Herr Professor Werding, der Rentenversicherungsbeitrag ist ein wesentlicher Bestandteil der Lohnnebenkosten. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Für 2027 oder 2028 wird seit Längerem ein sprunghafter Anstieg des Beitragssatzes der Rentenversicherung auf annähernd 20 Prozent erwartet, der sich aus heutiger Sicht kaum noch abwenden lässt. Derzeit gibt das Rentensystem wegen der beginnenden Renteneintritte der Babyboomer jedes Jahr mehr aus als es an Beiträgen und Bundesmitteln einnimmt. Daher sinken seine Reserven, die es im Zuge einer anhaltend günstigen Arbeitsmarktentwicklung in den letzten 15 Jahren aufgebaut und dann längere Zeit gehalten hat. Sobald diese auf den gesetzlichen Mindestwert von 0,2 Monatsausgaben, das entspricht circa sechs Tagen, sinken, muss der Beitragssatz so angehoben werden, dass er die laufenden Ausgaben wieder deckt.
Was müsste die neue Bundesregierung kurzfristig tun, damit die Rentenbeiträge nicht weiter steigen?
Um den Anstieg der Rentenausgaben kurzfristig so zu dämpfen, dass der Beitragssatz konstant bleiben kann, müssten die Rentenanpassungen 2026 und 2027 entfallen. Dann würden die Renten nominal konstant bleiben, real jedoch sinken. Alternativ müssten aus dem Bundeshaushalt 2027 oder 2028 zusätzliche 22 bis 23 Milliarden Euro für das Rentensystem locker gemacht werden. Das ist in der aktuellen Finanzlage des Bundes nicht möglich, ohne andere Ausgaben massiv einzuschränken.
Macht es Sinn, den Haushaltszuschuss wie in den südlichen EU-Staaten anzuheben, um das Niveau zu stabilisieren?
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist vorgesehen, die Haltelinie für das Sicherungsniveau aus Bundesmitteln zu finanzieren, nicht aus höheren Beiträgen. Das lässt sich aber nicht lange durchhalten. Die Lücke zwischen erhöhten Rentenausgaben und Beitragseinnahmen steigt bei fortschreitender demografischer Alterung rasch auf mittlere zweistellige Milliardenbeträge — jedes Jahr und zusätzlich zum bisherigen Bundeszuschuss, der ja auch schon rund 100 Milliarden Euro pro Jahr beträgt und weiter steigt. Dann bleiben im Bundeshaushalt keine Spielräume mehr für irgendwelche zukunftsorientierten Ausgaben.
Würde eine Absenkung unterhalb der 48-Prozent-Grenze des Durchschnittseinkommens zu verstärkter Altersarmut führen?
Die im geltenden Rentenrecht angelegte Senkung des Rentenniveaus unter 48 Prozent würde das Armutsrisiko von Personen im Rentenalter nicht weiter erhöhen. Das hat das DIW für den Sachverständigenrat im Herbst 2023 in einer Expertise berechnet. Wenn das Sicherungsniveau noch stärker verringert würde, gäbe es einen solchen Effekt, der wäre aber nicht besonders stark. Armutsrisiken im Alter entstehen vor allem wegen Lücken in den individuellen Erwerbsbiografien, etwa wegen Langzeitarbeitslosigkeit oder langen Erziehungszeiten, nicht so sehr wegen der Höhe des allgemeinen Rentenniveaus.
Martin Werding ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seit 2022 ist der Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Von 2014 bis 2017 war er Mitglied im Expertenrat Demografie des Bundesministeriums des Innern. Er habilitierte 2008 an der Universität Passau.