absoluter Fokus auf die basalen Kompetenzen – das fordert die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK im heute veröffentlichten Gutachten. Zwanzig Maßnahmen werden den Kultusministern ans Herz gelegt. Ernst genommen und umgesetzt wäre es nicht weniger als eine Bildungsrevolution. In dieser Sonderausgabe ordnet Christian Füller das Gutachten politisch ein. Wie reagieren die Länder – und warum erinnern die Maßnahmen so sehr an das Jahr 2001?
Michael Becker-Mrotzek, Co-Vorsitzender der SWK-Arbeitsgruppe, beschreibt im Interview, wie sich die Maßnahmen in Kitas und Grundschulen jetzt schon umsetzen ließen. Er spürt Rückenwind aus der Politik (Einladungen aus der Hälfte der Kultusministerien liegen auf dem Tisch der SWK), und Gegenwind von Pädagogen. Sie sollten Daten und lernpsychologische Erkenntnisse nutzen. Und dann hat der Deutschdidaktiker noch eine Idee, wie sich bei digitalen Tools “die Spreu vom Weizen” trennen ließe.
Den Grundschulen gehört also diese Ausgabe – und die bildungspolitische Zukunft. Jüngste Anzeichen: Die Grünen fordern, das Startchancen-Programm nur für Grundschulen aufzusetzen. Die künftige KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse aus Berlin, kündigte gestern an, die Qualität der Ganztagsgrundschule “noch wesentlich intensiver” in den Blick zu nehmen. Und Sachsen gibt einem Dutzend Grundschulen eine neue Ausrichtung.Vera Kraft beschreibt die Geschichte einer Kooperation zwischen Ost und West: Sogenannte Familiengrundschulzentren haben Erfolg in NRW, werden vom Bundesfamilienministerium begrüßt – und nun auch in Sachsen eingeführt. Lesen Sie, worauf es bei dem Modell ankommt.
Mit einer schnellen Reaktion der Länder auf die miserablen Ergebnisse des IQB-Bildungstrends ist nicht zu rechnen. Zwar hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) nun ihr Gutachten vorgelegt, wie man die hohe Zahl der Risikoschüler reduzieren könnte. Das Papier ist aber derart umfassend, dass eine Umsetzung wahrscheinlich 20 Jahre dauern würde. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), sagte: “Wir arbeiten an einem institutionenübergreifenden Handlungsplan für das Zusammenspiel von Kitas und Grundschulen, der die wesentlichen Aspekte des Gutachtens aufgreift. Kurz: Alle maßgeblichen Menschen müssen an einen Tisch, um an einer kohärenten Strategie zu arbeiten.” Mit anderen Worten: Es kann dauern.
Das ist nicht in erster Linie die Schuld der Schulministerinnen und -minister. Die 191 Seiten Empfehlungen der Kommission fordern nicht weniger als eine Revolution des Bildungswesens. Kitas sollen grundsätzlich besser werden. Grundschulen und ihren Lehrerinnen und Lehrern wird ein sogenannter evidenzbasierter Ansatz der Schul- und Unterrichtsentwicklung ins Stammbuch geschrieben. Insgesamt schlagen die Gutachter 20 Maßnahmen vor (Download des Gutachtens). Dazu gehört die Aus- und Fortbildung pädagogischer Kräfte. Zentraler Inhalt ist eine Gesamtstrategie des Bildungsmonitorings. Aber auch die “verbindliche Verankerung eines Konzepts zur Förderung sozialer Integration und sozial-emotionaler Kompetenzen im Schulprogramm jeder Grundschule” fordern die Gutachter.
Erste Äußerungen der Kultusminister auf den IQB-Bildungstrend kündigen eine disparate Reaktion an. Die Kultusministerin des Saarlands, Christine Streichert-Clivot (SPD), verwies auf Maßnahmen der Jahre 2019 und 2022. Vor drei Jahren habe das Saarland bereits die Schulsozialarbeit gesetzlich festgeschrieben – finanziert von Land und Jugendhilfe. Im Sommer habe sie in Grundschulen Sprachförderung verbindlich verankert.
Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) kündigte an, Ressourcen in Form von mehr Zeit in die Schulen zu bringen. “Wir haben in den letzten Jahren in den Jahrgangsstufen drei und vier jeweils eine Stunde mehr Deutsch eingeführt.” Das werde nun auch in den Jahrgangsstufen eins und zwei geschehen. Lorz betonte: “Mir ist es wichtig, dass das nicht nur einfach mehr Deutschunterricht in der herkömmlichen Form ist, sondern diese Stunden sollen und können für gezielte individuelle Förderungen der Schüler eingesetzt werden.”
Der IQB-Bildungstrend für Viertklässler hat im Oktober gezeigt, dass Deutschlands Schüler wieder auf dem Stand des Pisa-Schocks vor 20 Jahren angekommen sind. Das “Programme for International Student Assessment” (Pisa) war der erste große Schulleistungsvergleich. Nun erreichen in einzelnen Bundesländern wie Berlin, Brandenburg und Bremen 40 bis 50 Prozent der Viertklässler die Mindeststandards in Orthografie nicht. Ein Vergleich der politischen Reaktionen auf Pisa 2000 und den Bildungstrend 2021 zeigt Kontinuität und Wandel der Schulpolitik.
Der Wandel: Als die Pisa-Studie 2001 erschien, hatte die KMK noch in der Nacht einen Sieben-Punkte-Katalog als Reaktion beschlossen. Sie hatte ihn zeitgleich mit den Pisa-Ergebnissen bekannt gegeben. Damals waren die politisch Verantwortlichen so massiv unter Druck, dass sie es sich nicht leisten konnten, wochenlang über Maßnahmen zu konferieren. Bei der Veröffentlichung des Bildungstrends vor ein paar Wochen war das ganz anders. Da waren die Schulminister zwar auch schockiert – aber sie verwiesen in aller Ruhe auf das Gutachten, das die SWK nun, zwei Monate später, am heutigen Freitag, vorstellen sollte.
Die Kontinuität: Einige Forderungen aus dem Gutachten der Kommission und aus dem Sieben-Punkte-Katalog der Kultusminister von 2001 sind identisch. Bürger können sich nun die Frage stellen: Warum tauchen 20 Jahre nach dem Pisa-Schock dieselben Maßnahmen wieder auf?
Der Versuch einer Erklärung in drei Feldern:
Kita als Bildungseinrichtung. Der wichtigste Beschluss im Jahr 2001 lautete, “Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich” zu ergreifen. Diese Forderung verteilt sich im aktuellen SWK-Gutachten auf mehrere Empfehlungen – die denselben Kern wie 2001 enthalten. Kinder seien bereits im Alter von drei bis vier Jahren in ihrer sprachlichen Entwicklung zu testen – und zu fördern. Nur, wann und warum wurde die 2001 begonnene sprachliche Förderung von Kita-Kindern wieder eingestellt? Die Experten erklären hinter vorgehaltener Hand: Erzieherinnen und Erzieher hätten eine Abneigung gegen systematische Spracherziehung.
Mindeststandards. Nach den ersten Pisa-Studien gab es eine Diskussion darüber, alles Lernen in der Schule am Erringen von Mindeststandards zu orientieren. Die Debatte endete allerdings relativ schnell – auch auf Druck der Gymnasien und des Philologenverbandes. Das aktuelle Gutachten der wissenschaftlichen Kommission ist daher nur konsequent, wenn es erneut fordert, auf das Erreichen von Mindeststandards beim Lesen, Schreiben und Rechnen zu achten.
Evidenzbasierte Schulpolitik. Wie im aktuellen Gutachten wurden schon 2001 viele Seiten Papier damit beschrieben, dass Schulen regelmäßig an Vergleichsstudien und diagnostischen Tests teilnehmen sollen. Die Kultusminister selbst allerdings betrieben den Ausstieg aus dem nationalen Pisa-Test – und bauten ihr eigenes Institut auf, das IQB, bei dem sie wesentlichen Einfluss haben. Auch an den sogenannten Vergleichsarbeiten (Vera) nehmen die Bundesländer nicht konsequent teil.
Um die Versäumnisse zu erklären, schieben Mitglieder der SWK die Schuld Richtung Erzieherinnen und Lehrerinnen. “Wir sehen in den Schulen deutliche Akzeptanzprobleme für wissenschaftlich basierte Lernförderung“, sagt Felicitas Thiel, Co-Vorsitzende der SWK. “Das liegt möglicherweise auch an der wissenschaftsskeptischen reformpädagogischen Tradition.” Es sei hierzulande viel schwieriger, mit Lehrkräften über Lernstandserhebungen zu sprechen als in anderen Staaten. “Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer also überzeugen, dass es notwendig ist, stärker auf die bei den Vergleichsarbeiten ermittelten Defizite der Kinder zu schauen.” Dazu gehöre, Maßnahmen im Unterricht zu ergreifen, die mutmaßlich wirksam sind. “Das akzeptieren Lehrkräften gerade in der Grundschule nicht ohne weiteres“, bedauerte Thiel.
Ein interessanter Nebenschauplatz: Die Forderung nach einem härterem Vorgehen gegen Privatschulen war in der wissenschaftlichen Kommission umstritten. Ein Teil der Kommission hatte dafür plädiert, privaten Grundschulen die Ketten anzulegen. Laut Grundgesetz bedarf die Genehmigung privater Grundschulen, die sich gerade im Osten der Republik ausbreiten, eines strengen Verfahrens. Ein anderer Teil der SWK sah hingegen Privatschulen als Experimentierfeld für schnelle und wirksame Schulentwicklungen. In den Empfehlungen findet sich daher kein Hinweis auf ein Verbot privater Grundschulen.
Herr Becker-Mrotzek, angenommen, Sie dürfen einen Lehrplan für Grundschulen neu ausarbeiten: Wie stellen Sie darin sicher, dass alle Kinder am Ende der vierten Klasse lesen und schreiben können?
Zwei Dinge wären zu beachten: Die Einführung der basalen Kompetenzen in der ersten und zweiten Klasse muss auf wissenschaftlich fundierten, didaktischen Konzepten erfolgen. Viele Pädagogen denken nach wie vor, dass die deutsche Orthografie unregelmäßig, nahezu unvermittelbar, ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder müssen in die Lage versetzt werden, die Schriftsprache systematisch zu lernen. Mit wenigen Regeln kann man schon den Großteil der Wörter schreiben.
Auf welchen Punkt würden Sie im idealen Lehrplan noch achten?
Sobald die Grundschüler einen ersten Zugang zur Schrift gefunden haben, also die Laut-Schrift-Beziehungen herstellen können, müssen diese Prozesse automatisiert werden. Je automatisierter das abläuft, desto stärker wird das Arbeitsgedächtnis entlastet und die Kinder können komplexere Sätze und Inhalte aufnehmen. Neben der Einsicht in die Schriftsystematik braucht es also regelmäßiges, kurzes Üben. Würde beides konsequent umgesetzt, könnte ein Großteil am Ende der vierten Klasse lesen und schreiben.
Wie sollten solche regelmäßigen, kurzen Trainings aufgebaut sein?
Das sind vielfältige Übungen, je nach Schuljahr 15 bis 30 Minuten pro Tag. Bleiben wir beim Schreibenlernen: Da bieten sich zunächst einfache Aufgaben zum Schreiben von Wörtern an. Dann geht es darum, die Ideen, die man hat, möglichst schnell in Wörter umzusetzen. Schließlich sollen kleine Bilder mit Alltagssituationen beschrieben werden.
Haben Deutschlands Didaktiker die vergangenen Jahrzehnte geschlafen? Erleben wir die Abkehr von deutscher Reformpädagogik hin zu Prämissen der Lernpsychologie?
Ja, teilweise herrschen in Kitas und Schulen noch Mythen vor, die aus der Reformpädagogik stammen. Neuere didaktische Konzepte und lernpsychologische Erkenntnisse schaffen es selten in die Praxis. Das hat damit zu tun, dass Gewohnheiten und eingeschliffene Praktiken so schwer zu ändern sind und viele Pädagogen sich auf ihre eigene Erfahrung aus der Schulzeit beziehen. Hier müssen wir in der Lehrerausbildung und -fortbildung ansetzen.
In Ihrem Gutachten schreiben Sie, dass Kitas basale Kompetenzen noch nicht systematisch fördern. Sollten sich die Einrichtungen von Singen, Stuhlkreisen und Stockbrot verabschieden – und aufs Pauken konzentrieren?
Nein, es geht in der Kita überhaupt nicht um Pauken, sondern um das, was jedes Kind lernen will: sich mit anderen austauschen und verständigen! Dialogisches Lesen von Kinderbüchern mit der Erzieherin ist alles andere als Pauken. Dabei wird die soziale Beziehung gestärkt, der Wortschatz vergrößert – und die Kinder lernen Zusammenhänge in Geschichten. Das ist kein Vorziehen von Schule, sondern wichtige Aufgabe der Kita: die Entwicklung zu begleiten. Erste kleine naturwissenschaftliche Experimente gehören genauso dazu.
Sie fordern mehr Diagnostik in der frühkindlichen Bildung. Am Ende der Kita käme dann der verpflichtende Test und die Stunde der Wahrheit.
Ja, es braucht spätestens im Alter von vier Jahren diagnostische Tests. Kinder mit Förderbedarf sollten mindestens im letzten Jahr vor der Einschulung verpflichtende Sprachförderung erhalten. Für die Diagnoseinstrumente fordern wir die Länder auf, gemeinsam Tests zu entwickeln. Wir brauchen nicht sechzehn verschiedene!
Ginge es nach der SWK, sollte Unterricht datengestützt entwickelt werden. Das ist das Zauberwort der aktuellen bildungspolitischen Diskussion. Werden wir konkret: Warum nutzten Schulen die Vera-3-Daten so wenig? Bisher werden sie zur Kenntnis genommen – und dann abgeheftet.
Die Länder haben die Vera-Daten zu wenig implementiert. Die Tests wurden unvermittelt eingeführt und Schulen und Lehrer damit allein gelassen. Lehrer nehmen die Daten oft als Belastung wahr. Der diagnostische Wert und die Fähigkeit, solche Daten zu lesen, muss Gegenstand von Aus- und Fortbildung sein. Es geht nicht um den Vergleich einzelner Schüler oder Klassenlehrer. Die Daten müssen Teil der Schulentwicklung sein und zeigen: Wo stehen wir als Schule heute, von wo kommen wir, wo wollen wir hin.
Nun fordert die SWK den strikten Fokus auf Basiskompetenzen. Bremst die Schule leistungsstarke Schüler dadurch nicht aus?
Nein, bei der Förderung von Basiskompetenzen reden wir von einer kleinen Zeitspanne. Auch leistungsstarke Schüler müssen flüssig lesen und schreiben und gut rechnen können. Die Basiskompetenzen können auch in Tandems aus stärkeren und schwächeren Schülern geübt werden. Der “Trainer” profitiert enorm vom Lernen durch Lehren, das zeigt unsere Forschung.
Der Dampfer Bildungspolitik steuert derzeit um. 20 Jahre lang fokussierte man auf Regelstandards, jetzt diskutiert die Bildungsrepublik über Mindeststandards. Im Gutachten definieren Sie Basiskompetenzen für den Bereich Lesen und Schreiben. Worauf kommt es an?
Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, Basiskompetenzen zu formulieren. Das sind diejenigen Kompetenzen, die es braucht, um Mindeststandards überhaupt erst erreichen zu können. Für das Lesen und Schreiben formulieren wir im Gutachten erstmals solche Basiskompetenzen. Dabei geht es um Flüssigkeit und den Erwerb von Strategien. Das heißt: Die Schüler müssen flüssig lesen und schreiben können, und sie müssen in der Lage sein, Strategien anzuwenden, um komplexe Texte verstehen und schreiben zu können.
Diagnostische Tests sollen den Erwerb solcher Kompetenzen regelmäßig überprüfen. Welche Rolle spielen digitale Tools dabei?
Die können oftmals genauso gut eingesetzt werden wie analoge Tests. Das Problem ist aber, dass es eine Vielzahl von Apps auf dem Markt gibt. Oft genügen die keinen wissenschaftlichen Standards der Diagnostik. Wir müssen Spreu vom Weizen trennen.
Daher wünscht sich die SWK eine Metaplattform, auf der vertrauenswürdige Diagnostik-Tools abgerufen werden können. Sollen auch private Anbieter zugelassen werden?
Das würde ich nicht ausschließen. Erfolgreiche Lernapps liegen aktuell eher im mathematischen Bereich vor, im sprachlichen sehe ich das weniger. Die Schulbuchverlage sind noch nicht so weit. Wir fordern die Metaplattform, weil wir am Mercator-Institut mit unseren Partnern bei der Bund-Länder-Initiative “Bildung in Sprache und Schrift” gute Erfahrungen mit der Tooldatenbank gemacht haben. Dort haben wir ein Ampelsystem eingeführt, das Lehrern didaktische Tools empfiehlt.
Und welche Stelle entscheidet über die Güte der Apps?
Das sollte eine Aufgabe für die länderübergreifenden Kompetenzzentren für digitalen Unterricht sein, die derzeit aufgebaut werden.
Nach den schlechten Ergebnissen des IQB-Bildungstrends: Sehen Sie ein Momentum, sodass die Politik die 20 vorgeschlagenen Maßnahmen des Gutachtens umsetzt?
Der IQB-Bildungstrend war für die Länder ein zweiter Pisa-Schock. Mit der Einschätzung sind wir uns als SWK einig. Etwa die Hälfte der Bundesländer hat uns bereits eingeladen, das Gutachten auf Ministerebene vorzustellen. Man merkt, dass sie auf unsere Empfehlungen warten und was wir daraus für Schlussfolgerungen ziehen. Angesichts des Fachkräftemangels ist nun allen klar, dass wir die Basiskompetenzen stärken müssen. Können die Kinder nicht richtig lesen, schreiben und rechnen, sind sie nicht ausbildungsfähig.
Michael Becker-Mrotzek ist Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK und hat, zusammen mit Felicitas Thiel, den Vorsitz der Arbeitsgruppe für das aktuelle Gutachten inne. Er ist Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik und Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln.
Die Schulen wollen sich an Eltern annähern, ihnen zeigen, dass Schule mehr ist, als über (schlechte) Leistungen der Kinder zu beratschlagen. Dafür laden sie in Kochkurse ein, in Elterncafés, Beratungsstellen auf Russisch oder Arabisch. Das ist das Konzept der Familiengrundschulzentren und es scheint gut zu funktionieren. Wer Eltern, die sich sonst wenig für die Schullaufbahn ihres Kindes interessieren, einbezieht, hilft damit den Schülern. Nun folgt Sachsen dem Vorreiter Nordrhein-Westfalen.
Als erste Kommune begann die Stadt Gelsenkirchen zum Schuljahr 2014/-15 Grundschulen zu Familiengrundschulzentren zu entwickeln. Seitdem sind circa 100 weitere in Nordrhein-Westfalen dazugekommen. Zählt man auch jene dazu, die ein Familiengrundschulzentrum (FGZ) planen oder diskutieren, sind es sogar rund 160, sagt Michael John, Programmleiter für Familiengrundschulzentren bei der Wübben-Stiftung. Die Stiftung war maßgeblich an der Finanzierung und inhaltlichen Entwicklung der ersten Familiengrundschulzentren in NRW beteiligt. Zusammen mit der Auridis-Stiftung fördert sie das Projekt jetzt auch in Sachsen.
Dort sollen sechs Familiengrundschulzentren (FGZ) in Dresden entstehen, zwei in Chemnitz und drei in Leipzig. Zusätzlich soll das Konzept an je einer Förderschule in Dresden und Chemnitz eingeführt werden. Zum Schuljahr 2023/-24 beginnt man mit der pädagogischen Arbeit, gibt das sächsische Staatsministerium für Kultus (SMK) bekannt. In Zukunft sollen auch in den Landkreisen Familiengrundschulzentren entstehen.
Bis dahin stehe noch viel Koordination zwischen Kommunen und Schulleitungen an, sagt John. Der Austausch mit NRW erleichtere den Aufbau in Sachsen enorm. “Viele der NRW-Erfahrungen sind jetzt nach Sachsen geflossen – einerseits als Blaupause, andererseits als Grundlage für individuelle Entwicklung der Schulen.” Förderschulen bei dem Projekt miteinzubeziehen, war Wunsch des SMK.
Für die Jahre 2022 und 2023 unterstützt das sächsische Kultusministerium Dresden, Chemnitz und Leipzig mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von rund 330.000 Euro. Die Wübben- und die Auridis-Stiftung planen, die Städte für eine Dauer von fünf Jahren mitzufinanzieren. Die Träger der Schulen stehen noch nicht fest, sagt Programmleiter John. Das Ausschreibeverfahren sei noch in Vorbereitung. Man könne aber davon ausgehen, dass der Hortbereich als Kooperationspartner eine tragende Rolle spielen wird.
Mit der auf zwei Jahre befristeten Finanzierung läuft Sachsen jedoch Gefahr, Fehler aus Westdeutschland zu wiederholen. Denn in NRW sind zwar viele von dem Modell überzeugt, es fehlt aber an zuverlässiger staatlicher Unterstützung. Dort gibt es aktuell zwei Förderrichtlinien (das Landesprogramm kinderstark und eine für FGZ im Ruhrgebiet), mit denen die besonderen Grundschulen finanziert werden können.
Das Problem dabei: Beide Förderungen des Landes sind auf ein Jahr begrenzt.”Dadurch entsteht eine große Planungsunsicherheit”, sagt Kornelius Knettel, Schulleiter eines Familiengrundschulzentrums in Düsseldorf. “Wir haben keinen Einfluss auf die Finanzen.” Man könne lediglich durch gute Arbeit auf sich aufmerksam machen – und hoffen, dass einer Verlängerung stattgegeben wird.
Kontraproduktive Rahmenbedingen seien das, sagt auch Programmleiter John von der Wübben-Stiftung. Viele Fachkräfte bekämen aufgrund dieser Unsicherheit nur Verträge für ein Jahr. “Familiengrundschulzentren sind aber nicht als befristetes Projekt gedacht, sondern als Schulentwicklungsprozess”, sagt John. Dieser Bedeutung ist man sich im nordrhein-westfälische Schulministerium bewusst – konkrete Informationen, wie die Finanzierung nach 2023 aussehen soll, kann es jedoch nicht geben.
Auf Anfrage teilt das Bundesfamilienministerium mit, dass es “wichtig und begrüßenswert” sei, wenn Familienzentren an Schulen angebunden werden. Familiengrundschulzentren wollen zeigen, dass Schule mehr ist als eine reine Paukanstalt. Die Idee ist angelehnt an Familienzentren von Kindertagesstätten, die es mittlerweile in den meisten Bundesländern gibt. Statt nur des einzelnen Kindes wird auch sein Umfeld in den Blick genommen. Eine Kehrseite hat der Ansatz jedoch: Er kann zu uneinheitlichen Trägerstrukturen führen.
In NRW werden die Familiengrundschulzentren überwiegend von Schule, Schulträger und freier Wohlfahrtspflege koordiniert. “Das führt zu vielen Aushandlungsprozessen”, sagt John. Er wünscht sich, dass Ministerien und weitere Verantwortliche ein klares Konzept für die Zentren, ähnlich wie beim Ganztagsausbau, ausarbeiten. “Andernfalls entsteht bei all den eigenen Entwürfen der Schulen gerne mal etwas Wildwuchs.” Derzeit haben die Schulen großen Freiraum, die Grundsätze des Programms in ihre Schulpraxis zu übersetzen.
Neben solchen Startschwierigkeiten zeigt der Blick in die Praxis: Sachsen holt sich scheinbar ein Erfolgsmodell ins Land. Der Erfolg basiere auf anlasslosem Austausch zwischen Eltern und Lehrern, erklärt der Soziologe Aladin El-Mafaalani im Interview. “Normalerweise kommen gerade benachteiligte Eltern und Lehrkräfte immer nur dann in Kontakt, wenn irgendwas Negatives passiert ist.”
Detlef Baier, Schulleiter eines FGZ in Bottrop, spricht von einem “großen Miteinander”. Viele seiner Schülerinnen und Schülern haben Migrationshintergrund, kommen aus Flüchtlingsfamilien und ärmeren Haushalten. Elternarbeit war zuvor, als sie “nur” Grundschule waren, immer schwieriger geworden. Jetzt habe die Schule durch das Familiencafé, Bastel- und Nähaktionen die Chance, die Eltern in anderen Zusammenhängen kennenzulernen. Diese zeigten sich dankbar. Gleichzeitig profitiere das Kollegium von der besseren Kommunikation mit ihnen. Und: “Die Schüler nehmen Schule verstärkt als positiv und wichtig wahr.”
Die Bildungskommission der Grünen fordert, das Startchancenprogramm auf Grundschulen zu konzentrieren. “Wir plädieren dafür, ausschließlich 4.000 Grundschulen in das Programm aufzunehmen”, heißt es in dem Papier. Die Autoren verweisen auf die aktuelle Studie Bildungstrend 2021, die fehlende Basiskompetenzen aufgezeigt hat. Nur die Fokussierung auf Grundschulen lasse es zu, “eine gute Vergleichbarkeit bei der Evaluation eingesetzter Verfahren innerhalb und zwischen den Ländern” zu erreichen. Die Forderung lässt sich als ein Appell an die eigenen grünen Bildungsminister und die Grünen in Landesregierungen verstehen. Sie nämlich sind es, welche das Startchancen-Programm des Bundes derzeit verzögern. Allerdings liegen im Bund auch die angedachten Finanzmittel von rund zwei Milliarden Euro jährlich derzeit noch nicht vor.
In dem Papier verlangen die Grünen erstmals auch eine genau quantifizierbare Reduzierung der Zahl der Risikoschüler. Es sei nötig, den Anteil der sogenannten Risikogruppe “um mindestens fünf Prozentpunkte in den kommenden fünf Jahren” abzusenken. Unter solchen Schülern versteht man jene Gruppe von Lernenden der Grundschule, die sprachliche und mathematische Mindeststandards nicht erreicht. Das Papier hat unter anderen die ehemalige Bundestagsabgeordneten Margit Stumpp aus Baden-Württemberg verfasst.
Die Autoren fordern daneben, auf den Königsteiner Schlüssel bei der Verteilung der Mittel an die Länder zu verzichten. Die Schulen seien danach auszuwählen, “wie viele Schülerinnen aus Familien mit Hartz IV sie besuchen.” Es komme gerade bei diesem Programm der Förderung der Chancengleichheit darauf an, die Mittelverteilung an benachteiligten Zielgruppen zu orientieren. Dazu zählen Haushalte, die Deutsch nicht als Familiensprache pflegen sowie Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen. Christian Füller
Britische Parlamentarier haben beim nationalen Test SAT (Standardised Assement Test) in Mathematik und Englisch im Durchschnitt schlechter abgeschnitten als die 10- bis 11-jährigen Grundschüler des Landes. Das berichtete unter anderem der Guardian. In Mathematik erreichten nur 44 Prozent das zu erwartende Niveau. Bei Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik war es die Hälfte. Zum Vergleich: 59 Prozent der Sechstklässler erfüllten in diesem Jahr den Mindeststandard – 2019 waren es noch 65 Prozent gewesen. Die SATs legen im Vereinigten Königreich Zweit- und Sechstklässler ab. Die Tests sollen den Lernfortschritt prüfen und Regierung und Eltern Aufschluss über die Unterrichtsqualität geben.
Organisiert hatte den Politiker-Test die Kampagnengruppe “More Than a Score”. Sie möchte den SAT abschaffen, weil sie ihn als zu belastend für die Schüler einstuft. Ian Byrne, Abgeordneter der Labour-Partei, äußerte sich nach dem Test schockiert über den Druck, den der Test erzeuge. Er sprach sich für eine Abschaffung aus. Der Konservative Robin Walker, ehemals Schulminister und jetzt Vorsitzende des Bildungsausschusses, plädierte gegen eine Abschaffung. Er halte die Prüfungen jedoch für reformbedürftig. Anna Parrisius
Zwei Drittel der deutschen Unternehmen würden befürworten, wenn Deutschland mehr Abkommen mit anderen Staaten schließen würde, um Fachkräfte zu gewinnen. Über die Hälfte ist an qualifizierten Fachkräften interessiert, ein Drittel an Azubis. Das geht aus einer Civey-Umfrage hervor, die das Meinungsforschungsinstitut im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat. Zwischen August und Oktober wurden 7.500 Entscheider aus deutschen Unternehmen befragt, die mindestens zehn Mitarbeiter haben.
Die Ergebnisse zeigen den Experten zufolge eine klare Zustimmung zu den “Talentpartnerschaften“, die die Europäische Kommission etwa mit Marokko, Tunesien und Ägypten plant. Als vielversprechend beurteilen die Bertelsmann-Forscher zudem den Ausbau transnationaler Ausbildungspartnerschaften mit Ländern des globalen Südens. In der Pflege arbeiten deutsche Kliniken bereits mit Krankenhäusern auf den Philippinen zusammen. Die Azubis werden dabei für den heimischen Arbeitsmarkt und für die Arbeit im Ausland qualifiziert. Sie erhalten berufsspezifische Sprachkurse.
Die Umfrage führt den Fachkräftemangel vor Augen: Fast drei Viertel der Unternehmen berichten von Engpässen. Dies ist eine deutliche Steigerung zu den Vorjahren – 2021 waren es noch 66 Prozent, 2020 55 Prozent. Die meisten Unternehmen (58 Prozent) suchen Personen mit Berufsausbildung. Dieser Bedarf ist bei allen Befragten stark angestiegen, besonders betroffen sind kleinere Betriebe. Außerdem trifft es am meisten die Branchen Alten- und Krankenpflege (82 Prozent der Unternehmen), Tourismus (63 Prozent) und Bau und Handwerk (61 Prozent).
Gesucht werden Fachkräfte mit Berufsausbildung vor allem in ländlichen sowie bildungs- und strukturschwächeren Regionen. Zudem etwas mehr im Osten als im Westen. Zum Vergleich: Nur 29 Prozent der Unternehmen berichten von Schwierigkeiten, Akademiker zu finden. Sie fehlen eher in städtischen Gebieten und Ballungszentren und besonders in der Kultur-, Kreativ- und Medienbranche.
Weniger als ein Fünftel der Betriebe denkt, dass es in Deutschland künftig ausreichend Personal gibt. Dennoch setzen sie in erster Linie noch auf Aus- und Weiterbildung im eigenen Betrieb und auf eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht mal jeder fünfte Betrieb sucht bisher Mitarbeiter im Ausland. Meist schätzen sie Verständigungsschwierigkeiten als zu groß ein. Außerdem fürchten sie rechtliche und bürokratische Hürden oder halten es für schwierig, ausländische Qualifikationen anzuerkennen.
Die Civey-Umfrage ist Teil des Fachkräftemigrationsmonitors der Bertelsmann-Stiftung (zum Download). Aus ihm geht hervor, dass insbesondere Zuwanderung aus Drittstaaten wichtig wird. Die Zuwanderungszahlen haben jedoch noch nicht wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Die Experten empfehlen, Hürden weiter abzusenken, Sprachförderung und Integrationshilfe zu stärken und Deutschland als Einwanderungsland attraktiver zu machen. Anna Parrisius
absoluter Fokus auf die basalen Kompetenzen – das fordert die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK im heute veröffentlichten Gutachten. Zwanzig Maßnahmen werden den Kultusministern ans Herz gelegt. Ernst genommen und umgesetzt wäre es nicht weniger als eine Bildungsrevolution. In dieser Sonderausgabe ordnet Christian Füller das Gutachten politisch ein. Wie reagieren die Länder – und warum erinnern die Maßnahmen so sehr an das Jahr 2001?
Michael Becker-Mrotzek, Co-Vorsitzender der SWK-Arbeitsgruppe, beschreibt im Interview, wie sich die Maßnahmen in Kitas und Grundschulen jetzt schon umsetzen ließen. Er spürt Rückenwind aus der Politik (Einladungen aus der Hälfte der Kultusministerien liegen auf dem Tisch der SWK), und Gegenwind von Pädagogen. Sie sollten Daten und lernpsychologische Erkenntnisse nutzen. Und dann hat der Deutschdidaktiker noch eine Idee, wie sich bei digitalen Tools “die Spreu vom Weizen” trennen ließe.
Den Grundschulen gehört also diese Ausgabe – und die bildungspolitische Zukunft. Jüngste Anzeichen: Die Grünen fordern, das Startchancen-Programm nur für Grundschulen aufzusetzen. Die künftige KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse aus Berlin, kündigte gestern an, die Qualität der Ganztagsgrundschule “noch wesentlich intensiver” in den Blick zu nehmen. Und Sachsen gibt einem Dutzend Grundschulen eine neue Ausrichtung.Vera Kraft beschreibt die Geschichte einer Kooperation zwischen Ost und West: Sogenannte Familiengrundschulzentren haben Erfolg in NRW, werden vom Bundesfamilienministerium begrüßt – und nun auch in Sachsen eingeführt. Lesen Sie, worauf es bei dem Modell ankommt.
Mit einer schnellen Reaktion der Länder auf die miserablen Ergebnisse des IQB-Bildungstrends ist nicht zu rechnen. Zwar hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) nun ihr Gutachten vorgelegt, wie man die hohe Zahl der Risikoschüler reduzieren könnte. Das Papier ist aber derart umfassend, dass eine Umsetzung wahrscheinlich 20 Jahre dauern würde. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), sagte: “Wir arbeiten an einem institutionenübergreifenden Handlungsplan für das Zusammenspiel von Kitas und Grundschulen, der die wesentlichen Aspekte des Gutachtens aufgreift. Kurz: Alle maßgeblichen Menschen müssen an einen Tisch, um an einer kohärenten Strategie zu arbeiten.” Mit anderen Worten: Es kann dauern.
Das ist nicht in erster Linie die Schuld der Schulministerinnen und -minister. Die 191 Seiten Empfehlungen der Kommission fordern nicht weniger als eine Revolution des Bildungswesens. Kitas sollen grundsätzlich besser werden. Grundschulen und ihren Lehrerinnen und Lehrern wird ein sogenannter evidenzbasierter Ansatz der Schul- und Unterrichtsentwicklung ins Stammbuch geschrieben. Insgesamt schlagen die Gutachter 20 Maßnahmen vor (Download des Gutachtens). Dazu gehört die Aus- und Fortbildung pädagogischer Kräfte. Zentraler Inhalt ist eine Gesamtstrategie des Bildungsmonitorings. Aber auch die “verbindliche Verankerung eines Konzepts zur Förderung sozialer Integration und sozial-emotionaler Kompetenzen im Schulprogramm jeder Grundschule” fordern die Gutachter.
Erste Äußerungen der Kultusminister auf den IQB-Bildungstrend kündigen eine disparate Reaktion an. Die Kultusministerin des Saarlands, Christine Streichert-Clivot (SPD), verwies auf Maßnahmen der Jahre 2019 und 2022. Vor drei Jahren habe das Saarland bereits die Schulsozialarbeit gesetzlich festgeschrieben – finanziert von Land und Jugendhilfe. Im Sommer habe sie in Grundschulen Sprachförderung verbindlich verankert.
Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) kündigte an, Ressourcen in Form von mehr Zeit in die Schulen zu bringen. “Wir haben in den letzten Jahren in den Jahrgangsstufen drei und vier jeweils eine Stunde mehr Deutsch eingeführt.” Das werde nun auch in den Jahrgangsstufen eins und zwei geschehen. Lorz betonte: “Mir ist es wichtig, dass das nicht nur einfach mehr Deutschunterricht in der herkömmlichen Form ist, sondern diese Stunden sollen und können für gezielte individuelle Förderungen der Schüler eingesetzt werden.”
Der IQB-Bildungstrend für Viertklässler hat im Oktober gezeigt, dass Deutschlands Schüler wieder auf dem Stand des Pisa-Schocks vor 20 Jahren angekommen sind. Das “Programme for International Student Assessment” (Pisa) war der erste große Schulleistungsvergleich. Nun erreichen in einzelnen Bundesländern wie Berlin, Brandenburg und Bremen 40 bis 50 Prozent der Viertklässler die Mindeststandards in Orthografie nicht. Ein Vergleich der politischen Reaktionen auf Pisa 2000 und den Bildungstrend 2021 zeigt Kontinuität und Wandel der Schulpolitik.
Der Wandel: Als die Pisa-Studie 2001 erschien, hatte die KMK noch in der Nacht einen Sieben-Punkte-Katalog als Reaktion beschlossen. Sie hatte ihn zeitgleich mit den Pisa-Ergebnissen bekannt gegeben. Damals waren die politisch Verantwortlichen so massiv unter Druck, dass sie es sich nicht leisten konnten, wochenlang über Maßnahmen zu konferieren. Bei der Veröffentlichung des Bildungstrends vor ein paar Wochen war das ganz anders. Da waren die Schulminister zwar auch schockiert – aber sie verwiesen in aller Ruhe auf das Gutachten, das die SWK nun, zwei Monate später, am heutigen Freitag, vorstellen sollte.
Die Kontinuität: Einige Forderungen aus dem Gutachten der Kommission und aus dem Sieben-Punkte-Katalog der Kultusminister von 2001 sind identisch. Bürger können sich nun die Frage stellen: Warum tauchen 20 Jahre nach dem Pisa-Schock dieselben Maßnahmen wieder auf?
Der Versuch einer Erklärung in drei Feldern:
Kita als Bildungseinrichtung. Der wichtigste Beschluss im Jahr 2001 lautete, “Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich” zu ergreifen. Diese Forderung verteilt sich im aktuellen SWK-Gutachten auf mehrere Empfehlungen – die denselben Kern wie 2001 enthalten. Kinder seien bereits im Alter von drei bis vier Jahren in ihrer sprachlichen Entwicklung zu testen – und zu fördern. Nur, wann und warum wurde die 2001 begonnene sprachliche Förderung von Kita-Kindern wieder eingestellt? Die Experten erklären hinter vorgehaltener Hand: Erzieherinnen und Erzieher hätten eine Abneigung gegen systematische Spracherziehung.
Mindeststandards. Nach den ersten Pisa-Studien gab es eine Diskussion darüber, alles Lernen in der Schule am Erringen von Mindeststandards zu orientieren. Die Debatte endete allerdings relativ schnell – auch auf Druck der Gymnasien und des Philologenverbandes. Das aktuelle Gutachten der wissenschaftlichen Kommission ist daher nur konsequent, wenn es erneut fordert, auf das Erreichen von Mindeststandards beim Lesen, Schreiben und Rechnen zu achten.
Evidenzbasierte Schulpolitik. Wie im aktuellen Gutachten wurden schon 2001 viele Seiten Papier damit beschrieben, dass Schulen regelmäßig an Vergleichsstudien und diagnostischen Tests teilnehmen sollen. Die Kultusminister selbst allerdings betrieben den Ausstieg aus dem nationalen Pisa-Test – und bauten ihr eigenes Institut auf, das IQB, bei dem sie wesentlichen Einfluss haben. Auch an den sogenannten Vergleichsarbeiten (Vera) nehmen die Bundesländer nicht konsequent teil.
Um die Versäumnisse zu erklären, schieben Mitglieder der SWK die Schuld Richtung Erzieherinnen und Lehrerinnen. “Wir sehen in den Schulen deutliche Akzeptanzprobleme für wissenschaftlich basierte Lernförderung“, sagt Felicitas Thiel, Co-Vorsitzende der SWK. “Das liegt möglicherweise auch an der wissenschaftsskeptischen reformpädagogischen Tradition.” Es sei hierzulande viel schwieriger, mit Lehrkräften über Lernstandserhebungen zu sprechen als in anderen Staaten. “Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer also überzeugen, dass es notwendig ist, stärker auf die bei den Vergleichsarbeiten ermittelten Defizite der Kinder zu schauen.” Dazu gehöre, Maßnahmen im Unterricht zu ergreifen, die mutmaßlich wirksam sind. “Das akzeptieren Lehrkräften gerade in der Grundschule nicht ohne weiteres“, bedauerte Thiel.
Ein interessanter Nebenschauplatz: Die Forderung nach einem härterem Vorgehen gegen Privatschulen war in der wissenschaftlichen Kommission umstritten. Ein Teil der Kommission hatte dafür plädiert, privaten Grundschulen die Ketten anzulegen. Laut Grundgesetz bedarf die Genehmigung privater Grundschulen, die sich gerade im Osten der Republik ausbreiten, eines strengen Verfahrens. Ein anderer Teil der SWK sah hingegen Privatschulen als Experimentierfeld für schnelle und wirksame Schulentwicklungen. In den Empfehlungen findet sich daher kein Hinweis auf ein Verbot privater Grundschulen.
Herr Becker-Mrotzek, angenommen, Sie dürfen einen Lehrplan für Grundschulen neu ausarbeiten: Wie stellen Sie darin sicher, dass alle Kinder am Ende der vierten Klasse lesen und schreiben können?
Zwei Dinge wären zu beachten: Die Einführung der basalen Kompetenzen in der ersten und zweiten Klasse muss auf wissenschaftlich fundierten, didaktischen Konzepten erfolgen. Viele Pädagogen denken nach wie vor, dass die deutsche Orthografie unregelmäßig, nahezu unvermittelbar, ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder müssen in die Lage versetzt werden, die Schriftsprache systematisch zu lernen. Mit wenigen Regeln kann man schon den Großteil der Wörter schreiben.
Auf welchen Punkt würden Sie im idealen Lehrplan noch achten?
Sobald die Grundschüler einen ersten Zugang zur Schrift gefunden haben, also die Laut-Schrift-Beziehungen herstellen können, müssen diese Prozesse automatisiert werden. Je automatisierter das abläuft, desto stärker wird das Arbeitsgedächtnis entlastet und die Kinder können komplexere Sätze und Inhalte aufnehmen. Neben der Einsicht in die Schriftsystematik braucht es also regelmäßiges, kurzes Üben. Würde beides konsequent umgesetzt, könnte ein Großteil am Ende der vierten Klasse lesen und schreiben.
Wie sollten solche regelmäßigen, kurzen Trainings aufgebaut sein?
Das sind vielfältige Übungen, je nach Schuljahr 15 bis 30 Minuten pro Tag. Bleiben wir beim Schreibenlernen: Da bieten sich zunächst einfache Aufgaben zum Schreiben von Wörtern an. Dann geht es darum, die Ideen, die man hat, möglichst schnell in Wörter umzusetzen. Schließlich sollen kleine Bilder mit Alltagssituationen beschrieben werden.
Haben Deutschlands Didaktiker die vergangenen Jahrzehnte geschlafen? Erleben wir die Abkehr von deutscher Reformpädagogik hin zu Prämissen der Lernpsychologie?
Ja, teilweise herrschen in Kitas und Schulen noch Mythen vor, die aus der Reformpädagogik stammen. Neuere didaktische Konzepte und lernpsychologische Erkenntnisse schaffen es selten in die Praxis. Das hat damit zu tun, dass Gewohnheiten und eingeschliffene Praktiken so schwer zu ändern sind und viele Pädagogen sich auf ihre eigene Erfahrung aus der Schulzeit beziehen. Hier müssen wir in der Lehrerausbildung und -fortbildung ansetzen.
In Ihrem Gutachten schreiben Sie, dass Kitas basale Kompetenzen noch nicht systematisch fördern. Sollten sich die Einrichtungen von Singen, Stuhlkreisen und Stockbrot verabschieden – und aufs Pauken konzentrieren?
Nein, es geht in der Kita überhaupt nicht um Pauken, sondern um das, was jedes Kind lernen will: sich mit anderen austauschen und verständigen! Dialogisches Lesen von Kinderbüchern mit der Erzieherin ist alles andere als Pauken. Dabei wird die soziale Beziehung gestärkt, der Wortschatz vergrößert – und die Kinder lernen Zusammenhänge in Geschichten. Das ist kein Vorziehen von Schule, sondern wichtige Aufgabe der Kita: die Entwicklung zu begleiten. Erste kleine naturwissenschaftliche Experimente gehören genauso dazu.
Sie fordern mehr Diagnostik in der frühkindlichen Bildung. Am Ende der Kita käme dann der verpflichtende Test und die Stunde der Wahrheit.
Ja, es braucht spätestens im Alter von vier Jahren diagnostische Tests. Kinder mit Förderbedarf sollten mindestens im letzten Jahr vor der Einschulung verpflichtende Sprachförderung erhalten. Für die Diagnoseinstrumente fordern wir die Länder auf, gemeinsam Tests zu entwickeln. Wir brauchen nicht sechzehn verschiedene!
Ginge es nach der SWK, sollte Unterricht datengestützt entwickelt werden. Das ist das Zauberwort der aktuellen bildungspolitischen Diskussion. Werden wir konkret: Warum nutzten Schulen die Vera-3-Daten so wenig? Bisher werden sie zur Kenntnis genommen – und dann abgeheftet.
Die Länder haben die Vera-Daten zu wenig implementiert. Die Tests wurden unvermittelt eingeführt und Schulen und Lehrer damit allein gelassen. Lehrer nehmen die Daten oft als Belastung wahr. Der diagnostische Wert und die Fähigkeit, solche Daten zu lesen, muss Gegenstand von Aus- und Fortbildung sein. Es geht nicht um den Vergleich einzelner Schüler oder Klassenlehrer. Die Daten müssen Teil der Schulentwicklung sein und zeigen: Wo stehen wir als Schule heute, von wo kommen wir, wo wollen wir hin.
Nun fordert die SWK den strikten Fokus auf Basiskompetenzen. Bremst die Schule leistungsstarke Schüler dadurch nicht aus?
Nein, bei der Förderung von Basiskompetenzen reden wir von einer kleinen Zeitspanne. Auch leistungsstarke Schüler müssen flüssig lesen und schreiben und gut rechnen können. Die Basiskompetenzen können auch in Tandems aus stärkeren und schwächeren Schülern geübt werden. Der “Trainer” profitiert enorm vom Lernen durch Lehren, das zeigt unsere Forschung.
Der Dampfer Bildungspolitik steuert derzeit um. 20 Jahre lang fokussierte man auf Regelstandards, jetzt diskutiert die Bildungsrepublik über Mindeststandards. Im Gutachten definieren Sie Basiskompetenzen für den Bereich Lesen und Schreiben. Worauf kommt es an?
Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, Basiskompetenzen zu formulieren. Das sind diejenigen Kompetenzen, die es braucht, um Mindeststandards überhaupt erst erreichen zu können. Für das Lesen und Schreiben formulieren wir im Gutachten erstmals solche Basiskompetenzen. Dabei geht es um Flüssigkeit und den Erwerb von Strategien. Das heißt: Die Schüler müssen flüssig lesen und schreiben können, und sie müssen in der Lage sein, Strategien anzuwenden, um komplexe Texte verstehen und schreiben zu können.
Diagnostische Tests sollen den Erwerb solcher Kompetenzen regelmäßig überprüfen. Welche Rolle spielen digitale Tools dabei?
Die können oftmals genauso gut eingesetzt werden wie analoge Tests. Das Problem ist aber, dass es eine Vielzahl von Apps auf dem Markt gibt. Oft genügen die keinen wissenschaftlichen Standards der Diagnostik. Wir müssen Spreu vom Weizen trennen.
Daher wünscht sich die SWK eine Metaplattform, auf der vertrauenswürdige Diagnostik-Tools abgerufen werden können. Sollen auch private Anbieter zugelassen werden?
Das würde ich nicht ausschließen. Erfolgreiche Lernapps liegen aktuell eher im mathematischen Bereich vor, im sprachlichen sehe ich das weniger. Die Schulbuchverlage sind noch nicht so weit. Wir fordern die Metaplattform, weil wir am Mercator-Institut mit unseren Partnern bei der Bund-Länder-Initiative “Bildung in Sprache und Schrift” gute Erfahrungen mit der Tooldatenbank gemacht haben. Dort haben wir ein Ampelsystem eingeführt, das Lehrern didaktische Tools empfiehlt.
Und welche Stelle entscheidet über die Güte der Apps?
Das sollte eine Aufgabe für die länderübergreifenden Kompetenzzentren für digitalen Unterricht sein, die derzeit aufgebaut werden.
Nach den schlechten Ergebnissen des IQB-Bildungstrends: Sehen Sie ein Momentum, sodass die Politik die 20 vorgeschlagenen Maßnahmen des Gutachtens umsetzt?
Der IQB-Bildungstrend war für die Länder ein zweiter Pisa-Schock. Mit der Einschätzung sind wir uns als SWK einig. Etwa die Hälfte der Bundesländer hat uns bereits eingeladen, das Gutachten auf Ministerebene vorzustellen. Man merkt, dass sie auf unsere Empfehlungen warten und was wir daraus für Schlussfolgerungen ziehen. Angesichts des Fachkräftemangels ist nun allen klar, dass wir die Basiskompetenzen stärken müssen. Können die Kinder nicht richtig lesen, schreiben und rechnen, sind sie nicht ausbildungsfähig.
Michael Becker-Mrotzek ist Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK und hat, zusammen mit Felicitas Thiel, den Vorsitz der Arbeitsgruppe für das aktuelle Gutachten inne. Er ist Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik und Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln.
Die Schulen wollen sich an Eltern annähern, ihnen zeigen, dass Schule mehr ist, als über (schlechte) Leistungen der Kinder zu beratschlagen. Dafür laden sie in Kochkurse ein, in Elterncafés, Beratungsstellen auf Russisch oder Arabisch. Das ist das Konzept der Familiengrundschulzentren und es scheint gut zu funktionieren. Wer Eltern, die sich sonst wenig für die Schullaufbahn ihres Kindes interessieren, einbezieht, hilft damit den Schülern. Nun folgt Sachsen dem Vorreiter Nordrhein-Westfalen.
Als erste Kommune begann die Stadt Gelsenkirchen zum Schuljahr 2014/-15 Grundschulen zu Familiengrundschulzentren zu entwickeln. Seitdem sind circa 100 weitere in Nordrhein-Westfalen dazugekommen. Zählt man auch jene dazu, die ein Familiengrundschulzentrum (FGZ) planen oder diskutieren, sind es sogar rund 160, sagt Michael John, Programmleiter für Familiengrundschulzentren bei der Wübben-Stiftung. Die Stiftung war maßgeblich an der Finanzierung und inhaltlichen Entwicklung der ersten Familiengrundschulzentren in NRW beteiligt. Zusammen mit der Auridis-Stiftung fördert sie das Projekt jetzt auch in Sachsen.
Dort sollen sechs Familiengrundschulzentren (FGZ) in Dresden entstehen, zwei in Chemnitz und drei in Leipzig. Zusätzlich soll das Konzept an je einer Förderschule in Dresden und Chemnitz eingeführt werden. Zum Schuljahr 2023/-24 beginnt man mit der pädagogischen Arbeit, gibt das sächsische Staatsministerium für Kultus (SMK) bekannt. In Zukunft sollen auch in den Landkreisen Familiengrundschulzentren entstehen.
Bis dahin stehe noch viel Koordination zwischen Kommunen und Schulleitungen an, sagt John. Der Austausch mit NRW erleichtere den Aufbau in Sachsen enorm. “Viele der NRW-Erfahrungen sind jetzt nach Sachsen geflossen – einerseits als Blaupause, andererseits als Grundlage für individuelle Entwicklung der Schulen.” Förderschulen bei dem Projekt miteinzubeziehen, war Wunsch des SMK.
Für die Jahre 2022 und 2023 unterstützt das sächsische Kultusministerium Dresden, Chemnitz und Leipzig mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von rund 330.000 Euro. Die Wübben- und die Auridis-Stiftung planen, die Städte für eine Dauer von fünf Jahren mitzufinanzieren. Die Träger der Schulen stehen noch nicht fest, sagt Programmleiter John. Das Ausschreibeverfahren sei noch in Vorbereitung. Man könne aber davon ausgehen, dass der Hortbereich als Kooperationspartner eine tragende Rolle spielen wird.
Mit der auf zwei Jahre befristeten Finanzierung läuft Sachsen jedoch Gefahr, Fehler aus Westdeutschland zu wiederholen. Denn in NRW sind zwar viele von dem Modell überzeugt, es fehlt aber an zuverlässiger staatlicher Unterstützung. Dort gibt es aktuell zwei Förderrichtlinien (das Landesprogramm kinderstark und eine für FGZ im Ruhrgebiet), mit denen die besonderen Grundschulen finanziert werden können.
Das Problem dabei: Beide Förderungen des Landes sind auf ein Jahr begrenzt.”Dadurch entsteht eine große Planungsunsicherheit”, sagt Kornelius Knettel, Schulleiter eines Familiengrundschulzentrums in Düsseldorf. “Wir haben keinen Einfluss auf die Finanzen.” Man könne lediglich durch gute Arbeit auf sich aufmerksam machen – und hoffen, dass einer Verlängerung stattgegeben wird.
Kontraproduktive Rahmenbedingen seien das, sagt auch Programmleiter John von der Wübben-Stiftung. Viele Fachkräfte bekämen aufgrund dieser Unsicherheit nur Verträge für ein Jahr. “Familiengrundschulzentren sind aber nicht als befristetes Projekt gedacht, sondern als Schulentwicklungsprozess”, sagt John. Dieser Bedeutung ist man sich im nordrhein-westfälische Schulministerium bewusst – konkrete Informationen, wie die Finanzierung nach 2023 aussehen soll, kann es jedoch nicht geben.
Auf Anfrage teilt das Bundesfamilienministerium mit, dass es “wichtig und begrüßenswert” sei, wenn Familienzentren an Schulen angebunden werden. Familiengrundschulzentren wollen zeigen, dass Schule mehr ist als eine reine Paukanstalt. Die Idee ist angelehnt an Familienzentren von Kindertagesstätten, die es mittlerweile in den meisten Bundesländern gibt. Statt nur des einzelnen Kindes wird auch sein Umfeld in den Blick genommen. Eine Kehrseite hat der Ansatz jedoch: Er kann zu uneinheitlichen Trägerstrukturen führen.
In NRW werden die Familiengrundschulzentren überwiegend von Schule, Schulträger und freier Wohlfahrtspflege koordiniert. “Das führt zu vielen Aushandlungsprozessen”, sagt John. Er wünscht sich, dass Ministerien und weitere Verantwortliche ein klares Konzept für die Zentren, ähnlich wie beim Ganztagsausbau, ausarbeiten. “Andernfalls entsteht bei all den eigenen Entwürfen der Schulen gerne mal etwas Wildwuchs.” Derzeit haben die Schulen großen Freiraum, die Grundsätze des Programms in ihre Schulpraxis zu übersetzen.
Neben solchen Startschwierigkeiten zeigt der Blick in die Praxis: Sachsen holt sich scheinbar ein Erfolgsmodell ins Land. Der Erfolg basiere auf anlasslosem Austausch zwischen Eltern und Lehrern, erklärt der Soziologe Aladin El-Mafaalani im Interview. “Normalerweise kommen gerade benachteiligte Eltern und Lehrkräfte immer nur dann in Kontakt, wenn irgendwas Negatives passiert ist.”
Detlef Baier, Schulleiter eines FGZ in Bottrop, spricht von einem “großen Miteinander”. Viele seiner Schülerinnen und Schülern haben Migrationshintergrund, kommen aus Flüchtlingsfamilien und ärmeren Haushalten. Elternarbeit war zuvor, als sie “nur” Grundschule waren, immer schwieriger geworden. Jetzt habe die Schule durch das Familiencafé, Bastel- und Nähaktionen die Chance, die Eltern in anderen Zusammenhängen kennenzulernen. Diese zeigten sich dankbar. Gleichzeitig profitiere das Kollegium von der besseren Kommunikation mit ihnen. Und: “Die Schüler nehmen Schule verstärkt als positiv und wichtig wahr.”
Die Bildungskommission der Grünen fordert, das Startchancenprogramm auf Grundschulen zu konzentrieren. “Wir plädieren dafür, ausschließlich 4.000 Grundschulen in das Programm aufzunehmen”, heißt es in dem Papier. Die Autoren verweisen auf die aktuelle Studie Bildungstrend 2021, die fehlende Basiskompetenzen aufgezeigt hat. Nur die Fokussierung auf Grundschulen lasse es zu, “eine gute Vergleichbarkeit bei der Evaluation eingesetzter Verfahren innerhalb und zwischen den Ländern” zu erreichen. Die Forderung lässt sich als ein Appell an die eigenen grünen Bildungsminister und die Grünen in Landesregierungen verstehen. Sie nämlich sind es, welche das Startchancen-Programm des Bundes derzeit verzögern. Allerdings liegen im Bund auch die angedachten Finanzmittel von rund zwei Milliarden Euro jährlich derzeit noch nicht vor.
In dem Papier verlangen die Grünen erstmals auch eine genau quantifizierbare Reduzierung der Zahl der Risikoschüler. Es sei nötig, den Anteil der sogenannten Risikogruppe “um mindestens fünf Prozentpunkte in den kommenden fünf Jahren” abzusenken. Unter solchen Schülern versteht man jene Gruppe von Lernenden der Grundschule, die sprachliche und mathematische Mindeststandards nicht erreicht. Das Papier hat unter anderen die ehemalige Bundestagsabgeordneten Margit Stumpp aus Baden-Württemberg verfasst.
Die Autoren fordern daneben, auf den Königsteiner Schlüssel bei der Verteilung der Mittel an die Länder zu verzichten. Die Schulen seien danach auszuwählen, “wie viele Schülerinnen aus Familien mit Hartz IV sie besuchen.” Es komme gerade bei diesem Programm der Förderung der Chancengleichheit darauf an, die Mittelverteilung an benachteiligten Zielgruppen zu orientieren. Dazu zählen Haushalte, die Deutsch nicht als Familiensprache pflegen sowie Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen. Christian Füller
Britische Parlamentarier haben beim nationalen Test SAT (Standardised Assement Test) in Mathematik und Englisch im Durchschnitt schlechter abgeschnitten als die 10- bis 11-jährigen Grundschüler des Landes. Das berichtete unter anderem der Guardian. In Mathematik erreichten nur 44 Prozent das zu erwartende Niveau. Bei Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik war es die Hälfte. Zum Vergleich: 59 Prozent der Sechstklässler erfüllten in diesem Jahr den Mindeststandard – 2019 waren es noch 65 Prozent gewesen. Die SATs legen im Vereinigten Königreich Zweit- und Sechstklässler ab. Die Tests sollen den Lernfortschritt prüfen und Regierung und Eltern Aufschluss über die Unterrichtsqualität geben.
Organisiert hatte den Politiker-Test die Kampagnengruppe “More Than a Score”. Sie möchte den SAT abschaffen, weil sie ihn als zu belastend für die Schüler einstuft. Ian Byrne, Abgeordneter der Labour-Partei, äußerte sich nach dem Test schockiert über den Druck, den der Test erzeuge. Er sprach sich für eine Abschaffung aus. Der Konservative Robin Walker, ehemals Schulminister und jetzt Vorsitzende des Bildungsausschusses, plädierte gegen eine Abschaffung. Er halte die Prüfungen jedoch für reformbedürftig. Anna Parrisius
Zwei Drittel der deutschen Unternehmen würden befürworten, wenn Deutschland mehr Abkommen mit anderen Staaten schließen würde, um Fachkräfte zu gewinnen. Über die Hälfte ist an qualifizierten Fachkräften interessiert, ein Drittel an Azubis. Das geht aus einer Civey-Umfrage hervor, die das Meinungsforschungsinstitut im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat. Zwischen August und Oktober wurden 7.500 Entscheider aus deutschen Unternehmen befragt, die mindestens zehn Mitarbeiter haben.
Die Ergebnisse zeigen den Experten zufolge eine klare Zustimmung zu den “Talentpartnerschaften“, die die Europäische Kommission etwa mit Marokko, Tunesien und Ägypten plant. Als vielversprechend beurteilen die Bertelsmann-Forscher zudem den Ausbau transnationaler Ausbildungspartnerschaften mit Ländern des globalen Südens. In der Pflege arbeiten deutsche Kliniken bereits mit Krankenhäusern auf den Philippinen zusammen. Die Azubis werden dabei für den heimischen Arbeitsmarkt und für die Arbeit im Ausland qualifiziert. Sie erhalten berufsspezifische Sprachkurse.
Die Umfrage führt den Fachkräftemangel vor Augen: Fast drei Viertel der Unternehmen berichten von Engpässen. Dies ist eine deutliche Steigerung zu den Vorjahren – 2021 waren es noch 66 Prozent, 2020 55 Prozent. Die meisten Unternehmen (58 Prozent) suchen Personen mit Berufsausbildung. Dieser Bedarf ist bei allen Befragten stark angestiegen, besonders betroffen sind kleinere Betriebe. Außerdem trifft es am meisten die Branchen Alten- und Krankenpflege (82 Prozent der Unternehmen), Tourismus (63 Prozent) und Bau und Handwerk (61 Prozent).
Gesucht werden Fachkräfte mit Berufsausbildung vor allem in ländlichen sowie bildungs- und strukturschwächeren Regionen. Zudem etwas mehr im Osten als im Westen. Zum Vergleich: Nur 29 Prozent der Unternehmen berichten von Schwierigkeiten, Akademiker zu finden. Sie fehlen eher in städtischen Gebieten und Ballungszentren und besonders in der Kultur-, Kreativ- und Medienbranche.
Weniger als ein Fünftel der Betriebe denkt, dass es in Deutschland künftig ausreichend Personal gibt. Dennoch setzen sie in erster Linie noch auf Aus- und Weiterbildung im eigenen Betrieb und auf eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht mal jeder fünfte Betrieb sucht bisher Mitarbeiter im Ausland. Meist schätzen sie Verständigungsschwierigkeiten als zu groß ein. Außerdem fürchten sie rechtliche und bürokratische Hürden oder halten es für schwierig, ausländische Qualifikationen anzuerkennen.
Die Civey-Umfrage ist Teil des Fachkräftemigrationsmonitors der Bertelsmann-Stiftung (zum Download). Aus ihm geht hervor, dass insbesondere Zuwanderung aus Drittstaaten wichtig wird. Die Zuwanderungszahlen haben jedoch noch nicht wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Die Experten empfehlen, Hürden weiter abzusenken, Sprachförderung und Integrationshilfe zu stärken und Deutschland als Einwanderungsland attraktiver zu machen. Anna Parrisius