Die Wirtschaftsflaute Deutschlands ist keine kurze Durstrecke. Der Standort steckt in einer grundlegenden Krise: günstige Energie, freie globale Märkte, Marktführerschaft in Hightech-Produkten – die Grundlagen des Erfolgs der Vergangenheit schwinden rasant. Jahrelang wurde zu wenig in die Modernisierung investiert. Innovationen kommen immer häufiger aus anderen Regionen der Welt. Kein Wunder, dass der Industriekern kontinuierlich an Kraft verliert.
Die kommende Bundesregierung muss schnell klare wirtschaftspolitische Weichen stellen, um in der Krise neue Impulse zu geben und zukunftsfähige Schlüsselindustrien zu stärken. Denn nur mit frischen Ideen und Produkten können neue Märkte erschlossen werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Industriepolitik vor allem die Innovationskraft stärkt und auf produktive Hightech-Branchen setzt.
Dazu zählt Pharma. Keine Branche ist produktiver: Je Beschäftigtem liegt die Wertschöpfung fast zweieinhalbmal über dem Durchschnitt. Keine Branche ist so forschungsintensiv. Nahezu jeder fünfte umgesetzte Euro wird in Innovationsaufwendungen reinvestiert. Und keine andere Branche stößt mehr Wertschöpfung außerhalb ihres Kerngeschäfts an.
Eine wachsende Pharmaindustrie sorgt daher für erhebliches gesamtwirtschaftliches Wachstum. Deshalb sind die Nachrichten über große Investitionen internationaler Unternehmen so gut für unseren Industriestandort. Mit ihnen kommen nicht nur gute Arbeitsplätze nach Deutschland. Es sind die Exportschlager von morgen. Das alles bei einer global stark steigenden Nachfrage für Gesundheitsleistungen.
Ein zweiter zentraler Aspekt: Die Krisenfestigkeit Europas, die Souveränität Deutschlands, die Gesundheit der Bevölkerung sind nur dann gesichert, wenn eine starke forschende Pharmaindustrie und eine exzellente Grundlagenforschung am Standort vereint sind.
Die neue EU-Kommission hat die Industriepolitik zur Kernaufgabe der kommenden Jahre erklärt. Der jüngst veröffentlichte Draghi-Report zeigt auf, warum Zukunftsfelder gezielt gestärkt werden sollten. Wenn die Politik dies beherzigt, wird auch die Schlüsselindustrie Pharma ihren Fokus noch stärker auf Europa richten. Hierfür sind fünf Punkte zentral.
Erstens: Innovationen werden erst dann erfolgreich, wenn sie schnell einen großen Absatzmarkt finden. Europa sollte das Ziel haben, der größte Markt für Innovationen zu werden.
Zweitens: Die Stärke des Industriestandorts liegt im Technologieverbund. Wie kein anderes Land ist Deutschland nicht nur in der Entwicklung innovativer Produkte stark, sondern auch darin, die Hightech-Produktion im industriellen Maßstab zu organisieren.
Drittens: Nicht immer der beste, sondern häufig der Schnellste setzt sich im Wettbewerb durch. Das Tempo im Aufbau von Produktionskapazitäten bestimmt mit, wo innovative Medikamente hergestellt werden und wohin die Wertschöpfung fließt. Dies ist ein Thema bürokratischer Hürden und einer konzentrierten Unterstützung im Rahmen gemeinsamer europäischer Projekte.
Viertens: Es geht nicht ohne gut ausgebildete Fachkräfte. Diese fehlen schon jetzt an allen Ecken und Enden. Was wir jetzt brauchen, ist eine zielgenaue Strategie für die schnelle Qualifikation und den Quereinstieg. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, Menschen und ihre Fähigkeiten einfach so in den vorzeitigen Ruhestand oder eine lange Phase der Arbeitslosigkeit zu entlassen.
Fünftens: Es klafft eine Lücke zwischen den hervorragenden Ergebnissen der Spitzenforschung und dem Gründungsgeschehen. Junge Unternehmen wachsen zu lassen, die Rahmenbedingungen für Gründungen zu verbessern, kritische Phasen gezielt zu finanzieren und digitale Chancen zu nutzen: All das hilft und ist in der besonders risikobehafteten Pharmaforschung besonders wichtig.
Die Stärkung der Pharmaindustrie ist eine Investition in die Zukunft. Sie ist nicht nur eine Antwort auf die akuten Herausforderungen unserer Zeit, sondern ein wesentlicher Baustein für eine nachhaltige und erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Es liegt an uns, die Weichen jetzt richtigzustellen.
Han Steutel ist seit Oktober 2019 Präsident des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (vfa). Steutel begann seine Karriere bei Bristol-Myers Squibb 1999 und hat in den Folgejahren die Position des Unternehmens ausgebaut.