Alert: Brandbrief zum Bildungsgipfel
Liebe Leserin, lieber Leser,
am Wochenende geschahen erstaunliche Dinge: Zwei Tage vor ihrem eigenen Gipfel war die Bundesbildungsministerin erkennbar bemüht, die Erwartungen an den dreistündigen Gesprächskreis zu dämpfen. “Es ist ein Arbeitsprozess, den wir starten wollen”, sagte sie am Sonntag bei Berlin direkt, während sie am selben Tag vor einer “tiefen Krise” des Bildungssystems warnte. Wer beide Aussagen nebeneinander legt, dürft nicht überrascht sein, dass die Erwartungen vor dem nationalen Bildungsgipfel explodieren.
50 Organisationen, darunter einflussreiche Bildungsstiftungen, Verbände und Gewerkschaften, haben in einer Hauruckaktion einen gemeinsamen Brandbrief formuliert – und richten ihren Appell an die Ebene der Regierungschefs, Bundeskanzler Scholz eingeschlossen. Ein Arbeitsprozess genügt ihnen nicht, sie setzen auf einen politischen Knall – oder in den Worten der Unterzeichner: einen “Neustart in der Bildung”. Nur ist Olaf Scholz nicht gerade für große Knalls bekannt, der Aufruf ist dennoch lesenswert!
In wenigen Stunden diskutiert dann das Who-is-Who der Schulexperten, wie Deutschland wieder zur Bildungsrepublik wird. Beim gestrigen Table.Live-Briefing haben wir mit unseren Gästen schon einmal abgesteckt, welche strukturellen Reformen es – im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Bürokratie – braucht. Die ganze Diskussion können Sie hier nachhören.
Und jetzt: Starten wir gemeinsam in den Gipfel.
Analyse
“Neustart Bildung”: Zivilgesellschaft fordert Kanzler-Gipfel
Der heutige, von der Ampelkoalition geplante Bildungsgipfel muss sich weitere scharfe Kritik gefallen lassen. 50 zivilgesellschaftliche Bildungsorganisationen richten sich an den Bundeskanzler und die Länderchefs – und stellen Forderungen. Die “massiven Probleme im deutschen Bildungssystem verletzen die Rechte jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen auf bestmögliche Bildung”, mahnt das Bündnis, dem Gewerkschaften, Stiftungen und Verbände angehören. Es fordert einen nationalen Bildungsgipfel mit dem Bundeskanzler und den Regierungschefs der Länder. Ein von höchster politischer Ebene angestoßenes Treffen solle einen grundlegenden Reformprozess des Bildungssystems anstoßen (zum Download des Papiers).
Unterzeichnet haben den Aufruf unter anderem:
- Gewerkschaften (DGB, GEW, Verdi)
- Bundeselternrat
- Deutscher Lehrerverband
- Stiftungen (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Bertelsmann-, Körber-, Telekom-, Wübben-Stiftung, Stifterverband, Haus der kleinen Forscher, Stiftung Bildung)
- Diakonie, Deutsches Kinderhilfswerk, SOS-Kinderdorf e.V.
In der prominenten Liste fehlen Vertreter der Arbeitgeber, die gestern mit dem DGB einen eigenen Aufruf veröffentlichten, sowie die dbb Lehrerverbände, wie VBE oder Philologenverband. Der VBE werde nach dem heutigen Bildungsgipfel entscheiden, welche weiteren Schritte vonnöten sind, erklärt Gerhard Brand, VBE-Vorsitzender, seine Absage an das Bündnis. Er wird am Vormittag auf dem Podium sitzen, um mit Staatssekretär Jens Brandenburg zu diskutieren – zusammen mit der GEW, dem Deutschen Lehrerverband und dem Bundeselternrat, die allesamt den Aufruf unterzeichneten. Damit graben sie dem Gipfel noch vor seinem Beginn das Wasser ab.
Der Appell des Bündnisses enthält konstruktive Vorschläge und spiegelt wesentliche Forderungen der Zivilgesellschaft wider:
Bildungsgipfel mit Kanzler Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholz hat als Hamburger Bürgermeister die Bildungspolitik der Hansestadt neu – und erfolgreich – aufgestellt. Als Kanzler hat er die Bildungspolitik noch nicht für sich entdeckt. Genau das fordert nun das Bündnis. Von höchster politischer Ebene könne eine Initialzündung ausgehen. Dass es dazu kommt, ist wenig wahrscheinlich. Neben den Planungen für den heutigen Bildungsgipfel könne sie keine weitere bekannt geben, sagt eine Regierungssprecherin.
Das Bündnis wünscht sich einen Megagipfel. Zu ihm wären auch Bildungs-, Wissenschafts- und Jugendminister von Bund und Ländern geladen. Der Gipfel hätte wohl hunderte Teilnehmende. Denn Vertreter aus der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, aus Wirtschaft, Wissenschaft, Bildungspraxis, Zivilgesellschaft sowie von Eltern und Schülern stünden ebenso auf der Gästeliste.
Neue Steuerung
Die Verfasser bemängeln die “unsystematische Verflechtung der politischen Ebenen”. Bereits vergangene Woche stellte Thomas de Maizière, Chef der Telekom-Stiftung, seine Forderungen für eine neue Steuerung des Bildungssystems im Interview vor. Das Verhältnis von Bund und Ländern sei “verfassungsrechtlich vollständig chaotisch”, sagte er Table.Media. Das klingt auch im Appell an die Spitzenpolitiker an. Von ihnen wünscht sich das Bündnis eine im Koalitionsvertrag angekündigte neue Kultur der Bildungszusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Von der KMK kommen freundliche Signale. Generalsekretär Udo Michallik sagte Table.Media, er erhoffe sich vom morgigen Gipfel ein Startsignal für den Austausch von Bund und Ländern. KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse hat nach eigenen Angaben “keine großen Erwartungen” – bringt aber einen Wunschzettel mit: Sie fordert “klare Aussagen zur Ausgestaltung eines neuen Digitalpakts und zum Umfang des lange angekündigten Startchancen-Programms”.
Klare Zielmarken
Bund, Länder und Kommunen sollen sich auf gemeinsame Ziele und Maßnahmen verbindlich einigen. Das erinnert an das Dresdener Treffen von vor 15 Jahren, als sich die Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern auf eine Reduktion von Schulabbrecherzahlen und mehr Finanzmittel einigten. “Ambitionierte Ziele sind das eine, das Prüfen ihrer verbindlichen Umsetzung das andere”, sagt Dirk Zorn, Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung. Die Dresdener Ziele seien nicht nachgehalten worden und wirkungslos verpufft. “Das muss diesmal besser gelingen, nicht zuletzt durch klare Verantwortlichkeiten.”
Keine Gießkanne
Das Bildungssystem sei nicht auskömmlich und sozial gerecht finanziert. Anders als SPD-Chefin Saskia Esken fordert das Bündnis kein 100-Milliarden-Sondervermögen Bildung. Die Kritik ist vielmehr: Gelder würden nach dem Gießkannenprinzip verteilt und landeten nicht dort, wo sie am meisten bewirken. Dieser Ansicht ist auch der Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani. Im ARD-Presseclub erinnerte er Sonntag daran, dass Kitas und Grundschulen am wichtigsten sind. Dennoch finanziere sie Deutschland schlechter als im OECD-Durchschnitt, die Sekundarstufe II dagegen überdurchschnittlich.
Bündnis sieht Demokratie in Gefahr
Einen derart breiten Schulterschluss erlebt die bildungspolitische Landschaft selten. Die Zukunft “unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie” stehe auf dem Spiel. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, teilt diese Einschätzung. Die Krise des Bildungssystems dürfe nicht zu einer Krise der demokratischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Schule auswachsen. “Es geht nicht nur darum, dass Schülerinnen und Schüler heute die Basiskompetenzen beim Lesen und Rechnen fehlen, sondern es geht auch um die demokratische Substanz bei jungen Leuten.” mit Christian Füller
Presseschau zum Bildungsgipfel
Alert: Brandbrief zum Bildungsgipfel
Liebe Leserin, lieber Leser,
am Wochenende geschahen erstaunliche Dinge: Zwei Tage vor ihrem eigenen Gipfel war die Bundesbildungsministerin erkennbar bemüht, die Erwartungen an den dreistündigen Gesprächskreis zu dämpfen. “Es ist ein Arbeitsprozess, den wir starten wollen”, sagte sie am Sonntag bei Berlin direkt, während sie am selben Tag vor einer “tiefen Krise” des Bildungssystems warnte. Wer beide Aussagen nebeneinander legt, dürft nicht überrascht sein, dass die Erwartungen vor dem nationalen Bildungsgipfel explodieren.
50 Organisationen, darunter einflussreiche Bildungsstiftungen, Verbände und Gewerkschaften, haben in einer Hauruckaktion einen gemeinsamen Brandbrief formuliert – und richten ihren Appell an die Ebene der Regierungschefs, Bundeskanzler Scholz eingeschlossen. Ein Arbeitsprozess genügt ihnen nicht, sie setzen auf einen politischen Knall – oder in den Worten der Unterzeichner: einen “Neustart in der Bildung”. Nur ist Olaf Scholz nicht gerade für große Knalls bekannt, der Aufruf ist dennoch lesenswert!
In wenigen Stunden diskutiert dann das Who-is-Who der Schulexperten, wie Deutschland wieder zur Bildungsrepublik wird. Beim gestrigen Table.Live-Briefing haben wir mit unseren Gästen schon einmal abgesteckt, welche strukturellen Reformen es – im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Bürokratie – braucht. Die ganze Diskussion können Sie hier nachhören.
Und jetzt: Starten wir gemeinsam in den Gipfel.
Analyse
“Neustart Bildung”: Zivilgesellschaft fordert Kanzler-Gipfel
Der heutige, von der Ampelkoalition geplante Bildungsgipfel muss sich weitere scharfe Kritik gefallen lassen. 50 zivilgesellschaftliche Bildungsorganisationen richten sich an den Bundeskanzler und die Länderchefs – und stellen Forderungen. Die “massiven Probleme im deutschen Bildungssystem verletzen die Rechte jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen auf bestmögliche Bildung”, mahnt das Bündnis, dem Gewerkschaften, Stiftungen und Verbände angehören. Es fordert einen nationalen Bildungsgipfel mit dem Bundeskanzler und den Regierungschefs der Länder. Ein von höchster politischer Ebene angestoßenes Treffen solle einen grundlegenden Reformprozess des Bildungssystems anstoßen (zum Download des Papiers).
Unterzeichnet haben den Aufruf unter anderem:
- Gewerkschaften (DGB, GEW, Verdi)
- Bundeselternrat
- Deutscher Lehrerverband
- Stiftungen (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Bertelsmann-, Körber-, Telekom-, Wübben-Stiftung, Stifterverband, Haus der kleinen Forscher, Stiftung Bildung)
- Diakonie, Deutsches Kinderhilfswerk, SOS-Kinderdorf e.V.
In der prominenten Liste fehlen Vertreter der Arbeitgeber, die gestern mit dem DGB einen eigenen Aufruf veröffentlichten, sowie die dbb Lehrerverbände, wie VBE oder Philologenverband. Der VBE werde nach dem heutigen Bildungsgipfel entscheiden, welche weiteren Schritte vonnöten sind, erklärt Gerhard Brand, VBE-Vorsitzender, seine Absage an das Bündnis. Er wird am Vormittag auf dem Podium sitzen, um mit Staatssekretär Jens Brandenburg zu diskutieren – zusammen mit der GEW, dem Deutschen Lehrerverband und dem Bundeselternrat, die allesamt den Aufruf unterzeichneten. Damit graben sie dem Gipfel noch vor seinem Beginn das Wasser ab.
Der Appell des Bündnisses enthält konstruktive Vorschläge und spiegelt wesentliche Forderungen der Zivilgesellschaft wider:
Bildungsgipfel mit Kanzler Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholz hat als Hamburger Bürgermeister die Bildungspolitik der Hansestadt neu – und erfolgreich – aufgestellt. Als Kanzler hat er die Bildungspolitik noch nicht für sich entdeckt. Genau das fordert nun das Bündnis. Von höchster politischer Ebene könne eine Initialzündung ausgehen. Dass es dazu kommt, ist wenig wahrscheinlich. Neben den Planungen für den heutigen Bildungsgipfel könne sie keine weitere bekannt geben, sagt eine Regierungssprecherin.
Das Bündnis wünscht sich einen Megagipfel. Zu ihm wären auch Bildungs-, Wissenschafts- und Jugendminister von Bund und Ländern geladen. Der Gipfel hätte wohl hunderte Teilnehmende. Denn Vertreter aus der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, aus Wirtschaft, Wissenschaft, Bildungspraxis, Zivilgesellschaft sowie von Eltern und Schülern stünden ebenso auf der Gästeliste.
Neue Steuerung
Die Verfasser bemängeln die “unsystematische Verflechtung der politischen Ebenen”. Bereits vergangene Woche stellte Thomas de Maizière, Chef der Telekom-Stiftung, seine Forderungen für eine neue Steuerung des Bildungssystems im Interview vor. Das Verhältnis von Bund und Ländern sei “verfassungsrechtlich vollständig chaotisch”, sagte er Table.Media. Das klingt auch im Appell an die Spitzenpolitiker an. Von ihnen wünscht sich das Bündnis eine im Koalitionsvertrag angekündigte neue Kultur der Bildungszusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Von der KMK kommen freundliche Signale. Generalsekretär Udo Michallik sagte Table.Media, er erhoffe sich vom morgigen Gipfel ein Startsignal für den Austausch von Bund und Ländern. KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse hat nach eigenen Angaben “keine großen Erwartungen” – bringt aber einen Wunschzettel mit: Sie fordert “klare Aussagen zur Ausgestaltung eines neuen Digitalpakts und zum Umfang des lange angekündigten Startchancen-Programms”.
Klare Zielmarken
Bund, Länder und Kommunen sollen sich auf gemeinsame Ziele und Maßnahmen verbindlich einigen. Das erinnert an das Dresdener Treffen von vor 15 Jahren, als sich die Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern auf eine Reduktion von Schulabbrecherzahlen und mehr Finanzmittel einigten. “Ambitionierte Ziele sind das eine, das Prüfen ihrer verbindlichen Umsetzung das andere”, sagt Dirk Zorn, Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung. Die Dresdener Ziele seien nicht nachgehalten worden und wirkungslos verpufft. “Das muss diesmal besser gelingen, nicht zuletzt durch klare Verantwortlichkeiten.”
Keine Gießkanne
Das Bildungssystem sei nicht auskömmlich und sozial gerecht finanziert. Anders als SPD-Chefin Saskia Esken fordert das Bündnis kein 100-Milliarden-Sondervermögen Bildung. Die Kritik ist vielmehr: Gelder würden nach dem Gießkannenprinzip verteilt und landeten nicht dort, wo sie am meisten bewirken. Dieser Ansicht ist auch der Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani. Im ARD-Presseclub erinnerte er Sonntag daran, dass Kitas und Grundschulen am wichtigsten sind. Dennoch finanziere sie Deutschland schlechter als im OECD-Durchschnitt, die Sekundarstufe II dagegen überdurchschnittlich.
Bündnis sieht Demokratie in Gefahr
Einen derart breiten Schulterschluss erlebt die bildungspolitische Landschaft selten. Die Zukunft “unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie” stehe auf dem Spiel. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, teilt diese Einschätzung. Die Krise des Bildungssystems dürfe nicht zu einer Krise der demokratischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Schule auswachsen. “Es geht nicht nur darum, dass Schülerinnen und Schüler heute die Basiskompetenzen beim Lesen und Rechnen fehlen, sondern es geht auch um die demokratische Substanz bei jungen Leuten.” mit Christian Füller
Presseschau zum Bildungsgipfel