar toll gefunden, dass sie überhaupt an einer chinesischen Uni studieren konnte, so Biondi.
Aber vor allem das zweite Studienjahr sei wegen des Zeitunterschieds und nachlassender Motivation bei Studierenden und Lehrenden keine gute Erfahrung gewesen. Unterricht und Prüfungen fanden teilweise während der europäischen Nacht statt, der sprachliche Austausch fast gar nicht, so Biondi. “Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich eine wirtschaftliche Transaktion auf Mandarin durchführen, aber nicht nach einfachen alltäglichen Dingen fragen kann.”
Gleich ganz gegen ein solches Online-Studium an einer chinesischen Uni entschieden hat sich Veronica. Die 24-jährige Spanierin schloss ihr Bachelor-Studium 2020 ab und hatte Zusagen von Universitäten in China. “Ich wollte in China studieren, aber da war bereits klar, dass es nicht möglich ist.” In der Volksrepublik war sie noch nie. Sie wählte einen Master-Studiengang an der Universität Leiden und möchte nun anschließend ihren Doktor in China machen. “Es geht nicht nur um die Sprache”, sagt Veronika. “Man kann nicht wirklich zu China arbeiten und nie dort gewesen sein.”
Um den akademischen Austausch wieder hochzufahren, arbeite die chinesische Regierung an mehreren Ideen, berichtet eine Vertreterin eines europäisch-chinesischen Uni-Joint-Ventures gegenüber China.Table. So werde über Charterflüge nachgedacht und die Einrichtung von “akademischen Hubs” in mehreren Städten, damit Studentinnen und Studenten zumindest für die wichtige Feldarbeit wieder einreisen könnten. Es gebe ein großes Bestreben der Regierung, die Studierenden zurückzubringen, so die Britin. Offen darüber sprechen möchte sie jedoch nicht, dann “machen sich meine Studierenden vielleicht Hoffnungen darauf, dass es schnell geht und das können wir nicht garantieren”.
Das britische Parlament hat seinen Tiktok-Account wegen Datenschutz-Bedenken geschlossen. Abgeordnete befürchteten, der chinesische Mutterkonzern von Tiktok könne Daten an die Regierung in Peking weiterleiten. Die Parlamentsmitglieder hatten sich zuvor schriftlich an die Sprecher des Unter- und Oberhauses gewendet.
Eine Tory-Abgeordnete erklärte, Manager von Tiktok konnten den Abgeordneten “nicht versichern, dass das Unternehmen den Datentransfer” zu seiner Muttergesellschaft in China “verhindern kann”, wie Sky News berichtet. Der Tiktok-Account des Parlaments galt als Versuch, auch jüngere Menschen für die Arbeit der Abgeordneten zu begeistern. Ein weiterer Abgeordneter sagte, der Account hätte niemals eröffnet werden dürfen.
Die Kurzvideo-App und ihr Mutterkonzern standen in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, Daten westlicher Nutzerinnen und Nutzer an die Regierung weiterzuleiten. Eine US-Behörde hatte jüngst gefordert, die App aus US-App-Stores entfernen zu lassen (China.Table berichtete). nib
Mit dem Projekt “China Spektrum” will der Berliner China-Thinktank Merics zusammen mit dem China-Institut der Universität Trier die Debatten innerhalb Chinas sichtbar machen und das breite Meinungsspektrum abbilden, das in der Volksrepublik vorhanden ist. Zwar hat unter Xi Jinping als Staats- und Parteichef die Zensur deutlich angezogen und die Meinungsfreiheit wurde massiv eingeschränkt. Doch lebhafte Debatten jenseits der offiziellen Linien der kommunistischen Führung finden weiter statt – vor allem in chinesischen Online-Foren und sozialen Medien.
“Gerade dort, wo Bürger:innen persönlich betroffen sind, können staatliche Zensoren Online-Debatten nicht vollständig ersticken“, schreiben die Projektleiterinnen Kristin Shi-Kupfer von der Uni Trier und Katja Drinhausen von Merics in ihrer ersten Analyse. Schwerpunktthemen der ersten Ausgabe der Online-Publikation China Spektrum sind Debatten über den Krieg in der Ukraine, das Corona-Krisenmanagement der chinesischen Führung und Kritik am Vorgehen Peking gegen den IT-Sektor.
Bei allen Themen gehe es darum, “nicht nur einzelne Stimmen oder Artikel, sondern eine erhebliche Bandbreite an Meinungen abzubilden und in Bezug zu offiziellen Positionen zu setzen,” erklärt Drinhausen. Wenn bestimmte Themen überhaupt kontrovers diskutiert werden können, liegt das nach Einschätzung von Shi-Kupfer auch an Differenzen innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten. “Wir können aus den Debatten vorsichtige Rückschlüsse ziehen, was innerhalb der Eliten an Konsens herrscht und wie groß die Bandbreite an Positionen zu einem Thema ist.”
Das Projekt wird von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) gefördert und ist auf zwei Jahre angelegt ist. Die erste Studie können Sie hier online lesen. flee
Die Folgen des Corona-Lockdowns in Shanghai sind weiterhin spürbar. Wo neue Fälle auftauchen, werden einzelne Gebäude oder ganze Nachbarschaften abgeriegelt, die Bewohner müssen sich regelmäßig testen lassen, andernfalls droht ihnen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Ein Ende der strengen Kontrollen ist nicht in Sicht, solange die Zentralregierung in Peking, wie angekündigt, an ihrer Null-Covid-Strategie festhält.
Die Menschen in der 25-Millionen-Metropole am Huangpu hoffen jedoch, dass ihnen ein abermals flächendeckender Lockdown erspart bleibt. Die kompromisslosen und teils unverständlichen Maßnahmen im vergangenen Frühjahr brachten die Bewohner Shanghais an die Grenzen ihrer psychischen Belastungsfähigkeit.
Eine beeindruckende Darstellung der Zustände in Shanghai zwischen dem 10. April und dem 10. Mai dieses Jahres bietet die Dokumentation Shanghai Spring (上海之春) (Revised). Die Non-Profit-Organisation China Change hat auf ihrem Youtube-Kanal einzelne private Videosequenzen, die während dieser Zeit entstanden, zu einer 100-minütige Zusammenfassung in zehn Episoden samt englischer Untertitel zusammengetragen.
Die Szenen sind unkommentiert, nach Sinnabschnitten aneinandergefügt und dokumentieren das Geschehen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Shanghai Spring ist eine editierte Version der im April erschienenen Dokumentation Lockdown Shanghai 2022. Youtube hatte die erste Fassung wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung gesperrt, weil sie mehrere Szenen von Suiziden enthielt. In der Neuauflage sind diese Bilder nicht mehr zu sehen. grz
Nachdem Chen Quanguo 2016 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei in Xinjiang ernannt worden war, verhängte er Maßnahmen, die zu einem schockierenden Geburtenrückgang geführt haben. Einige Beobachter warfen der chinesischen Führung vor, durch erzwungene Sterilisationen und Abtreibungen einen Genozid gegen die meist muslimische Bevölkerungsgruppe der Uiguren zu führen. Der chinesische Außenminister Wang Yi tat die Anschuldigungen als “Schmierenkampagne” ab und argumentierte, die uigurische Bevölkerung Xinjiangs sei zwischen 2010 und 2018 stetig um 25 Prozent auf 12,7 Millionen gewachsen – und damit schneller als die Gesamtbevölkerung der Provinz.
Aber kürzlich veröffentlichte Volkszählungsdaten von 2020 stellen einen Schlag ins Gesicht des Ministers dar. Diese Zahlen zeigen, dass die uigurische Bevölkerung in Xinjiang seit 2010 auf lediglich 11,6 Millionen gewachsen ist – was einem 16-prozentigen Anstieg entspricht und damit unter der 19-prozentigen Steigerung der Gesamtbevölkerung Xinjiangs liegt. Noch schockierender ist, dass die Zahl der uigurischen Kinder bis vier Jahre nur 36 Prozent der Anzahl der Kinder zwischen fünf und neun Jahren erreichte.
Den einzigen vergleichbaren Fall gab es Anfang der 1990er-Jahre in der Provinz Shandong, als einige Parteikader versucht hatten, eine Kampagne zu starten, um “in 100 Tagen frei von Neugeborenen” zu sein. Im Jahr 2000 belief sich die Zahl der Fünf- bis Neunjährigen in der Stadt Tai’an auf nur 28 Prozent der Zahl der Zehn- bis 14-Jährigen. Und im Jahr 1980, als die chinesischen Behörden über die Ein-Kind-Politik diskutierten, gab es sogar den gruseligen Vorschlag, alle paar Jahre ein “neugeborenenfreies Jahr” einzuführen.
Um zu verstehen, warum die Geburtenzahl in Xinjiang zurückgegangen ist, hilft es, die Geschichte der dortigen Bevölkerungskontrolle zu betrachten: China hatte 1973 landesweit die Familienplanung und 1980 die Ein-Kind-Politik eingeführt. Aber für die ethnischen Minderheiten in Xinjiang kam die Familienplanung später. 1989 durften Minderheitenpaare in den Städten zwei Kinder haben. Paare im ländlichen Raum durften dies auch und wurden weniger häufig zu Abtreibungen und Sterilisationen gezwungen. Gemeinsam mit der geringeren Ausbildung führte diese “milde” Politik unter den Uiguren zu höheren Fruchtbarkeitsraten. Die landesweiten Raten lagen 1989, 2000 und 2010 bei 2,3, 1,22 und 1,18 Kindern pro Frau, und für uigurische Frauen bei 4,31, 2,0 und 1,84.
Chens Vorgänger Zhang Chunxian, der zwischen 2005 und 2010 Parteisekretär der Hunan-Provinz war, setzte sich stark für Bevölkerungskontrolle ein. Unter dem Motto, “die Familienplanung zu regeln, heißt, die Produktivität zu regeln”, startete er 2006 in Hunan eine entsprechende Kampagne. Dies betraf auch meine angeheiratete Cousine, die ein paar Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes gezwungen wurde, abzutreiben, weil sie ihre Geburtserlaubnis nicht rechtzeitig beantragt hatte.
2010 wurde Zhang nach Xinjiang versetzt, und Hunans neuer Gouverneur Xu Shousheng schmiedete neue Pläne und weitere Aktionen zur Stärkung der Bevölkerungskontrolle in der Provinz. Im Januar 2011 veröffentlichte ich einen “Offenen Brief an den Sekretär und Gouverneur von Hunan zur Familienplanung” , wo ich Zhang und Xu euphemistisch kritisierte. Daraufhin luden mich die Behörden von Hunan ein, in der Provinz einen Vortrag zu halten. Damals schloss sich der inzwischen inhaftierte uigurische Ökonom und Menschenrechtsaktivist Ilham Tohti meinem Aufruf an, die Familienplanung für die Uiguren zu beenden.
Am 31. Juli 2014 veröffentlichte Zhang dann in der Parteizeitung Suche nach der Wahrheit einen Aufsatz und argumentierte, Xinjiang müsse “eine Familienplanungspolitik einführen, die für alle ethnischen Gruppen gleich ist” und “die Geburtenrate auf ein mittleres Niveau verringern und stabilisieren”. Ich war so besorgt, dass ich im März 2015 in der Zeitschrift Bevölkerung und Gesellschaft eine von anderen Wissenschaftlern überprüfte Antwort mit dem Titel “Angesichts der geringen Fruchtbarkeitsraten ethnischer Minderheiten müssen wir die Bevölkerungskontrolle dringend stoppen” veröffentlichte.
Letztlich hat Zhang die Familienplanung in Xinjiang doch nicht verschärft. Während seiner Amtszeit blieben die Geburtenraten in der Provinz stabil. Aber wir wissen, dass die Anzahl der Geburten unter Chen von 389.695 im Jahr 2017 auf 267.250 in 2018 und 159.528 in 2021 abgestürzt ist, was zwischen 2018 und 2021 eine Viertelmillion weniger Geburten bedeutet.
Da die chinesischen Behörden schon lang dafür berüchtigt sind, Abtreibungen, Sterilisationen und intrauterine Eingriffe anzuordnen, liegt die Annahme nahe, dass der dramatische Geburtenrückgang in Xinjiang auf solche Maßnahmen zurückzuführen ist. Aber die Dinge liegen nicht so einfach, da es in der Provinz von 2017 bis 2020 etwas weniger Abtreibungen und intrauterine Eingriffe gab als von 2013 bis 2016; und obwohl 70.000 mehr Sterilisationen stattfanden, ist diese Zahl immer noch eine Zehnerpotenz kleiner als der Rückgang der Geburtenrate.
Angesichts dessen, dass Paare in Xinjiang zwei oder drei Kinder haben dürfen, ist es unwahrscheinlich, dass die Behörden bei Frauen, die nur ein oder zwei Kinder hatten, systematisch Abtreibungen, Ligaturen oder intrauterine Eingriffe durchgeführt haben. Warum lag dann die uigurische Fruchtbarkeitsrate im Jahr 2020 bei nur einem Kind pro Frau? Wahrscheinlich liegt dies daran, dass Chens brutales Durchgreifen (unter dem Vorwand des Kampfs gegen den islamistischen Extremismus) zu wirtschaftlicher Repression und steigender Arbeitslosigkeit geführt hat, wodurch die Ressourcen für Eltern verringert wurden. Da das ländliche Xinjiang unter schwerer kultureller Unterdrückung und wirtschaftlichen Einschränkungen litt, fiel die Fruchtbarkeitsrate 2020 verglichen mit den städtischen Gebieten auf ein ungewöhnlich niedriges Niveau.
Ein weiterer Grund für den Geburtenrückgang waren wohl auch verbesserte Bildungsmöglichkeiten, die einen Teil der Frauen dazu gebracht haben, Heirat und Schwangerschaft aufzuschieben. Die chinesischen Behörden haben massiv investiert, um in Xinjiang 15 Jahre kostenlose und verpflichtende Ausbildung einzuführen – verglichen mit neun Jahren im Gesamtland. Daraufhin stieg in Xinjiang die Einschreibungsrate für weiterführende Schulen von 69 Prozent im Jahr 2010 auf 99 Prozent in 2020, während dieser Wert landesweit von 83 auf nur 91 Prozent stieg. Natürlich mussten die Uiguren Zwangssterilisationen über sich ergehen lassen. Einen stärkeren Einfluss auf die Geburtenrate hat aber wohl dieser erzwungene kulturelle Wandel gehabt.
Während die chinesischen Behörden die Fruchtbarkeitsrate sehr effektiv senken konnten, waren sie viel weniger erfolgreich dabei, sie wieder zu steigern. Die jüngste Zwei-Kind- und Drei-Kind-Politik war ein massiver Fehlschlag. Auch zukünftig werden alle Bemühungen zur Geburtenförderung in Xinjiang scheitern, wenn die sozioökonomische Vitalität der Region weiter abnimmt.
Diese Fehlschläge werden dazu führen, dass China seine geopolitischen Vorteile in Zentralasien verliert, wo das Land mit Russland um Einfluss ringt. Die chinesischen Regierenden haben Chen massiv gelobt, müssen aber erst noch verstehen, dass sein Durchgreifen in Xinjiang die Grundlage für schwere langfristige Probleme geschaffen hat.
Yi Fuxian, leitender Forscher im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der Universität von Wisconsin-Madison, ist Verfasser von Big Country with an Empty Nest(China Development Press 2013). Übersetzung: Harald Eckhoff.
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