Zum 80-jährigen Jubiläum von Sennheiser haben Sie gesagt: „Der Weg in die Zukunft ist nie geradlinig. Aus diesem Grund feiern wir in diesem Jahr nicht nur unsere Erfolge, sondern auch Produkte, die nicht zu Meilensteinen geworden sind, oder ihrer Zeit einfach voraus waren.“ Wie balancieren Sie zwischen der nahen und der späteren Zukunft?
Andreas S.: Unser Großvater hat immer gesagt: „Ingenieure brauchen Raum zum Spinnen.“ Das ist bis heute ein wichtiger Teil unserer Unternehmenskultur. Wir schaffen bewusst Freiräume, um Neues auszuprobieren und auch mal ungewöhnliche Wege zu gehen.
Ein gutes Beispiel ist unser Engagement bei 3D-Audio-Technologie. Wir beschäftigen uns damit schon seit fast 30 Jahren, weil wir überzeugt sind, dass 3D-Audio der Goldstandard für ein immersives Klangerlebnis ist. Damals war das Thema noch ein Nischenthema, weit entfernt von dem Hype, den wir heute rund um Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und ähnliche Technologien erleben.
Sie haben sich nach dem Verkauf des Consumer-Geschäfts an Sonova im Jahr 2022 klar auf Professional-Audio fokussiert. Was ist Ihr Wachstumsziel für diesen Markt in den nächsten Jahren?
Daniel S.: Unsere Strategie ist ganz klar: Wir wollen überdurchschnittlich wachsen und Marktanteile gewinnen. Unsere Stärken als familiengeführtes, selbstfinanziertes Unternehmen liegen im professionellen Bereich. Das zeigt sich auch daran, dass wir nach dem Verkauf des Consumer-Geschäfts gezielter investieren und innovieren können, vor allem auch in eigene Wertschöpfung. Wir haben in Deutschland eine hohe Fertigungstiefe. Das Consumer-Business ist zwar ein tolles Business, aber Sonova kann es unter dem Sennheiser-Markendach noch stärker vorantreiben als wir.
Das Unternehmen hat mit dem HD 414 im Jahr 1968 den ersten offenen Kopfhörer vorgestellt. Was wird Ihrer Meinung nach das nächste große Highlight in der Professional-Audio-Technologie?
Andreas S.: Ein ganz zentraler Trend ist die sogenannte Seamless Integration. Damit meine ich, dass die gesamte technologische Komplexität – also, wenn bei einer Großveranstaltung Licht, Ton, Bühnenbewegung und Frequenzkoordination zusammenkommen – so reibungslos und nahtlos funktioniert, wie man es sich nur wünschen kann.
Wir sind es aus unserem Privatleben gewohnt, die komplexesten Geräte mit einer ganz einfachen User Experience zu bedienen. Genau diese Erwartungshaltung überträgt sich zunehmend auch auf den professionellen Bereich. Daran arbeiten wir intensiv – und das immer gemeinsam mit unseren Kunden, um wirklich zu verstehen, was sie benötigen.
Fast 60 Jahre später bringen Sie die neue Technologie Spectera, das weltweit erste bidirektionale Wideband-Wireless-Ökosystem, auf den Markt. Warum ist das ein Benchmark für die Branche / im Bereich Wireless-Technologie?
Daniel S.: Wir waren schon 1957 die Ersten mit drahtlosen Mikrofonen – damals war das revolutionär. Jetzt gehen wir mit Spectera wieder einen ganz neuen Schritt. Bisher basierten alle Systeme, auch die der Konkurrenz, auf dem klassischen Single-Carrier-Prinzip. Jetzt nutzen wir ein Breitband-Konzept, das bidirektionale Datenübertragung ermöglicht – nicht nur für Audio, sondern auch für Steuerungsdaten und vieles mehr.
Das heißt, wir schaffen ein Ökosystem, das so flexibel ist wie ein Smartphone: Früher hatte man für jede Funktion eine eigene Taste, heute kann man alles per Software steuern und neue Anwendungen einfach hinzufügen. Mit Spectera ist es egal, ob das Endgerät ein Mikrofonsender oder ein In-Ear-Empfänger ist – alles läuft über ein und dasselbe System, und die Base Station ist deutlich platzsparender als bisherige Lösungen.
Das Besondere ist die bidirektionale Kommunikation: Audio- und Steuerdaten laufen gleichzeitig über einen einzigen breiten Funkkanal. Dadurch kann man zum Beispiel Mikrofone und In-Ear-Systeme erstmals im selben Frequenzbereich betreiben, was die Frequenzkoordination enorm vereinfacht und Hardware reduziert. Für große Produktionen, egal ob Touring, Broadcast oder Theater, ist das ein echter Gamechanger – weniger Aufwand, mehr Flexibilität, und das System wächst mit den Bedürfnissen der Nutzer mit.
Welches Feedback erhalten Sie von den ersten Anwendern?
Andreas S.: Die ersten Rückmeldungen sind durchweg positiv – sowohl was die Performance angeht als auch die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Unsere Kunden schätzen vor allem die Vielseitigkeit der Plattform. Viele kommen mit eigenen Ideen auf uns zu, was sie mit Spectera noch alles machen könnten – etwa direkt zum Mischpult oder Lautsprecher funken. Das zeigt uns, dass Spectera nicht mehr als klassisches Funkmikrofon gesehen wird, sondern als Teil einer wichtigen Netzwerkinfrastruktur für moderne Produktionen und Broadcasts.
Daniel S.: Wichtig bleibt dabei aber immer, dass unsere Grundpfeiler nicht aus dem Blick geraten: Zum einen Verlässlichkeit – das System muss immer funktionieren, egal ob bei einer Live-Übertragung eines Fußballspiels oder eines Konzerts von Taylor Swift oder Madonna. Und zum anderen natürlich die Klangqualität, für die wir als Unternehmen stehen. Innovation ist wichtig, aber sie muss sich immer diesen beiden Werten unterordnen. Das erfüllt Spectera.
Mit Spectera setzen Sie auf maximale Effizienz in einem immer knapper werdenden Funkspektrum. Wie geht Sennheiser mit dieser Herausforderung um, und was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?
Daniel S.: Das ist tatsächlich ein Dauerbrenner. Seit den ersten Frequenzversteigerungen 2003 steht uns immer weniger Spektrum fürs Funken zur Verfügung. Mit unseren bisherigen Systemen haben wir schon eine sehr hohe Frequenzdichte erreicht, indem wir die Kanäle möglichst eng takten. Spectera geht da noch einen Schritt weiter: Durch das neue Übertragungssystem können wir die Kanaldichte nochmal um 50 Prozent steigern, wenn es darum geht, die maximale Anzahl an Kanälen auszuschöpfen. Das heißt, wir gehen mit dieser wertvollen Ressource noch verantwortungsvoller um.
Trotzdem darf man nicht vergessen: Ohne ausreichend Frequenzen gibt es am Ende keinen Ton mehr. Es ist immer ein Balanceakt zwischen den Interessen der Telekommunikationsbranche und der riesigen Kreativ- und Produktionswelt. Das muss man auch der Politik immer wieder verdeutlichen – denn bei großen politischen Events besteht genauso hoher Frequenzbedarf wie beim Eurovision Song Contest. Selbst Politiker brauchen für ihre Veranstaltungen viele Frequenzen. Es darf nicht passieren, dass kurzfristige finanzielle Interessen dazu führen, dass noch mehr Spektrum versteigert wird und am Ende im Kulturbereich niemand mehr funken kann.
Sind Sie aktuell im Austausch mit der Bundesregierung, um das Thema Frequenzvergabe weiter voranzutreiben?
Daniel S.: Wir sind da ständig im Kontakt, nicht nur mit der Bundesregierung, sondern auch mit allen relevanten Regulierungsbehörden und internationalen Gremien wie der World Radio Conference. Es gibt verschiedene Ausschüsse, in denen die Standards festgelegt werden, und da sind wir aktiv dabei. Man muss aber klar sagen: Die Telekom-Giganten haben natürlich ganz andere Ressourcen für Lobbyarbeit. Es ist wichtig, dass die Bedürfnisse der Kultur- und Veranstaltungsbranche nicht untergehen, nur weil sie nicht dieselbe Sprache wie die großen Telekommunikationsunternehmen sprechen.
Sehen Sie aktuell, dass große Unternehmen – unter anderem US-Tech-Giganten – verstärkt in den Professional-Audio-Markt drängen?
Andreas S.: Wir beobachten Unternehmen, die ursprünglich gar nicht aus unserem Kerngeschäft kommen. Was wir aber immer wieder feststellen: Das alte Sprichwort „Hardware is hard“ gilt nach wie vor. Die großen Tech-Unternehmen sind sehr stark darin, Software-Plattformen zu entwickeln. Sobald es aber darum geht, tatsächlich Hardware zu produzieren, wird es für sie oft deutlich schwieriger, weil die Entwicklungs- und Iterationszyklen ganz andere sind.
Wir machen unsere Produkte immer stärker „software-enabled“, ohne dabei unsere Hardware-Kompetenz zu verlieren. Ein gutes Beispiel ist unser Deckenmikrofon TCC2: Anfangs war es ein intelligentes Beamforming-Mikrofon, das automatisch den Sprecher im Raum erkennt. Mit der nächsten Firmware konnten wir die Positionsdaten nutzen, um Kameras zu steuern. Und inzwischen können wir mit einer weiteren Firmware sogar Voice-Lift anbieten, sodass der Ton im Raum verteilt wird und sich auch weit auseinander sitzende Personen besser verstehen.
Das zeigt, wie wir durch Software unsere Produkte über mehrere Iterationen immer intelligenter machen – ganz ohne Hardware-Anpassung. Gleichzeitig ist die Kooperation mit den großen Tech-Giganten für uns Pflicht. Das betrifft nicht nur Microsoft Teams, sondern auch Steuerungsanbieter wie Crestron oder Cisco.
Für Kooperationen wie mit Microsoft Teams ist das Stichwort künstliche Intelligenz entscheidend. Wo sehen Sie künftig das größte Potenzial für KI in der Branche?
Daniel S.: KI ist für uns definitiv ein zentrales Thema – und das auf mehreren Ebenen. Zum einen setzen wir KI schon heute in der Produktion ein, vor allem in der Supply Chain. Da sehen wir wirklich beeindruckende Produktivitätssteigerungen, gerade weil wir so viel selbst fertigen.
Zum anderen steckt KI längst in unseren Produkten – sei es in unseren Tech-Mikrofonen oder künftig auch in Spectera. Überall sorgen intelligente Algorithmen dafür, dass das Audiosignal immer optimal klingt. Ich will da gar nicht zu sehr ins Detail gehen, aber die Möglichkeiten sind enorm.
Das größte Potenzial sehe ich darin, dass KI unsere Kunden im kreativen Prozess unterstützt. KI wird eher ein Ermöglicher für Kreativität sein, nicht ihr Ersatz. Natürlich gibt es Bereiche, in denen Musik automatisiert entsteht, zum Beispiel für Hintergrundmusik. Aber die eigentliche künstlerische Schöpfung bleibt beim Menschen – und genau da kann KI viele neue Wege und Erleichterungen eröffnen.
Sie haben das Thema VR und Metaverse schon angesprochen. Welche Chancen sehen Sie darin für Sennheiser und die Musikbranche?
Andreas S.: Die großen Game-Engine-Hersteller sind für uns beispielsweise wichtige Partner, mit denen wir im Austausch stehen. Wir beobachten, dass Konzerte nicht mehr nur lokal stattfinden, sondern an mehreren Orten oder sogar weltweit weitergegeben werden. Der Rapper Travis Scott hat das ja schon vor einigen Jahren vorgemacht, als er ein Konzert im Computerspiel Fortnite gegeben hat. Das war damals noch recht einfach umgesetzt, aber es zeigt, wie sehr die Welten dadurch zusammenrücken: Ein echtes Event kann an einem Ort stattfinden und dann millionenfach reproduziert werden.
Ob das dann im Theater, mit der VR-Brille oder ganz woanders erlebt wird, bleibt jedem selbst überlassen. Für Künstler und auch für Publishing-Unternehmen ist das eine riesige Chance, ein viel größeres Publikum zu erreichen – und das ganz ohne die logistischen Herausforderungen, hunderte Tonnen Equipment um die Welt zu fliegen.
Nochmal züruck zum Thema 3D-Audio: Gibt es schon konkrete Pläne oder Partnerschaften in anderen Branchen, zum Beispiel in der Autoindustrie?
Daniel S.: Ja, das Thema Immersive Audio – oder AMBEO, wie wir es nennen – ist für uns schon seit vielen Jahren ein Riesenthema, weil es die natürliche Art und Weise ist, wie wir hören. Wir hören ja nicht in Kanälen, sondern in einem dreidimensionalen Raum. Diesen Gold-Standard verfolgen wir bei Sennheiser seit über 30 Jahren und haben immer wieder neue Ansätze entwickelt. Heute wird sehr viel 3D-Audio-Content produziert, und dafür braucht es entsprechende Mischsysteme.
Gerade im Automotive-Bereich ist das besonders spannend, weil man einen kontrollierten Raum hat, in dem 3D-Audio optimal zur Geltung kommt. Obwohl der physische Raum im Auto klein ist, kann man einen viel größeren Klangraum erlebbar machen. Unsere Musik-Expertise hilft uns dabei, nicht nur Effekte zu erzeugen, sondern die künstlerische Intention zu transportieren und Instrumente oder Stimmen präzise im Raum zu verorten. Gerade im Auto gibt es beim Thema Sprachübertragung noch viel Potenzial, das wir heben wollen.
Nehmen Sie wahr, dass das emotionale Erleben von Musik und Klang für die Menschen heute wichtiger wird? Ändern sich die Einstellungen dazu?
Andreas S.: Der Stellenwert von gutem Klang wird immer stärker wahrgenommen, gerade wenn es um emotionale Erlebnisse geht. Vor zehn Jahren lag der Fokus noch sehr stark auf immer größeren Bildschirmen, mehr Pixeln, HD, 4K, 8K – aber inzwischen merken viele, dass der Ton eigentlich das entscheidende Element ist, um etwas wirklich zu erleben.
Je mehr wir uns auf das Hören einlassen, desto reicher wird unser Erleben und, ich würde sogar sagen, desto freudvoller wird unser Leben. Ich finde es immer schade, wenn Menschen sagen, Musik interessiert sie nicht. Da entgeht ihnen wirklich ein großes Stück Lebensqualität. Das ist für mich ein bisschen so, als würde jemand sagen, gutes Essen interessiert ihn nicht.
Wie kann man in Zeiten von Tiktok und schnellen Medien gerade der jungen Generation vermitteln, dass gute Musikqualität wichtig ist?
Daniel S.: Das ist vor allem eine Frage der Erziehung, oder besser gesagt: der Exposition. Ich glaube, Musik wird heute wieder stärker Teil des schulischen Curriculums, und auch durch neue Möglichkeiten wie digitale Audio Workstations (Ableton oder Garageband) kommen immer mehr junge Menschen in Kontakt mit Musikproduktion und lernen vielleicht sogar wieder ein Instrument. Da kann übrigens auch KI unterstützen.
Unsere Aufgabe bei Sennheiser ist es, echten Klang, also True Sound, erlebbar zu machen, egal ob beim Streaming oder beim Selbermachen. Es geht nicht um lauter oder verrückter, sondern um die Emotionalität, die berührt und Gänsehaut auslöst. Genau da muss man ansetzen, denn wer einmal qualitativ hochwertige Musik gehört hat, will eigentlich nicht mehr zurück. Das ist auch der Grund, warum Menschen zu Konzerten gehen und Live-Erlebnisse suchen.
Andreas und Daniel Sennheiser sind die dritte Generation der Gründerfamilie und führen seit 2013 als Co-CEOs die Sennheiser-Gruppe.