als Ausländer lebt es sich in der Volksrepublik China oftmals sehr angenehm. Zumindest als Staatsbürger einer großen Industrienation. Die Annehmlichkeiten und Privilegien gehen so weit, dass man glatt vergessen könnte, wo man sich aufhält: nämlich in einer der brutalsten Diktaturen der Welt. Durch das Bürofenster in Shanghai oder vom Rücksitz eines Dienstwagens kann schnell der Eindruck entstehen, dass autoritäre Politik vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie es ihre Kritiker immer behaupten.
Sicher hat jeder Ausländer schon irgendwelche chinesische Schauergeschichten gehört, in denen Menschen- oder Bürgerrechte schwer verletzt worden sind. Doch über dem T-Bone-Steak im Restaurant am Bund entwickeln die Schicksale hinter diesen Geschichten wenig Beigeschmack. Ihr Echo hallt aus den vermeintlichen Untiefen der Volksrepublik, um die Chinas Modernisierung einen großen Bogen gemacht hat. Zwar erreichen sie auch den zivilisierten Teil des Landes, aber sie kommen von so fern und sind so leise, dass sie die hektische Lautstärke der gesellschaftlichen Zentren unmöglich übertönen.
Und dann kommt der Lockdown. Plötzlich sind auch die Ausländer von drastischen Einschränkungen der persönlichen Freiheit betroffen. Sie spüren den Verlust der eigenen Souveränität gegenüber dem Staat, der sie so behandelt, wie er seine eigenen Bürger behandelt, wenn es um seine Kerninteressen geht. Er nimmt keine Rücksicht auf Nationalitäten, geschweige denn Befindlichkeiten. Die Diktatur rückt den Gästen des Landes, die sich weit weg wähnten vom autoritären Wesen, hautnah.
Wir haben mit Betroffenen gesprochen, deren China-Bild in sich zusammenbrach, als der Lockdown begann. Sie alle sind schockiert und fassungslos. Sie haben erkannt, dass eine Diktatur immer nur ein erzwungener Kompromiss sein kann zwischen Staat und seinen Bürgern. Dass es eigene Erfahrungen benötigt, um das festzustellen, kann man niemandem vorwerfen. Dass man jenen, die diese Erfahrungen in der Vergangenheit schon gesammelt haben, nicht so recht glauben mochte, dagegen schon.
In weniger als drei Wochen hat sich das China-Bild der 19-jährigen Lisa aus Münster komplett gewandelt. “Ich muss meine Meinung grundlegend revidieren. Ich habe die Kritik an diesem politischen System immer für völlig übertrieben gehalten. Jetzt bin ich fassungslos, was es tatsächlich bedeutet, in einer Diktatur zu leben“, sagt die junge Frau, deren chinesische Eltern bereits vor Jahrzehnten aus Shanghai nach Deutschland ausgewandert waren, um der autoritären Politik der Volksrepublik zu entfliehen.
Lisa wuchs in Deutschland mit Meinungsfreiheit und im Rechtsstaat auf. Dennoch wollte sie die Warnungen ihrer Familie vor der Unnachgiebigkeit der chinesischen Staatsführung nie so recht für bare Münze nehmen. Auch deshalb ging sie vor wenigen Monaten guter Dinge nach Shanghai, um ihre Mandarin-Sprachkenntnisse auf Vordermann zu bringen.
Als sich der Lockdown Ende März anbahnte, entschied sie sich, auf die chinesische Urlaubsinsel Hainan zu fliehen. Das bewahrte sie jedoch nicht vor einem positiven Coronavirus-Test. Schon seit mehr als zwei Wochen befindet sich Lisa deshalb in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Sanya in Quarantäne. “Ich fühle mich hier völlig hilflos, der Willkür von Behörden ausgesetzt und ohne Schutz der Privatsphäre“, sagt sie im Gespräch mit China.Table. Sie habe den Entschluss getroffen, die Heimat ihrer Eltern und Großeltern schnellstmöglich zu verlassen und in Zukunft nicht mehr in China leben zu wollen.
Die bedingungslose Umsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen in China versetzt viele Ausländer in Schockzustand. Zum ersten Mal während ihrer Zeit in China spüren sie den Verlust der eigenen Souveränität gegenüber dem Staat. Plötzlich rückt die Diktatur den privilegierten Gästen aus demokratischen Staaten ganz nah. “Als Ausländer lebst du hier in der Blase einer Subkultur, in der du von dem Wesen des Systems und den Konsequenzen normalerweise überhaupt nichts mitbekommst”, sagt Lisa.
Es ist nicht das erste Mal in Chinas jüngerer Geschichte, dass romantische Verklärung der Volksrepublik durch ausländische Ortsansässige von der Realität eingeholt wird. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 bedeutete eine dramatische Zäsur. Und auch die Handhabung des Ausbruchs des Corona-Vorläufers Sars im Jahr 2002 offenbarte zahlreichen Ausländern die Schattenseiten eines Machtmonopols in den Händen einer einzigen Partei.
Doch im Vergleich zu damals hat sich Chinas Rolle in der Welt drastisch verändert. Den Aufstieg des Landes zur zweitgrößten Volkswirtschaft verstehen manche als Rechtfertigung dafür, dass das autoritäre System seine Bürger von politischer Willensbildung ausschließt. Zwanzig Jahre nach dem Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation und der Ausrichtung von zwei Olympischen Spielen können sich viele Gäste im Land zudem nicht vorstellen, dass die KP-Diktatur auf ihre Reputation im Ausland keinen Wert legt, wenn sie eigene Interessen in Gefahr sieht.
Die totale Abhängigkeit von den Behörden und das Gefühl der Handlungsunfähigkeit hat auch den 48-Jährigen Ralf überrascht. “Einerseits schockiert mich die Rücksichtslosigkeit der Behörden gegenüber dem Einzelnen. Andererseits macht es mich sprachlos, wie chaotisch, unstrukturiert und unlogisch der Lockdown und die Isolation von positiv Getesteten umgesetzt werden”, sagt der Berliner, der seit knapp drei Jahren in Shanghai lebt. “Was wir hier erleben, spottet jeder Beschreibung. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut. Keiner will für irgendetwas verantwortlich sein, und niemand trifft hier im Interesse der Bürger eigenständige Entscheidungen”, sagt er.
Ralf gibt zu, dass ihn die Situation in ein Gefühl der Angst versetzt. “Es gibt überhaupt keine Transparenz. Jederzeit kann es an deiner Wohnungstür klopfen und jemand will dich in ein Quarantäne-Lager verfrachten”, sagte er gegenüber China.Table. Nur zwei Tage später wurde er tatsächlich zur Isolation in ein Hotel gebracht. Anlass war ein positiver Test, der bereits zwei Wochen alt war.
Ein gut neunminütiges Telefongespräch zwischen ihm und einer chinesischen Mitarbeiterin eines Nachbarschaftskomitees darüber erlangte zu Beginn der Woche Aufmerksamkeit in Sozialmedien. Der Deutsche beschwert sich darin über die örtliche Covid-Politik. In den Kommentarspalten finden sich Bewunderung für die offene Beschwerde, aber auch viel Kritik an dem “Ausländer”, der sich das nur traue, weil er nicht mit drakonischen Strafen wie chinesische Staatsbürger rechnen müsse. Er hat mittlerweile entschieden, China schnellstmöglich zu verlassen.
Einen ähnlichen Impuls nimmt Janine Jakob wahr. “Ich fühle mich nicht mehr frei in China”, sagt die 29-Jährige. Sie erlebt seit einigen Tagen eine Form der Erniedrigung und Einschüchterung, die ihr schwer zu schaffen macht. Nach einem positiven Befund Anfang des Monats war sie, ähnlich wie Hayda, aus unerfindlichen Gründen nicht in Quarantäne gebracht worden. Stattdessen isoliert sie sich seitdem in ihrer Wohnung im Shanghaier Stadtbezirk Jing’an.
Nach einer Reihe negativer Antigen-Tests über mehrere Tage hatte sie jedoch eigenmächtig ihre Wohnung verlassen, um sich im Innenhof ihrer Wohnanlage für einen PCR-Test einzureihen. Ein negativer PCR-Test bietet ihr die einzige Möglichkeit, sich zumindest vor die Wohnungstür zu wagen, um beispielsweise den Müll herunterzubringen. Andernfalls ist ihr auch das verboten.
Was folgte, waren Denunziationen und Schuldzuweisungen durch Nachbarn. Die fürchteten weitere Ansteckungen in der Wohnanlage und damit wochenlange Einschränkungen für alle. Die örtliche Polizei rief Jakob an und warf ihr vor, sie habe die Corona-Regeln gebrochen. “Ich habe mich bei Nachbarn und Polizei entschuldigt und gesagt, dass ich die Regeln nicht bewusst brechen wollte”, sagt sie.
Ihre chinesische Mitbewohnerin hält die Deutsche jetzt genau im Auge und gibt ihr über das Mobiltelefon Anweisungen, was sie zu tun und zu lassen habe. Hilflos musste Jakob zuschauen, wie die Mitbewohnerin einen großen Teil ihres Gemüses wegschmiss. Das Badezimmer darf sie nur benutzen, wenn die Mitbewohnerin ihr per Wechat das Okay gibt. “Ich kann der Frau nicht mehr vertrauen. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das von ihrer Mutter bestraft wird“, sagt Jakob. Zu allem Überfluss machte ihr ein Freund Angst, dass ihr wegen Verstoßes gegen Quarantäne-Regeln drei Jahren Haft drohten.
“Ich versuche, das Positive in allem zu sehen”, sagt Jakob, die sich als Persönlichkeitstrainerin selbstständig gemacht hat und nun all die mentalen Techniken anwendet, die sie üblicherweise ihren Kunden vermittelt. Sie habe sich immer langfristig in China gesehen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen stellt sie inzwischen jedoch ihren weiteren Aufenthalt im Land infrage. “War ich zu naiv?”, sagt sie. Und schickt die Antwort gleich hinterher: “Ja.”
Nach dem Tiananmen-Massaker und dem Sars-Ausbruch hatte der Aha-Effekt unter den Ausländern keine breite nachhaltige Wirkung auf die Wahrnehmung der KP-Diktatur außerhalb Chinas. Die aktuelle Naherfahrung mit dem autoritären Staat überschneidet sich jedoch mit Sorgen vor zu großer Abhängigkeit von China. Vor zwei oder drei Jahrzehnten war das komplett anders. Damals war der Wunsch nach enger Zusammenarbeit die dominierende Kraft. Außerdem war der Glaube an einen Wandel Chinas durch Handel noch weit verbreitet.
Herr Liao, die Menschen in Shanghai werden seit Wochen eingesperrt, Kinder teilweise von Ihren Eltern getrennt. Chinas Regierung ist überzeugt, nur mit ihrer strikten Zero-Covid-Strategie könne man das Virus besiegen. Wie bewerten Sie die Maßnahmen?
Die Null-Covid-Politik ist unmenschlich, sie widerspricht der Wissenschaft und dem gesunden Menschenverstand, aber leider werden die Experten mundtot gemacht. Menschlichkeit und Wissenschaft sind in einer Diktatur, in der die Politik an erster Stelle steht, wertlos.
Aber Präsident Xi Jinping verfolgt ja diese Politik, um viele weitere Menschenleben in Shanghai und ganz China zu retten.
Ihm geht es doch nicht um Menschenleben. Es geht um Macht. Er betrachtet die Menschen, als wären sie Gras. In seinen Augen gibt es nur Herrschende und Beherrschte. Sonst nichts.
Inzwischen befinden wir uns im zweiten Jahr der Pandemie und wissen nicht, wie wir aus dem Kreislauf von Neuinfektionen und Einschränkungen des Alltags wieder herauskommen sollen. Sie blicken in ihrem neuen Buch “Wuhan” allerdings auf den Ursprung. Warum?
Weil die Zeit davonrennt. Die chinesische Regierung vertuscht, sie löscht Dokumente, zensiert. Indem sie die Geschehnisse umschreibt, manipuliert sie uns alle. Ich musste das alles aufschreiben, bevor es der Führung in Peking gelingt, den Ursprung der Corona-Pandemie umzudeuten. Es ist meine Aufgabe als Schriftsteller, die Wahrheit festzuhalten.
Dabei folgen Sie unter anderem einem chinesischen Bürgerjournalisten namens Kcriss. Warum?
In China gibt es keine freie Presse. Die Staatsmedien berichten das, was die Führung vorgibt. Unabhängige Berichterstattung ist nicht gewollt. Die Einzigen, die nach der Wahrheit suchen, sind sogenannte Bürgerjournalisten wie jener Kcriss. Ich bin im Internet auf ihn aufmerksam geworden und habe alles von ihm angeschaut. Bis zu seiner Verhaftung. Denn alle, die im Umfeld des P4-Labors in Wuhan nach dem Ursprung des Virus gesucht haben, sind festgenommen worden oder verschwunden. Nun frage ich Sie: warum?
Das wissen Sie sicherlich besser als ich.
Schauen Sie, die ganze Welt lebt und leidet seit mehr als einem Jahr unter der Corona-Pandemie. Und noch immer wissen wir nicht, woher das Virus eigentlich stammt: aus der Natur, von Tieren oder doch aus einem chinesischen Labor wie dem P4-Labor in Wuhan? Aber wer in China dieser Frage offen und ehrlich nachgeht, ist in Gefahr. Es geht um die Wahrheit, deshalb mein Buch.
Wie ist es denn um die Wahrheit in China derzeit bestellt – in Zeiten von Corona?
Corona ist eine Katastrophe, ohne Zweifel. Aber der chinesischen Regierung dient sie als Vorwand für ihre Unterdrückung. 2008 gab es auch eine Katastrophe, nämlich das große Erdbeben in Sichuan. Zehntausende Menschen starben unter den Trümmern von schlecht gebauten Häusern. Doch damals konnte man dazu recherchieren und darüber schreiben, mit der Folge, dass nun Häuser besser gebaut werden und damit so ein Unglück hoffentlich nicht mehr passiert. In der Corona-Pandemie ist das anders. Über den Ursprung des Virus darf man nicht berichten. Jeder, der Fragen über das P4-Labor in Wuhan gestellt hat, wurde verhaftet. Wie sollen wir dann für die Zukunft daraus lernen?! Wahrheit darf in China nicht mehr sein.
Das klingt sehr pessimistisch.
Ich habe dennoch Hoffnung. Die Zukunft wird besser werden. Bürgerjournalisten wie Kcriss oder Zhang Zhan sind allesamt noch jung. Sie sind mutig. Das ist ein gutes Zeichen. Sie sind Chinas Zukunft.
Ihr Buch handelt aber nicht nur von Bürgerjournalisten, sondern erzählt auch die Geschichte eines gewöhnlichen Chinesen namens Ai Ding. Der will lediglich zum Frühlingsfest nach Hause zu seiner Familie nach Wuhan reisen. Aber seine Reise wird zu einer aberwitzigen Odyssee mit bitterbösem Ende.
Genau. Als das Coronavirus in China ausbricht, lebt und arbeitet Ai Ding in Deutschland. Seine Tickets hat er allerdings schon lange davor gebucht, das Frühlingsfest will er mit seiner Frau und Tochter zusammen feiern. Mit Corona hatte er bis dato also gar nichts zu tun. Doch das macht keinen Unterschied. Wie gesagt, die Corona-Pandemie dient nur als Vorwand. Was passiert, geht uns alle an. Es kann uns alle treffen. Der chinesische Staat überwacht alle. Er kontrolliert, erlaubt und verbietet völlig willkürlich. Das hat sich durch Corona weiter verschlimmert. Inzwischen ist die Führung fast allmächtig.
Nur fast allmächtig? Auf uns im Westen wirkt Chinas Führung derzeit sehr stark, Präsident Xi Jinping gilt vielen als mächtigster Mann der Welt.
Ja, ja. Aber eben nur fast allmächtig. Denn die Wahrheit ist mächtiger. Deshalb fürchtet Chinas Führung die Wahrheit. Auch das zeigt sich in der Pandemie.
Wie das?
Nur so konnte mein Dokumentarroman entstehen. Die Menschen sind klüger, und das Internet ist schneller als die staatliche Zensur. So konnte ich zu Beginn der Pandemie viele Unterlagen, wissenschaftliche Untersuchungen und Berichte aus dem Internet herunterladen und sichern. Diese Unterlagen sind wie Teile eines Puzzles, die ich in meinem Buch dann zusammengesetzt habe.
Ihr Buch zeigt allerdings mehr als nur staatliche Überwachung. Ai Ding wird nicht nur von der Regierung kontrolliert. Seine Fahrt nach Wuhan wird zum Drama, weil auch andere Chinesen, aus dem Norden oder aus dem Osten, ihm misstrauen. Nur weil seine Familie aus Wuhan stammt. Sie zeigen, wie Wuhan durch die Corona-Pandemie zu einer Art Stigma wurde, auch innerhalb der chinesischen Gesellschaft.
Ja. Schon im nächsten Dorf traut keiner mehr dem anderen. Menschen aus Wuhan wurden ausgegrenzt, selbst wenn sie gesund sind oder wie Ai Ding beim Corona-Ausbruch gar nicht in Wuhan waren. In der Pandemie ist das tiefe Misstrauen innerhalb der chinesischen Gesellschaft wieder offen zutage getreten. Die Gründe reichen zurück bis in die Kulturrevolution.
Das ist schon lange her.
Ja, aber es wirkt bis heute. Hinzu kommt ein Führer wie Xi Jinping. Er hat von Mao gelernt und verbindet nun die alten Methoden mit neuer Technik wie Überwachungskameras und Gesichtserkennung.
Was bedeutet all das für das Zusammenleben? Wir im Westen sehen China oftmals als eine feste, geschlossene Einheit.
Das täuscht. Chinas Gesellschaft ist zersplittert, sie ist geprägt von Misstrauen. Es war schon da, aber das Virus hat es wieder verstärkt. Das macht die Menschen anfällig. In Demokratien kann man offen sprechen, wir beide können hier offen sprechen. Sie haben mir schon zwei Mal widersprochen. Das geht hier, in China aber nicht. Menschen vertrauen sich nicht, sondern haben Angst – vor anderen, vor dem Virus, vor Wuhan. Davon profitieren Diktaturen, wie die in China.
Ist das ein China-Problem?
Nein, das ist auch Ihr Problem. Denn die chinesische Regierung sagt den Menschen, dass auch das Ausland schlecht sei. So schottet sich China immer mehr ab, der Austausch wird immer schwieriger. Doch wenn man sich nicht mehr kennt, befördert das Angst und Misstrauen. Dagegen hilft nur Offenheit und Wahrheit.
Liao Yiwu ist Schriftsteller, Dichter und Musiker. In seinen Werken wie “Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten” oder auch “Die Kugel und das Opium: Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens” gibt er den Verstoßenen und Verfolgten eine Stimme. 2011 erhielt der den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein aktuelles Buch: “Wuhan – Dokumentarroman”, S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 24. Euro.
China hat zwei wichtige internationale Konventionen gegen Zwangsarbeit ratifiziert. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses billigte am Mittwoch die zwei Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Dabei handelt es sich um
In beiden Konventionen verpflichten sich die ILO-Mitglieder, die diese Übereinkommen ratifiziert haben, jegliche Form von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu unterdrücken und nicht anzuwenden – auch nicht “als Mittel des politischen Zwangs, der Bildung oder als Strafe für das Halten oder Ausdrücken politischer Ansichten oder Ansichten, die dem etablierten politischen, sozialen oder wirtschaftlichen System ideologisch entgegengesetzt sind”. China wird vorgeworfen, Formen von Zwangsarbeit unter anderem in der muslimisch geprägten nordwestlichen Region Xinjiang anzuwenden. Peking weist das zurück.
Die beiden Konventionen gehören nicht zuletzt wegen Xinjiang zu den größten Streitpunkten in den nun schon fast acht Jahre andauernden Verhandlungen über das Investitionsabkommen zwischen der EU und China (CAI). Für dieses gibt es bislang nur eine politische Einigung.
Die Ratifizierung der beiden ILO-Konventionen wird nun jedoch nicht automatisch zu einer Unterzeichnung von CAI führen. Das Abkommen liegt im EU-Parlament wegen gegenseitig verhängten Sanktionen auf Eis. Weder die EU noch die chinesische Seite weichen derzeit von den Strafmaßnahmen ab. Das EU-Parlament hat eine Rücknahme der Sanktionen gegen Abgeordnete des Europaparlaments jedoch zur Bedingung gemacht, dass an CAI weitergearbeitet wird. ari
Die Online-Videoplattform Youtube hat den Kanal der Wahlkampagne von Hongkongs voraussichtlich künftigem Regierungschef John Lee aus dem Netz genommen. Wie die South China Morning Post am Mittwoch berichtete, entfernte die zum US-Konzern Google gehörende Plattform sämtliche Inhalte des Kanals “Johnlee2022”. Google bezog sich dabei nach Angaben der Zeitung auf “geltende US-Sanktionsgesetze”. Youtube setze “entsprechende Richtlinien im Rahmen seiner Nutzungsbedingungen durch”, sagte ein Sprecher dem Blatt.
Lee steht seit 2020 unter US-Sanktionen – ebenso wie mindestens ein Dutzend ehemaliger und aktueller Beamter, die an der Umsetzung des 2020 auf Geheiß Pekings erlassenen Sicherheitsgesetzes in der Sonderverwaltungszone beteiligt waren. Lee selbst und Mitarbeiter seiner Wahlkampagne zeigten sich enttäuscht und empört von dem Aus des Youtube-Kanals. “Die sogenannte Sanktion, die von der US-Regierung wegen meiner Arbeit zur Wahrung der nationalen Sicherheit verhängt wurde, ist unangemessen, mobbend und will bewusst Druck auf mich ausüben”, sagte Lee am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Die Entscheidung werde ihn nicht umstimmen. “Es lässt mich nur glauben, dass das, was ich tue, richtig ist.” Lee kündigte an, über andere Kanäle weiter mit den Menschen zu kommunizieren.
John Lee war bis vor kurzem als Chefsekretär die Nummer Zwei in der Hongkonger Verwaltungshierarchie, unter Regierungschefin Carrie Lam. Er ist der einzige Kandidat für das Amt des Regierungschefs, den im Mai ein handverlesenes chinafreundliches Wahlkomitee bestimmen wird. Der ehemalige Polizist Lee gilt als Hardliner. 2020 war er Sicherheitsminister Hongkongs und mitverantwortlich für das Sicherheitsgesetz, das sogenannte Akte der Sezession, Subversion, Terrorismus und Absprachen mit ausländischen Streitkräften verbietet. Damals warf er den USA Doppelmoral und Heuchelei vor.
Am Mittwoch ist in Hongkong zudem erstmals ein Aktivist nach altem Kolonialrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Der frühere Radiomoderator und Vizevorsitzende der oppositionellen “People Party” muss wegen “Aufruhrs” für 40 Monate ins Gefängnis. Er war bereits im März schuldig gesprochen worden und befindet sich bereits seit einem Jahr in Haft. Die Anklage nach einem alten britischen und nie abgeschafften Gesetz aber zeigt, dass die Behörden über Sicherheitsgesetz hinaus auch andere rechtliche Instrumente gegen die oppositionelle Demokratiebewegung einsetzen wollen. ck
Das Verschwinden von drei Tibetern beschäftigt den UN-Menschenrechtsrat. In einem Schreiben an den Repräsentanten der Volksrepublik China bitten die Sonderberichterstatter des Gremiums mit Sitz in der Schweiz um Informationen zu Aufenthaltsort und Gesundheitszustand des Schriftstellers Lobsang Lhundup, des Sängers Lhundrup Dhrakpa und der Lehrerin Rinchen Kyi. Alle drei waren zwischen 2019 und 2021 festgenommen worden. Lhundrup und Dhraka wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Kyi ist ohne offizielle Verurteilung seit August 2021 verschwunden.
Die UN-Experten äußern sich besorgt darüber, dass die Intellektuellen willkürlich festgenommen worden seien, weil sie ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung, künstlerische Freiheit und Teilnahme am kulturellen Leben wahrgenommen hatten. Die Inhaftierten setzten sich laut der Sonderberichterstatter für den Erhalt der tibetischen Sprache und Kultur ein. Die UN-Sonderberichterstatter appellieren in ihrem Schreiben an die chinesische Regierung zudem, sie möge den Inhaftierten “gemäß Artikel 9, 10 und 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht garantieren.
Der International Campaign for Tibet begrüßte die Initiative der UN-Sonderberichterstatter. “Die Fälle stehen für viele Tibeter, die aufgrund von Kritik an staatlicher Politik, wegen ihres Bürgerengagements, ihrer religiösen Überzeugungen und der Ausübung ihrer Kultur verfolgt werden. Die Inhaftierten müssen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten, ihren Familien muss ermöglicht werden, sie in der Haft zu besuchen und sie müssen angemessen medizinisch versorgt werden” sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller. grz
“Join Us In Winter” hieß eine der offiziellen Hymnen der diesjährigen Olympischen Winterspiele, die Ende Januar von der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua vorgestellt wurde. Das auf englisch und chinesisch gesungene Lied war – wie auch die anderen Olympia-Songs – an Kitsch kaum zu überbieten. Vorgetragen wurden geniale Textzeilen wie “Side by side touch the sky” vom 24-jährigen Popstar Zeng Shunxi und der Influencerin und Xinhua-Reporterin Lu Binqi. Den Rap-Part in der Mitte übernahm die “rote” Rap-Crew CD Rev aus Sichuan, die auch als “Chengdu Revolution” 成都事变 bekannt ist.
Die Mitglieder Truppe haben die passend Rapper-mäßigen Namen: Wang “Chuckie” Zixin, Li “Pissy” Yijie, Tan “N.O.G.” Yunwen und Luo “Roy” Jinhui. Ihren Stil haben sie sich beim amerikanischen Gangsta Rap abgeguckt. Wobei “Government Rap” hier besser passen würde: CD Rev sind dafür bekannt, politische Themen, die gerade ganz oben auf der Staatsagenda stehen, maximal patriotisch für die Jugend aufzubereiten. Ihre erste Single “The Force Of Red” erschien im Januar 2016 kurz nach der Präsidentschaftswahl in Taiwan. Wahlsiegerin Tsai Ing-wen wird darin als “Bitch” attackiert. “Taiwan ist kein Land! Die Insel gehört uns”, skandiert die Gruppe in der ersten Strophe. Westliche Journalisten, die betonen, dass Taiwan de facto unabhängig ist, werden in dem Song als “media white trash, punk ass fuckers” verhöhnt.
Bandmitglied Wang Zixin findet den Song aus heutiger Sicht “ein bisschen extrem”. Die Schimpfworte sind seit den Anfangstagen der Gruppe weniger geworden, inhaltlich packen die vier Mittzwanziger aber weiterhin heiße Eisen an. 2017 empörte sich die Crew im Musikvideo zu “No Thaad” vor der Kulisse der Verbotenen Stadt über den Bau eines US-Raketenabwehrsystems in Südkorea. In “South China Sea” bekennen die vier, unterlegt von Bildern chinesischer Flugzeugträger und Panzer, “China ist meine Religion – wer unser Meer an sich reißen will, soll zur Hölle fahren.” Natürlich waren auch die Proteste in Hong Kong Thema bei den roten Rappern. Im Refrain von “Hongkong’s Fall” leihen sich die Patrioten sogar die Stimme Donalds Trumps, der in Form eines gesampelten Interviewfetzens erklärt, dass Hongkong Teil von China sei, und die Chinesen ihre Probleme “unter sich ausmachen müssen”.
Hin und wieder klingt auch bei CD Rev milde Sozialkritik an, etwa wenn sie im Lied “This is China” den Milchpulverskandal von 2008 oder die Umweltverschmutzung der vergangenen Jahre thematisieren. Zurückgeführt werden diese Probleme jedoch unter anderem auf Spione, Verräter, Dollar-hungrige Geschäftsleute und korrupte Politiker, denen Xi Jinping ja bekanntlich den Gar ausgemacht hat. “Wir lieben unser Land” singen CD Rev im Refrain. China sei ja noch ein Entwicklungsland. Zur Verwirklichung des chinesischen Traumes fehlen jedoch nur noch ein paar Meter.
Als Band zusammengefunden haben sich CD Rev angeblich am 1. Oktober 2015 – dem 66. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Einer ihrer Hauptförderer ist der Tech-Entrepreneur Rao Jin, der 2008 Chinas erstes Privatmedium gründete, mit dem er ein Gegengewicht zu westlicher Berichterstattung über China etablieren wollte. Zunächst hieß sein Projekt provokant “Anti-CNN”, mittlerweile firmiert es unter dem Namen April Media. Außerdem arbeitet CD Rev eng mit der kommunistischen Jugendliga und den Staatsmedien zusammen. Manchmal erhält die Gruppe sogar direkte Unterstützung hoher Beamter. Im vergangenen August teilte Zhao Lijian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, ein Musikvideo auf Twitter, in dem die Verschwörungstheorie bekräftigt wird, dass das Coronavirus aus dem US-amerikanischen Fort Detrick stammt, einem Forschungslabor für militärische Kampfstoffe in Maryland.
Trotz aller Parteinähe behaupten CD Rev, keine Mitglieder der kommunistischen Partei zu sein. In einem Porträt auf Weixin erklärte Bandleader Wang jedoch, Mao Zedong “für immer zu folgen”, denn: “Je mehr du über ihn weißt, umso mehr musst du ihn lieben.” Dass eine Gruppe mit solch einer nationalistischen Message Teil des offiziellen Olympia-Narrativs war, spricht Bände. Oder wie CR Rev im Song “The Force Of Red” rappen: “Erkläre Uncle Sam nur eine Sache – der rote König ist zurück.” Fabian Peltsch
als Ausländer lebt es sich in der Volksrepublik China oftmals sehr angenehm. Zumindest als Staatsbürger einer großen Industrienation. Die Annehmlichkeiten und Privilegien gehen so weit, dass man glatt vergessen könnte, wo man sich aufhält: nämlich in einer der brutalsten Diktaturen der Welt. Durch das Bürofenster in Shanghai oder vom Rücksitz eines Dienstwagens kann schnell der Eindruck entstehen, dass autoritäre Politik vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie es ihre Kritiker immer behaupten.
Sicher hat jeder Ausländer schon irgendwelche chinesische Schauergeschichten gehört, in denen Menschen- oder Bürgerrechte schwer verletzt worden sind. Doch über dem T-Bone-Steak im Restaurant am Bund entwickeln die Schicksale hinter diesen Geschichten wenig Beigeschmack. Ihr Echo hallt aus den vermeintlichen Untiefen der Volksrepublik, um die Chinas Modernisierung einen großen Bogen gemacht hat. Zwar erreichen sie auch den zivilisierten Teil des Landes, aber sie kommen von so fern und sind so leise, dass sie die hektische Lautstärke der gesellschaftlichen Zentren unmöglich übertönen.
Und dann kommt der Lockdown. Plötzlich sind auch die Ausländer von drastischen Einschränkungen der persönlichen Freiheit betroffen. Sie spüren den Verlust der eigenen Souveränität gegenüber dem Staat, der sie so behandelt, wie er seine eigenen Bürger behandelt, wenn es um seine Kerninteressen geht. Er nimmt keine Rücksicht auf Nationalitäten, geschweige denn Befindlichkeiten. Die Diktatur rückt den Gästen des Landes, die sich weit weg wähnten vom autoritären Wesen, hautnah.
Wir haben mit Betroffenen gesprochen, deren China-Bild in sich zusammenbrach, als der Lockdown begann. Sie alle sind schockiert und fassungslos. Sie haben erkannt, dass eine Diktatur immer nur ein erzwungener Kompromiss sein kann zwischen Staat und seinen Bürgern. Dass es eigene Erfahrungen benötigt, um das festzustellen, kann man niemandem vorwerfen. Dass man jenen, die diese Erfahrungen in der Vergangenheit schon gesammelt haben, nicht so recht glauben mochte, dagegen schon.
In weniger als drei Wochen hat sich das China-Bild der 19-jährigen Lisa aus Münster komplett gewandelt. “Ich muss meine Meinung grundlegend revidieren. Ich habe die Kritik an diesem politischen System immer für völlig übertrieben gehalten. Jetzt bin ich fassungslos, was es tatsächlich bedeutet, in einer Diktatur zu leben“, sagt die junge Frau, deren chinesische Eltern bereits vor Jahrzehnten aus Shanghai nach Deutschland ausgewandert waren, um der autoritären Politik der Volksrepublik zu entfliehen.
Lisa wuchs in Deutschland mit Meinungsfreiheit und im Rechtsstaat auf. Dennoch wollte sie die Warnungen ihrer Familie vor der Unnachgiebigkeit der chinesischen Staatsführung nie so recht für bare Münze nehmen. Auch deshalb ging sie vor wenigen Monaten guter Dinge nach Shanghai, um ihre Mandarin-Sprachkenntnisse auf Vordermann zu bringen.
Als sich der Lockdown Ende März anbahnte, entschied sie sich, auf die chinesische Urlaubsinsel Hainan zu fliehen. Das bewahrte sie jedoch nicht vor einem positiven Coronavirus-Test. Schon seit mehr als zwei Wochen befindet sich Lisa deshalb in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Sanya in Quarantäne. “Ich fühle mich hier völlig hilflos, der Willkür von Behörden ausgesetzt und ohne Schutz der Privatsphäre“, sagt sie im Gespräch mit China.Table. Sie habe den Entschluss getroffen, die Heimat ihrer Eltern und Großeltern schnellstmöglich zu verlassen und in Zukunft nicht mehr in China leben zu wollen.
Die bedingungslose Umsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen in China versetzt viele Ausländer in Schockzustand. Zum ersten Mal während ihrer Zeit in China spüren sie den Verlust der eigenen Souveränität gegenüber dem Staat. Plötzlich rückt die Diktatur den privilegierten Gästen aus demokratischen Staaten ganz nah. “Als Ausländer lebst du hier in der Blase einer Subkultur, in der du von dem Wesen des Systems und den Konsequenzen normalerweise überhaupt nichts mitbekommst”, sagt Lisa.
Es ist nicht das erste Mal in Chinas jüngerer Geschichte, dass romantische Verklärung der Volksrepublik durch ausländische Ortsansässige von der Realität eingeholt wird. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 bedeutete eine dramatische Zäsur. Und auch die Handhabung des Ausbruchs des Corona-Vorläufers Sars im Jahr 2002 offenbarte zahlreichen Ausländern die Schattenseiten eines Machtmonopols in den Händen einer einzigen Partei.
Doch im Vergleich zu damals hat sich Chinas Rolle in der Welt drastisch verändert. Den Aufstieg des Landes zur zweitgrößten Volkswirtschaft verstehen manche als Rechtfertigung dafür, dass das autoritäre System seine Bürger von politischer Willensbildung ausschließt. Zwanzig Jahre nach dem Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation und der Ausrichtung von zwei Olympischen Spielen können sich viele Gäste im Land zudem nicht vorstellen, dass die KP-Diktatur auf ihre Reputation im Ausland keinen Wert legt, wenn sie eigene Interessen in Gefahr sieht.
Die totale Abhängigkeit von den Behörden und das Gefühl der Handlungsunfähigkeit hat auch den 48-Jährigen Ralf überrascht. “Einerseits schockiert mich die Rücksichtslosigkeit der Behörden gegenüber dem Einzelnen. Andererseits macht es mich sprachlos, wie chaotisch, unstrukturiert und unlogisch der Lockdown und die Isolation von positiv Getesteten umgesetzt werden”, sagt der Berliner, der seit knapp drei Jahren in Shanghai lebt. “Was wir hier erleben, spottet jeder Beschreibung. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut. Keiner will für irgendetwas verantwortlich sein, und niemand trifft hier im Interesse der Bürger eigenständige Entscheidungen”, sagt er.
Ralf gibt zu, dass ihn die Situation in ein Gefühl der Angst versetzt. “Es gibt überhaupt keine Transparenz. Jederzeit kann es an deiner Wohnungstür klopfen und jemand will dich in ein Quarantäne-Lager verfrachten”, sagte er gegenüber China.Table. Nur zwei Tage später wurde er tatsächlich zur Isolation in ein Hotel gebracht. Anlass war ein positiver Test, der bereits zwei Wochen alt war.
Ein gut neunminütiges Telefongespräch zwischen ihm und einer chinesischen Mitarbeiterin eines Nachbarschaftskomitees darüber erlangte zu Beginn der Woche Aufmerksamkeit in Sozialmedien. Der Deutsche beschwert sich darin über die örtliche Covid-Politik. In den Kommentarspalten finden sich Bewunderung für die offene Beschwerde, aber auch viel Kritik an dem “Ausländer”, der sich das nur traue, weil er nicht mit drakonischen Strafen wie chinesische Staatsbürger rechnen müsse. Er hat mittlerweile entschieden, China schnellstmöglich zu verlassen.
Einen ähnlichen Impuls nimmt Janine Jakob wahr. “Ich fühle mich nicht mehr frei in China”, sagt die 29-Jährige. Sie erlebt seit einigen Tagen eine Form der Erniedrigung und Einschüchterung, die ihr schwer zu schaffen macht. Nach einem positiven Befund Anfang des Monats war sie, ähnlich wie Hayda, aus unerfindlichen Gründen nicht in Quarantäne gebracht worden. Stattdessen isoliert sie sich seitdem in ihrer Wohnung im Shanghaier Stadtbezirk Jing’an.
Nach einer Reihe negativer Antigen-Tests über mehrere Tage hatte sie jedoch eigenmächtig ihre Wohnung verlassen, um sich im Innenhof ihrer Wohnanlage für einen PCR-Test einzureihen. Ein negativer PCR-Test bietet ihr die einzige Möglichkeit, sich zumindest vor die Wohnungstür zu wagen, um beispielsweise den Müll herunterzubringen. Andernfalls ist ihr auch das verboten.
Was folgte, waren Denunziationen und Schuldzuweisungen durch Nachbarn. Die fürchteten weitere Ansteckungen in der Wohnanlage und damit wochenlange Einschränkungen für alle. Die örtliche Polizei rief Jakob an und warf ihr vor, sie habe die Corona-Regeln gebrochen. “Ich habe mich bei Nachbarn und Polizei entschuldigt und gesagt, dass ich die Regeln nicht bewusst brechen wollte”, sagt sie.
Ihre chinesische Mitbewohnerin hält die Deutsche jetzt genau im Auge und gibt ihr über das Mobiltelefon Anweisungen, was sie zu tun und zu lassen habe. Hilflos musste Jakob zuschauen, wie die Mitbewohnerin einen großen Teil ihres Gemüses wegschmiss. Das Badezimmer darf sie nur benutzen, wenn die Mitbewohnerin ihr per Wechat das Okay gibt. “Ich kann der Frau nicht mehr vertrauen. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das von ihrer Mutter bestraft wird“, sagt Jakob. Zu allem Überfluss machte ihr ein Freund Angst, dass ihr wegen Verstoßes gegen Quarantäne-Regeln drei Jahren Haft drohten.
“Ich versuche, das Positive in allem zu sehen”, sagt Jakob, die sich als Persönlichkeitstrainerin selbstständig gemacht hat und nun all die mentalen Techniken anwendet, die sie üblicherweise ihren Kunden vermittelt. Sie habe sich immer langfristig in China gesehen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen stellt sie inzwischen jedoch ihren weiteren Aufenthalt im Land infrage. “War ich zu naiv?”, sagt sie. Und schickt die Antwort gleich hinterher: “Ja.”
Nach dem Tiananmen-Massaker und dem Sars-Ausbruch hatte der Aha-Effekt unter den Ausländern keine breite nachhaltige Wirkung auf die Wahrnehmung der KP-Diktatur außerhalb Chinas. Die aktuelle Naherfahrung mit dem autoritären Staat überschneidet sich jedoch mit Sorgen vor zu großer Abhängigkeit von China. Vor zwei oder drei Jahrzehnten war das komplett anders. Damals war der Wunsch nach enger Zusammenarbeit die dominierende Kraft. Außerdem war der Glaube an einen Wandel Chinas durch Handel noch weit verbreitet.
Herr Liao, die Menschen in Shanghai werden seit Wochen eingesperrt, Kinder teilweise von Ihren Eltern getrennt. Chinas Regierung ist überzeugt, nur mit ihrer strikten Zero-Covid-Strategie könne man das Virus besiegen. Wie bewerten Sie die Maßnahmen?
Die Null-Covid-Politik ist unmenschlich, sie widerspricht der Wissenschaft und dem gesunden Menschenverstand, aber leider werden die Experten mundtot gemacht. Menschlichkeit und Wissenschaft sind in einer Diktatur, in der die Politik an erster Stelle steht, wertlos.
Aber Präsident Xi Jinping verfolgt ja diese Politik, um viele weitere Menschenleben in Shanghai und ganz China zu retten.
Ihm geht es doch nicht um Menschenleben. Es geht um Macht. Er betrachtet die Menschen, als wären sie Gras. In seinen Augen gibt es nur Herrschende und Beherrschte. Sonst nichts.
Inzwischen befinden wir uns im zweiten Jahr der Pandemie und wissen nicht, wie wir aus dem Kreislauf von Neuinfektionen und Einschränkungen des Alltags wieder herauskommen sollen. Sie blicken in ihrem neuen Buch “Wuhan” allerdings auf den Ursprung. Warum?
Weil die Zeit davonrennt. Die chinesische Regierung vertuscht, sie löscht Dokumente, zensiert. Indem sie die Geschehnisse umschreibt, manipuliert sie uns alle. Ich musste das alles aufschreiben, bevor es der Führung in Peking gelingt, den Ursprung der Corona-Pandemie umzudeuten. Es ist meine Aufgabe als Schriftsteller, die Wahrheit festzuhalten.
Dabei folgen Sie unter anderem einem chinesischen Bürgerjournalisten namens Kcriss. Warum?
In China gibt es keine freie Presse. Die Staatsmedien berichten das, was die Führung vorgibt. Unabhängige Berichterstattung ist nicht gewollt. Die Einzigen, die nach der Wahrheit suchen, sind sogenannte Bürgerjournalisten wie jener Kcriss. Ich bin im Internet auf ihn aufmerksam geworden und habe alles von ihm angeschaut. Bis zu seiner Verhaftung. Denn alle, die im Umfeld des P4-Labors in Wuhan nach dem Ursprung des Virus gesucht haben, sind festgenommen worden oder verschwunden. Nun frage ich Sie: warum?
Das wissen Sie sicherlich besser als ich.
Schauen Sie, die ganze Welt lebt und leidet seit mehr als einem Jahr unter der Corona-Pandemie. Und noch immer wissen wir nicht, woher das Virus eigentlich stammt: aus der Natur, von Tieren oder doch aus einem chinesischen Labor wie dem P4-Labor in Wuhan? Aber wer in China dieser Frage offen und ehrlich nachgeht, ist in Gefahr. Es geht um die Wahrheit, deshalb mein Buch.
Wie ist es denn um die Wahrheit in China derzeit bestellt – in Zeiten von Corona?
Corona ist eine Katastrophe, ohne Zweifel. Aber der chinesischen Regierung dient sie als Vorwand für ihre Unterdrückung. 2008 gab es auch eine Katastrophe, nämlich das große Erdbeben in Sichuan. Zehntausende Menschen starben unter den Trümmern von schlecht gebauten Häusern. Doch damals konnte man dazu recherchieren und darüber schreiben, mit der Folge, dass nun Häuser besser gebaut werden und damit so ein Unglück hoffentlich nicht mehr passiert. In der Corona-Pandemie ist das anders. Über den Ursprung des Virus darf man nicht berichten. Jeder, der Fragen über das P4-Labor in Wuhan gestellt hat, wurde verhaftet. Wie sollen wir dann für die Zukunft daraus lernen?! Wahrheit darf in China nicht mehr sein.
Das klingt sehr pessimistisch.
Ich habe dennoch Hoffnung. Die Zukunft wird besser werden. Bürgerjournalisten wie Kcriss oder Zhang Zhan sind allesamt noch jung. Sie sind mutig. Das ist ein gutes Zeichen. Sie sind Chinas Zukunft.
Ihr Buch handelt aber nicht nur von Bürgerjournalisten, sondern erzählt auch die Geschichte eines gewöhnlichen Chinesen namens Ai Ding. Der will lediglich zum Frühlingsfest nach Hause zu seiner Familie nach Wuhan reisen. Aber seine Reise wird zu einer aberwitzigen Odyssee mit bitterbösem Ende.
Genau. Als das Coronavirus in China ausbricht, lebt und arbeitet Ai Ding in Deutschland. Seine Tickets hat er allerdings schon lange davor gebucht, das Frühlingsfest will er mit seiner Frau und Tochter zusammen feiern. Mit Corona hatte er bis dato also gar nichts zu tun. Doch das macht keinen Unterschied. Wie gesagt, die Corona-Pandemie dient nur als Vorwand. Was passiert, geht uns alle an. Es kann uns alle treffen. Der chinesische Staat überwacht alle. Er kontrolliert, erlaubt und verbietet völlig willkürlich. Das hat sich durch Corona weiter verschlimmert. Inzwischen ist die Führung fast allmächtig.
Nur fast allmächtig? Auf uns im Westen wirkt Chinas Führung derzeit sehr stark, Präsident Xi Jinping gilt vielen als mächtigster Mann der Welt.
Ja, ja. Aber eben nur fast allmächtig. Denn die Wahrheit ist mächtiger. Deshalb fürchtet Chinas Führung die Wahrheit. Auch das zeigt sich in der Pandemie.
Wie das?
Nur so konnte mein Dokumentarroman entstehen. Die Menschen sind klüger, und das Internet ist schneller als die staatliche Zensur. So konnte ich zu Beginn der Pandemie viele Unterlagen, wissenschaftliche Untersuchungen und Berichte aus dem Internet herunterladen und sichern. Diese Unterlagen sind wie Teile eines Puzzles, die ich in meinem Buch dann zusammengesetzt habe.
Ihr Buch zeigt allerdings mehr als nur staatliche Überwachung. Ai Ding wird nicht nur von der Regierung kontrolliert. Seine Fahrt nach Wuhan wird zum Drama, weil auch andere Chinesen, aus dem Norden oder aus dem Osten, ihm misstrauen. Nur weil seine Familie aus Wuhan stammt. Sie zeigen, wie Wuhan durch die Corona-Pandemie zu einer Art Stigma wurde, auch innerhalb der chinesischen Gesellschaft.
Ja. Schon im nächsten Dorf traut keiner mehr dem anderen. Menschen aus Wuhan wurden ausgegrenzt, selbst wenn sie gesund sind oder wie Ai Ding beim Corona-Ausbruch gar nicht in Wuhan waren. In der Pandemie ist das tiefe Misstrauen innerhalb der chinesischen Gesellschaft wieder offen zutage getreten. Die Gründe reichen zurück bis in die Kulturrevolution.
Das ist schon lange her.
Ja, aber es wirkt bis heute. Hinzu kommt ein Führer wie Xi Jinping. Er hat von Mao gelernt und verbindet nun die alten Methoden mit neuer Technik wie Überwachungskameras und Gesichtserkennung.
Was bedeutet all das für das Zusammenleben? Wir im Westen sehen China oftmals als eine feste, geschlossene Einheit.
Das täuscht. Chinas Gesellschaft ist zersplittert, sie ist geprägt von Misstrauen. Es war schon da, aber das Virus hat es wieder verstärkt. Das macht die Menschen anfällig. In Demokratien kann man offen sprechen, wir beide können hier offen sprechen. Sie haben mir schon zwei Mal widersprochen. Das geht hier, in China aber nicht. Menschen vertrauen sich nicht, sondern haben Angst – vor anderen, vor dem Virus, vor Wuhan. Davon profitieren Diktaturen, wie die in China.
Ist das ein China-Problem?
Nein, das ist auch Ihr Problem. Denn die chinesische Regierung sagt den Menschen, dass auch das Ausland schlecht sei. So schottet sich China immer mehr ab, der Austausch wird immer schwieriger. Doch wenn man sich nicht mehr kennt, befördert das Angst und Misstrauen. Dagegen hilft nur Offenheit und Wahrheit.
Liao Yiwu ist Schriftsteller, Dichter und Musiker. In seinen Werken wie “Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten” oder auch “Die Kugel und das Opium: Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens” gibt er den Verstoßenen und Verfolgten eine Stimme. 2011 erhielt der den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein aktuelles Buch: “Wuhan – Dokumentarroman”, S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 24. Euro.
China hat zwei wichtige internationale Konventionen gegen Zwangsarbeit ratifiziert. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses billigte am Mittwoch die zwei Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Dabei handelt es sich um
In beiden Konventionen verpflichten sich die ILO-Mitglieder, die diese Übereinkommen ratifiziert haben, jegliche Form von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu unterdrücken und nicht anzuwenden – auch nicht “als Mittel des politischen Zwangs, der Bildung oder als Strafe für das Halten oder Ausdrücken politischer Ansichten oder Ansichten, die dem etablierten politischen, sozialen oder wirtschaftlichen System ideologisch entgegengesetzt sind”. China wird vorgeworfen, Formen von Zwangsarbeit unter anderem in der muslimisch geprägten nordwestlichen Region Xinjiang anzuwenden. Peking weist das zurück.
Die beiden Konventionen gehören nicht zuletzt wegen Xinjiang zu den größten Streitpunkten in den nun schon fast acht Jahre andauernden Verhandlungen über das Investitionsabkommen zwischen der EU und China (CAI). Für dieses gibt es bislang nur eine politische Einigung.
Die Ratifizierung der beiden ILO-Konventionen wird nun jedoch nicht automatisch zu einer Unterzeichnung von CAI führen. Das Abkommen liegt im EU-Parlament wegen gegenseitig verhängten Sanktionen auf Eis. Weder die EU noch die chinesische Seite weichen derzeit von den Strafmaßnahmen ab. Das EU-Parlament hat eine Rücknahme der Sanktionen gegen Abgeordnete des Europaparlaments jedoch zur Bedingung gemacht, dass an CAI weitergearbeitet wird. ari
Die Online-Videoplattform Youtube hat den Kanal der Wahlkampagne von Hongkongs voraussichtlich künftigem Regierungschef John Lee aus dem Netz genommen. Wie die South China Morning Post am Mittwoch berichtete, entfernte die zum US-Konzern Google gehörende Plattform sämtliche Inhalte des Kanals “Johnlee2022”. Google bezog sich dabei nach Angaben der Zeitung auf “geltende US-Sanktionsgesetze”. Youtube setze “entsprechende Richtlinien im Rahmen seiner Nutzungsbedingungen durch”, sagte ein Sprecher dem Blatt.
Lee steht seit 2020 unter US-Sanktionen – ebenso wie mindestens ein Dutzend ehemaliger und aktueller Beamter, die an der Umsetzung des 2020 auf Geheiß Pekings erlassenen Sicherheitsgesetzes in der Sonderverwaltungszone beteiligt waren. Lee selbst und Mitarbeiter seiner Wahlkampagne zeigten sich enttäuscht und empört von dem Aus des Youtube-Kanals. “Die sogenannte Sanktion, die von der US-Regierung wegen meiner Arbeit zur Wahrung der nationalen Sicherheit verhängt wurde, ist unangemessen, mobbend und will bewusst Druck auf mich ausüben”, sagte Lee am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Die Entscheidung werde ihn nicht umstimmen. “Es lässt mich nur glauben, dass das, was ich tue, richtig ist.” Lee kündigte an, über andere Kanäle weiter mit den Menschen zu kommunizieren.
John Lee war bis vor kurzem als Chefsekretär die Nummer Zwei in der Hongkonger Verwaltungshierarchie, unter Regierungschefin Carrie Lam. Er ist der einzige Kandidat für das Amt des Regierungschefs, den im Mai ein handverlesenes chinafreundliches Wahlkomitee bestimmen wird. Der ehemalige Polizist Lee gilt als Hardliner. 2020 war er Sicherheitsminister Hongkongs und mitverantwortlich für das Sicherheitsgesetz, das sogenannte Akte der Sezession, Subversion, Terrorismus und Absprachen mit ausländischen Streitkräften verbietet. Damals warf er den USA Doppelmoral und Heuchelei vor.
Am Mittwoch ist in Hongkong zudem erstmals ein Aktivist nach altem Kolonialrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Der frühere Radiomoderator und Vizevorsitzende der oppositionellen “People Party” muss wegen “Aufruhrs” für 40 Monate ins Gefängnis. Er war bereits im März schuldig gesprochen worden und befindet sich bereits seit einem Jahr in Haft. Die Anklage nach einem alten britischen und nie abgeschafften Gesetz aber zeigt, dass die Behörden über Sicherheitsgesetz hinaus auch andere rechtliche Instrumente gegen die oppositionelle Demokratiebewegung einsetzen wollen. ck
Das Verschwinden von drei Tibetern beschäftigt den UN-Menschenrechtsrat. In einem Schreiben an den Repräsentanten der Volksrepublik China bitten die Sonderberichterstatter des Gremiums mit Sitz in der Schweiz um Informationen zu Aufenthaltsort und Gesundheitszustand des Schriftstellers Lobsang Lhundup, des Sängers Lhundrup Dhrakpa und der Lehrerin Rinchen Kyi. Alle drei waren zwischen 2019 und 2021 festgenommen worden. Lhundrup und Dhraka wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Kyi ist ohne offizielle Verurteilung seit August 2021 verschwunden.
Die UN-Experten äußern sich besorgt darüber, dass die Intellektuellen willkürlich festgenommen worden seien, weil sie ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung, künstlerische Freiheit und Teilnahme am kulturellen Leben wahrgenommen hatten. Die Inhaftierten setzten sich laut der Sonderberichterstatter für den Erhalt der tibetischen Sprache und Kultur ein. Die UN-Sonderberichterstatter appellieren in ihrem Schreiben an die chinesische Regierung zudem, sie möge den Inhaftierten “gemäß Artikel 9, 10 und 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht garantieren.
Der International Campaign for Tibet begrüßte die Initiative der UN-Sonderberichterstatter. “Die Fälle stehen für viele Tibeter, die aufgrund von Kritik an staatlicher Politik, wegen ihres Bürgerengagements, ihrer religiösen Überzeugungen und der Ausübung ihrer Kultur verfolgt werden. Die Inhaftierten müssen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten, ihren Familien muss ermöglicht werden, sie in der Haft zu besuchen und sie müssen angemessen medizinisch versorgt werden” sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller. grz
“Join Us In Winter” hieß eine der offiziellen Hymnen der diesjährigen Olympischen Winterspiele, die Ende Januar von der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua vorgestellt wurde. Das auf englisch und chinesisch gesungene Lied war – wie auch die anderen Olympia-Songs – an Kitsch kaum zu überbieten. Vorgetragen wurden geniale Textzeilen wie “Side by side touch the sky” vom 24-jährigen Popstar Zeng Shunxi und der Influencerin und Xinhua-Reporterin Lu Binqi. Den Rap-Part in der Mitte übernahm die “rote” Rap-Crew CD Rev aus Sichuan, die auch als “Chengdu Revolution” 成都事变 bekannt ist.
Die Mitglieder Truppe haben die passend Rapper-mäßigen Namen: Wang “Chuckie” Zixin, Li “Pissy” Yijie, Tan “N.O.G.” Yunwen und Luo “Roy” Jinhui. Ihren Stil haben sie sich beim amerikanischen Gangsta Rap abgeguckt. Wobei “Government Rap” hier besser passen würde: CD Rev sind dafür bekannt, politische Themen, die gerade ganz oben auf der Staatsagenda stehen, maximal patriotisch für die Jugend aufzubereiten. Ihre erste Single “The Force Of Red” erschien im Januar 2016 kurz nach der Präsidentschaftswahl in Taiwan. Wahlsiegerin Tsai Ing-wen wird darin als “Bitch” attackiert. “Taiwan ist kein Land! Die Insel gehört uns”, skandiert die Gruppe in der ersten Strophe. Westliche Journalisten, die betonen, dass Taiwan de facto unabhängig ist, werden in dem Song als “media white trash, punk ass fuckers” verhöhnt.
Bandmitglied Wang Zixin findet den Song aus heutiger Sicht “ein bisschen extrem”. Die Schimpfworte sind seit den Anfangstagen der Gruppe weniger geworden, inhaltlich packen die vier Mittzwanziger aber weiterhin heiße Eisen an. 2017 empörte sich die Crew im Musikvideo zu “No Thaad” vor der Kulisse der Verbotenen Stadt über den Bau eines US-Raketenabwehrsystems in Südkorea. In “South China Sea” bekennen die vier, unterlegt von Bildern chinesischer Flugzeugträger und Panzer, “China ist meine Religion – wer unser Meer an sich reißen will, soll zur Hölle fahren.” Natürlich waren auch die Proteste in Hong Kong Thema bei den roten Rappern. Im Refrain von “Hongkong’s Fall” leihen sich die Patrioten sogar die Stimme Donalds Trumps, der in Form eines gesampelten Interviewfetzens erklärt, dass Hongkong Teil von China sei, und die Chinesen ihre Probleme “unter sich ausmachen müssen”.
Hin und wieder klingt auch bei CD Rev milde Sozialkritik an, etwa wenn sie im Lied “This is China” den Milchpulverskandal von 2008 oder die Umweltverschmutzung der vergangenen Jahre thematisieren. Zurückgeführt werden diese Probleme jedoch unter anderem auf Spione, Verräter, Dollar-hungrige Geschäftsleute und korrupte Politiker, denen Xi Jinping ja bekanntlich den Gar ausgemacht hat. “Wir lieben unser Land” singen CD Rev im Refrain. China sei ja noch ein Entwicklungsland. Zur Verwirklichung des chinesischen Traumes fehlen jedoch nur noch ein paar Meter.
Als Band zusammengefunden haben sich CD Rev angeblich am 1. Oktober 2015 – dem 66. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Einer ihrer Hauptförderer ist der Tech-Entrepreneur Rao Jin, der 2008 Chinas erstes Privatmedium gründete, mit dem er ein Gegengewicht zu westlicher Berichterstattung über China etablieren wollte. Zunächst hieß sein Projekt provokant “Anti-CNN”, mittlerweile firmiert es unter dem Namen April Media. Außerdem arbeitet CD Rev eng mit der kommunistischen Jugendliga und den Staatsmedien zusammen. Manchmal erhält die Gruppe sogar direkte Unterstützung hoher Beamter. Im vergangenen August teilte Zhao Lijian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, ein Musikvideo auf Twitter, in dem die Verschwörungstheorie bekräftigt wird, dass das Coronavirus aus dem US-amerikanischen Fort Detrick stammt, einem Forschungslabor für militärische Kampfstoffe in Maryland.
Trotz aller Parteinähe behaupten CD Rev, keine Mitglieder der kommunistischen Partei zu sein. In einem Porträt auf Weixin erklärte Bandleader Wang jedoch, Mao Zedong “für immer zu folgen”, denn: “Je mehr du über ihn weißt, umso mehr musst du ihn lieben.” Dass eine Gruppe mit solch einer nationalistischen Message Teil des offiziellen Olympia-Narrativs war, spricht Bände. Oder wie CR Rev im Song “The Force Of Red” rappen: “Erkläre Uncle Sam nur eine Sache – der rote König ist zurück.” Fabian Peltsch