Seit gut drei Monaten ist Tiktok Shop auch in Deutschland im Livebetrieb — im Vorfeld skeptisch von anderen E-Commerce-Anbietern beäugt, hat das In-App-Verkaufskonzept von TikTok in Deutschland keinen Senkrechtstart erlebt. Das Potenzial für bestimmte Branchen ist dennoch groß. Auch das Shoppen im Livestream nach chinesischem Vorbild hat in anderen westlichen Märkten bereits Anklang gefunden.
Hinter dem TikTok Shop steht die Idee, ein Social-Commerce-Erlebnis — also Einkaufen als Gemeinschaftserlebnis — zu schaffen, bei dem Videos und Offerten direkt in die App integriert sind. Der gesamte Kaufprozess, von der Produktauswahl bis zum Check-out, findet innerhalb der App statt. Eine zentrale Rolle spielen dabei Kreatoren, die über ein Affiliate-Modell oder im Rahmen von Kooperationen Produkte vorstellen und damit zum Vertrieb beitragen. Händler können ihre Artikel über Tiktok auch über Schnittstellen zu externen Shopsystemen wie Shopify einpflegen.
Bislang hatte keine Plattform dieses Verkaufs-Konzept vollständig realisiert bekommen. Meta hatte das Einkaufssymbol auf Instagram bereits nach kurzer Zeit wieder aus der Menüleiste entfernt. Nach Angaben von TikTok nutzen derzeit weltweit mehr als 15 Millionen Verkäufer den Shop. Für Deutschland stellte das Unternehmen auf Anfrage von Table.Briefings keine Zahlen zu den auf der Plattform aktiven Verkäufern oder Livestreams bereit. Nutzer hat Tiktok in Deutschland derzeit rund 25 Millionen.
Im Westen hat der Shop vor allem in englischsprachigen Märkten bisher gut Anklang gefunden. Besonders in Großbritannien, wo das In-App-Shopping seit 2021 verfügbar ist: Mehr als 200.000 Händlerinnen bieten dort laut TikTok ihre Waren auf der Plattform an. Täglich finden nach Unternehmensangaben mehr als 6.000 Livestreams statt.
Auch der deutsche Markt beginnt zu reagieren. Große Marken wie Nivea, Lidl, L’Oréal, Essence oder Deiters sind im TikTok Shop aktiv. Auch eher lokale Unternehmen mit starker Community-Bindung, etwa die Süßigkeiten-Hersteller Hitschies oder Miralina Halal Sweets, verkaufen über die Plattform.
Hitschies, Familienunternehmen aus Hürth, erzielte laut TikTok bei einem Livestream mehr als 550.000 Likes und hat im ersten Monat 29.400 Produkte verkauft. Lidl vertrieb exklusiv über die Plattform die rosafarbene „Angel Hair Chocolate“ — nicht zu verwechseln mit der Dubai-Schokolade — die in Großbritannien innerhalb von Minuten und in Deutschland innerhalb von Stunden ausverkauft gewesen sei. Seit vergangener Woche ist auch die Supermarkt-Kette Kaufland im TikTok Shop aktiv — mit Kosmetik. Gemeinsam mit zwei Influencerinnen verkauft Kaufland Beauty-Boxen mit Produkten der Eigenmarke.
Für Björn Ognibeni, Strategieberater für digitale Geschäftsmodelle, ist TikTok Shop mehr als eine neue Spielwiese für Influencer. Er sieht keinen wirklichen „Hype“ – weder bei Konsumentinnen noch bei Fachleuten, sondern eigentlich nur in den Medien. Ognibeni betont vielmehr das strategische Potenzial: die enorme Nutzungsintensität auf Tikok, die Bruchlosigkeit im Kaufprozess und die neuen Formate wie Shoppable Videos könnten die E-Commerce-Landschaft grundlegend verändern – wenn sie richtig genutzt werden. Besonders geeignet seien Kategorien wie Beauty, Mode, Lifestyle oder Haushalt – Produkte, die impulsiv gekauft werden. Auch Hype-Produkte funktionieren. Wenngleich oft mit begrenzter Nachhaltigkeit, so Ognibeni im Gespräch mit Table.Briefings.
Entscheidend für dauerhaften Erfolg ist laut Ognibeni der Aufbau langfristiger Beziehungen zur Community – und hier kommen Kreatoren ins Spiel. Zwar könne das Affiliate-Modell schnell Reichweite schaffen, doch fehle oft die Tiefe. Das kann man ändern in dem man zusätzlich auch auf „Key Opinion Customer“ setzt – echte Fans und Kundinnen mit eigenen kleinen Netzwerken.
Kritik von Usern gibt es jedoch auch bereits. So sollen vor allem Videos mit Kaufoption vom Algorithmus bevorzugt werden — was einige an eine Dauer-Werbesendung erinnert. Auch gibt es noch Hemmnis beim Vertrauen in die Qualität der Produkte. Bei Marken-Angeboten zweifeln Nutzer in den Kommentaren an der Echtheit der Ware, wenn diese auf TikTok Shop besonders günstig vertrieben wird.
Laut einem Bericht der E-Commerce-Beratung Momentum Works aus Singapur stieg das weltweite Bruttowarenvolumen (GMV) des TikTok Shops im Jahr 2024 auf 33,2 Milliarden US-Dollar – mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Allein die USA steuerten neun Milliarden Dollar bei, ein Plus von 650 Prozent seit dem Start im September 2023. Die USA sind mittlerweile der umsatzstärkste Markt für den TikTok Shop und überholten damit im vergangenen Jahr erstmals alle Länder Südostasiens.
Asien spielt bei TikTok Shop allerdings weiterhin eine massive Rolle. Mehr als 95 Prozent aller bisher verkauften Artikel auf der Plattform wurden in Südostasien gekauft – vor allem in Thailand, den Philippinen, Malaysia, Vietnam, Indonesien und Singapur. Der Grund: In Südostasien startete die Plattform deutlich früher als in den USA oder Großbritannien, bereits 2021. Obwohl die USA inzwischen beim Umsatz (GMV) vorn liegen, bleibt das Transaktionsvolumen klar von den asiatischen Märkten dominiert.
Tiktok-Mutterkonzern ByteDance scheint mit der Performance des TikTok Shops in den USA allerdings nicht zufrieden zu sein. Als Reaktion auf enttäuschende Umsätze sollen zahlreiche Führungskräfte aus Seattle durch Manager aus China ersetzt und die ehrgeizigen Wachstumsziele deutlich gesenkt worden sein.