heimlich, still und leise wollten die Kultusminister eine neue Oberstufe beschließen. Was bisher am Abitur nicht reguliert war, etwa die Zahl der Klausuren und die der Halbjahreskurse, soll nun bundesweit einheitlich geregelt werden. Karl-Heinz Reith hat das Papier, das gerade in der KMK diskutiert wird, einsehen können – und informiert Sie darüber.
Das Problem dieser Oberstufenreform ist nicht nur, dass nun viel mehr Regularien aufgestellt werden sollen, sondern dass diese Veränderung rückwärtsgewandt ist. Wir stecken inmitten einer Transformation von Schule, die eigentlich nach vorne denken müsste: Statt Klausuren müssten auch andere Formen von Leistungserhebung möglich gemacht werden. Das, so kritisiert Verena Pausder in einem Gastbeitrag, ist aber in dieser Reform der Abitur-Regeln gar nicht enthalten.
Meine Kollegin Anna Parrisius hat sich angeschaut, wie immer mehr Unis ihre Plätze durch Zulassungstests vergeben. Dadurch entstehen neue Hürden, auch wenn die Hürde eines Einser-Abis für angehende Medizinerinnen oder Psychologen damit wegfällt.
Ja, die Abiturnoten, genauer die Schwemme von 1,0-Abituren, sind stets der große Aufreger in Deutschland. Mitten in der Pandemie ist die Zahl der Einser-Abiture geradezu explodiert. Der Abiturexperten des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Fritz Schäffer, erklärt, wie das geschehen konnte – und dass das auch ganz gut so ist.
Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
Die Kernbotschaft: Die Zahl der Leistungskurse auf erhöhtem Niveau in der Oberstufe soll reduziert, die Zahl der verpflichtend zu belegenden Halbjahreskurse dagegen bundesweit einheitlich auf 40 erhöht werden. Einige Details sind noch offen, einige davon auch strittig. Dem Vernehmen nach zeichnet sich jedoch eine Einigung ab. Das Papier soll Mitte März, spätestens aber im Sommer von den Kultusministern verabschiedet werden und ab 2025 bundesweit für alle Abiturjahrgänge gelten. Mit den Änderungen wird der Gestaltungsspielraum der einzelnen Schule in der Oberstufe weiter eingeschränkt und individuelle Schwerpunktbildung erschwert.
Mitauslöser der erneuten Reform der gymnasialen Oberstufe ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Numerus clausus (NC) in den medizinischen Studiengängen von Dezember 2017. Das Gericht hatte darin die Kultusminister aufgefordert, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen, um mehr Chancengleichheit bei der Bewerbung um die knappen Studienplätze zu schaffen. Zum Zulassungssystem selbst hatten sich die Länder bereits auf einen neuen Staatsvertrag verständigt.
Die angestrebten Änderungen beim Abitur und in der Oberstufe:
1972 führte man die gymnasiale Oberstufe mit ihrem Kurswahlsystem und der Möglichkeit zur Schwerpunktbildung ein, um die Studienvorbereitung zu verbessern. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurde sie mehrfach grundlegend geändert – wie auch die Kritik an ihr selbst nie abriss. Das Kurswahlsystem wurde von Mal zu Mal eingeschränkt.
Diverse KMK-Papiere zur Vorbereitung der jetzt erneut angestrebten Reform verweisen auf “die anhaltenden öffentlichen Debatten” über die in den Ländern unterschiedlichen Abitur-Rahmenbedingungen. Empirisch gibt es jedoch bislang keine Befunde, dass Abiturienten aus Ländern mit rigideren Abiturregeln weniger häufig im Studium scheitern. Auch zeigt sich nicht, dass sie gar erfolgreicher sind als Abiturienten aus anderen Bundesländern. Länderübergreifende Leistungstests, wie sie in den vierten Grundschulklassen und gegen Ende der Sekundarstufe I jetzt seit fast zwei Jahrzehnten regelmäßig üblich sind, haben die Kultusminister für die gymnasiale Oberstufe bislang ausgeschlossen.
Während die KMK mit ihrer neuen Vereinbarung mehr länderübergreifende Detailregelungen anstrebt, verfolgt ein Reformbündnis verschiedener Organisationen von Schulpraktikern und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in ihrer “Potsdamer Erklärung” eine völlig andere Richtung. Angesichts des digitalen Wandels, den veränderten Anforderungen der Arbeitswelt und der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft sei heute im Unterricht mehr statt weniger Flexibilität erforderlich.
Die langen Laufzeiten bisheriger KMK-Vereinbarungen zur Oberstufe hätten Innovationen eher behindert als ermutigt. Das Reformbündnis wünscht sich deshalb mit der neuen Vereinbarung eine Innovationsklausel. Sie soll es einzelnen Schulen oder auch länderübergreifenden Netzwerken ermöglichen, befristet von den Standard-Regeln zur Oberstufe abzuweichen. So könnten diese neue, inhaltlich besonders anspruchsvolle Unterrichtsvorhaben ausprobieren, heißt es in einem Brief an die KMK. Karl-Heinz Reith
So durchmischt wie in diesem Wintersemester waren die Erstsemester von Birgit Spinath noch nie. Spinath ist Professorin für Pädagogische Psychologie in Heidelberg. Neuerdings sitzen in ihrem Hörsaal Studierende mit einem Abi-Schnitt bis zu 2,8 – vor kurzem noch undenkbar. Laut einer Schätzung von 2021 kommen auf einen Studienplatz in Psychologie 14 Bewerber. Die meisten Unis entscheiden nach Abi-Schnitt, wer studieren darf.
Bewerber in Baden-Württemberg konnten 2022 erstmals einen dreieinhalbstündigen Eignungstest absolvieren. Das Ergebnis fiel in Heidelberg bei den Zulassungskriterien zu einem Drittel ins Gewicht – in Freiburg oder Ulm sogar zu 40 Prozent.
In der Humanmedizin, der Zahn- und Tiermedizin sowie der Pharmazie, haben sich bereits flächendeckend Eignungstests durchgesetzt, zuvorderst der Test für medizinische Studiengänge (TMS). Für Pharmazie gibt es den PhaST. Hintergrund ist, dass die Länder 2019 die Auswahlkriterien für diese Fächer reformiert haben in Reaktion auf das NC-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017. Hochschulen sollen Medizinstudenten nach Eignung auswählen, so die Meinung der Richter. Neben dem Abi-Schnitt sollen Unis mindestens ein zweites, notenunabhängiges und transparentes Kriterium mit erheblichem Gewicht hinzuziehen – was auf Eignungstests hinausläuft.
Matthias Bode, Experte für Hochschulzulassung, geht davon aus, dass Grundsätze des Urteils auch für Fächer gelten, “die über eine vergleichbare Nachfrage verfügen” – also auch für Psychologie. Der Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW hält es für “rechtlich sicherer, zumindest in breit nachgefragten Studiengängen, entsprechende Tests vorzusehen”. Die Länder sind geteilter Meinung. Bayern sieht es nicht so. Berlin und Baden-Württemberg haben die Entwicklung von Psychologie-Tests gefördert.
In Baden-Württemberg nutzten 2022 bereits die Unis Heidelberg, Freiburg, Mannheim, Tübingen und Ulm den dortigen Test. An der Humboldt-Universität zu Berlin gab es schon 2021 den ersten Eignungstest. Die beiden Verfahren hat die Deutsche Gesellschaft für Psychologie nun zu einem bundesweiten Test BaPsy-DGPs zusammengeführt. Für das kommende Wintersemester wollen 20 Hochschulen ihn als zusätzliches Auswahlkriterium nutzen, unter anderem auch die Uni Frankfurt. Früher oder später möchten zwei Drittel der Hochschulen mit psychologischen Instituten einen Test, wie eine Umfrage des Fakultätentages Psychologie ergeben hat.
Internationale Studien zeigen, dass Eignungstests die Studienleistung gut vorhersagen können. Birgit Spinath, die den Projektverbund für das baden-württembergische Testverfahren koordiniert hat, sagt: “Die Abiturnote ist weiterhin ein guter Vorhersagewert für die Studienleistung, sie hat jedoch Schwachpunkte.”
Je nach Bundesland, Schultyp und Schule stehen Abiturnoten für deutlich unterschiedliche Leistungen. Mädchen haben zudem im Schnitt ein besseres Abitur. “Sie arbeiten in der Schule regelkonformer”, sagt Spinath. Jungs brechen häufiger aus, wissen erst später, was sie nach dem Abi machen wollen. Ein Test, für den sie sich kurzfristig ins Zeug legen müssen, liegt vielen eher, meint Birgit Spinath. Aktuell seien 80 Prozent der Psychologie-Studierenden weiblich.
Zweifel daran, ob ein Eignungstest die Studienplatzvergabe nur verbessert, hat Claudia Finger, die am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu Studienplatzvergabe und sozialer Gerechtigkeit forscht. Sie sagt: “Die Vorhersagefähigkeit für Studienerfolg darf man nicht mit Chancengleichheit gleichsetzen.” Tests könnten neue soziale Ungerechtigkeit schaffen – weil etwa nicht jeder sich Testgebühren und die Kosten für eine Anfahrt und Übernachtung leisten kann oder gar einen Vorbereitungskurs.
Die Entwickler der Psychologie-Tests beschäftigt das: Berlin übernahm bisher Gebühren für den Eignungstest. In Baden-Württemberg mussten Teilnehmer 100 Euro zahlen – wie beim Medizinertest und dem neuen Psychologie-Test, der jetzt an den Start geht. Die Hochschulen im Ländle ermöglichten Härtefallanträge, welche knapp ein Dutzend der Testteilnehmer nutzte, sagt Oliver Dickhäuser. Der Professor für Pädagogische Psychologie von der Uni Mannheim und Leiter eines Teilprojekts des BaWü-Tests hielte künftig eine breitere Lösung für sinnvoll. “Vielleicht kann die Kosten bei Härtefällen auch eine Stiftung übernehmen.” Matthias Ziegler, der an der Humboldt-Universität zu Berlin die Testentwicklung verantwortet hat, hofft auf ein Engagement der Hochschulrektorenkonferenz oder der KMK.
Der Bund hat für die Hochschulzulassung eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, will aber nicht aktiv werden. “Hinsichtlich örtlich zulassungsbeschränkter Studiengänge sind die Länder beziehungsweise die Hochschulen für einen möglichen Erlass von Testgebühren zuständig”, teilte eine Sprecherin auf Anfrage von Table.Media mit.
Noch ein Problem: Kommerzielle Kurse zur Testvorbereitung könnten sozial selektiv wirken. Um hier gegenzusteuern, hat Oliver Dickhäuser für den baden-württembergischen Test kostenfreie Video-Tutorials und Übungen mit Masterstudenten entwickelt, die nun auch für den bundesweiten Test angeboten werden. Es gibt allerdings auch schon Kursangebote für bis zu 500 Euro. Claudia Finger vom WZB warnt: “Eine flächendeckende Einführung könnte solch eine Entwicklung verschärfen.” Andererseits würden bei einer weiteren Verbreitung zumindest Anfahrtskosten reduziert, Übernachtungen am Testort überflüssig. Bisher kümmerten Psychologie-Fachschaften sich um Bettenbörsen.
Zu deutlich mehr sozialer Gleichheit wird ein Eignungstest so oder so kaum führen. Denn wer studiert, hängt in Deutschland oft noch stark mit der sozialen Herkunft zusammen. Soziologin Finger: “Dafür müsste man deutlich früher ansetzen – im Schulsystem.”
Die Zukunft wird eine Herausforderung. Klimawandel, Digitalisierung, Fachkräftemangel. Wenn unsere Kinder die Schule verlassen, sollten sie darauf vorbereitet sein. Alle. Egal, wo sie wohnen, wo sie herkommen, welche Schule sie besuchen, oder welchen sozialen Hintergrund sie haben. Es sollte unser Anspruch sein, sie im besten Humboldtschen Sinne zu mündigen Gestalter:innen der Zukunft auszubilden.
Was läge da also näher, als sich das Abitur anzusehen und zu schauen, ob es diesen Anforderungen Rechnung trägt. Björn Nölte, vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, sagt etwas Richtiges. Wir könnten uns die “schönsten Dinge für den Lernprozess ausdenken. Lernende werden immer danach fragen, welche Prüfungen am Ende auf sie warten.”
Und als ob das nicht schon Herausforderung genug wäre, hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Abiturprüfungen künftig zur besseren Vergleichbarkeit über alle Bundesländer einheitlicher werden sollen. Die Kultusministerkonferenz arbeitet bereits mit Hochdruck an genau diesem angeblich zukunftsfähigen Abitur. Die Rahmenbedingungen sollen bereits Mitte März entschieden sein – 2027 sollen die ersten ihren Abschluss nach den neuen Regeln erreichen.
So weit, so hoffnungsvoll.
Doch gräbt man sich tiefer in die Materie, merkt man, dass wenig an dem neuen Entwurf zukunftsfähig ist. Das wird klar mit Blick auf die Potsdamer Erklärung, die eine großen Zahl Bildungsschaffender verfasst und unterschrieben hat. Denn die Leistungsmessung in der Oberstufe und vor allem im Abitur soll auch in Zukunft dominiert werden von Klausuren in den jeweiligen Fächern. Die Schüler:innen müssen sie einzeln und in der Regel mit der Hand schreiben.
Und das ist genau das Gegenteil dessen, was wir jetzt brauchen.
Denn ein einheitliches Abitur mit fast ausschließlich schriftlichen Prüfungen geht komplett in die falsche Richtung. Das sieht man gerade in Zeiten von KI-Lösungen wie ChatGPT sowie dem Ziel, die Schüler:innen zu befähigen, ihre eigenen Wege – ob digital oder analog – zu finden. Es berücksichtigt auch in keiner Weise die Diversität unserer heutigen Gesellschaft. Hier gibt es vielfältige Herkunftsgeschichten, unterschiedliche Sprach- und Lernvoraussetzungen sowie Begabungen der Schüler:innen. Uniformität ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.
Unser Land braucht künftig Problemlöser:innen, die den Herausforderungen der Zukunft innovative Lösungen entgegensetzen können und sich in einer Gesellschaft mit Herausforderungen wie Fake News, Hatespeech, datenbasierten Diensten und digitalen Programmen zurechtfinden und diese verstehen und aktiv gestalten. Und zu diesen werden wir sie nur ausbilden, wenn die Prüfungen am Ende eines jeden Themas und Fachs auch zur neuen Arbeitsweise passen. Deshalb sollten E-Portfolios, Multimedia-Präsentationen, Forschungsberichte, praktische Arbeiten, Kolloquien und Pitches genauso Eingang finden in die Benotung und Abinote wie handschriftliche Prüfungen in Präsenz.
Wir brauchen ein Bildungssystem, das diese neuen Anforderungen an Schule und Bildung reflektiert und ein Abitur, welches auch Projektarbeit, digitale Arbeiten und vor allem die Synthese und die kritische Auseinandersetzung mit dem Gelernten ermöglicht, und zwar nicht nur in handschriftlicher Form.
Um die Weiterentwicklung des Schulwesens auch zukünftig zu sichern, sollte dringend eine Innovationsklausel in den Vorschlag der KMK aufgenommen werden, durch die Innovation in der Schule systematisch ermöglicht, unterstützt, begleitet und ausgewertet werden kann. Diese Klausel muss über das Instrument des bisherigen Schulversuchs hinausgehen, damit es nicht nur für einzelne Modellschulen, sondern für möglichst viele Schulen möglich ist und damit zu einem Wettbewerb der besten Ideen zur Gestaltung der Schule der Zukunft führt.
Diese Forderung der Bildungsschaffenden rund um die Potsdamer Erklärung sollte daher zwingend in die Abiturreform der KMK einfließen, damit diese wirklich die Weichen für die Zukunft stellt und zu mehr Bildungsgerechtigkeit, Problemlösekompetenz und Mündigkeit unserer Schüler:innen im 21. Jahrhundert führt.
Verena Pausder ist Expertin für Start-ups und digitale Bildung. 2017 gründete sie den Verein “Digitale Bildung für alle!”. 2020 erschien ihr SPIEGEL-Beststeller “Das neue Land”, in dem sie eine Vision entwirft, wie Deutschland New Work, Innovation und Digitalisierung für sich nutzen kann.
Lesen Sie auch: Verena Pausder – meinungsstarke Unternehmerin
So viele 1,0-Abiture gab es noch nie in Deutschland. Im Jahr 2022 haben über 10.000 Abiturienten die bestmögliche Note aus ihren Abiturprüfungen geholt. Auch relativ ist die Zahl der Abis mit 3,25 Prozent die bisher höchste Rate an 1,0 bei Prüfungen für die Hochschulreife. Das Bemerkenswerte an dem neuen Höchstwert in den KMK-Dokumenten ist allerdings nicht das Jahr 2022, sondern das Vorjahr. Da sprang die Zahl der 1,0-Abiture in Deutschland um satte 50 Prozent. Waren es 2020 noch rund 6.500, landeten im Jahr 2021 über 9.600 Abiturienten auf der 1,0. Wie kann es sein, dass in der Pandemie das beste Abitur in Deutschland zu feiern ist?
Von den Kultusministern gibt es dazu keine Erklärungsansätze. Unter ihnen gilt die Faustregel: Die Pandemie hat Lernlücken hinterlassen. Der plötzliche Boom der glatten Einserabiture im Jahr 2021 ist ja nicht der erste Ausreißer aus dieser Generalthese. Wie berichtet haben auch die Achtklässler in Baden-Württemberg nach Monaten des Homeschoolings, der Ferien und wenigen Wochen Schule ihre Kompetenzen deutlich verbessert. Die Gruppe der Besten in Englisch und Deutsch wurde um 25 bis knapp 30 Prozent größer – in der Pandemie. Auch aus der Wissenschaft gibt es dafür keine plausible Erklärung. Den plötzlichen Boom der Kompetenzen haben die zuständigen Forscher in Baden-Württemberg gar nicht erst untersucht.
Eine Erklärung für den Sprung von 6.516 auf 9.614 Abiture mit dem Schnitt von 1,0 geht so: Die Spitzengruppe der deutschen Schülerschaft ist immer noch sehr klein. Sie befand sich im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 in der Größenordnung von 1,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit einer 1,0 im Abitur. Das sind jene Eleven, für die es ein Vorteil sein kann, nicht im Klassenverband zu lernen, sondern allein für sich. 2022 stieg dieser Wert folgerichtig auf 3,25 Prozent.
Aber es gibt auch eine relativ simple Begründung, die in der Berechnung der Abiturnote ab dem Jahr 2021 liegt. Man wollte den Abiturienten der Pandemie helfen, ihre Nachteile ausgleichen. Daher wurde die sogenannte Günstigerregel eingeführt. Das bedeutet: Abiturienten, die zum Beispiel im ersten Quartal der Oberstufe eine Klausur schrieben und danach wegen Corona vor allem mündliche Leistungsüberprüfungen hatten, wurden stets an dieser letzten Klausurnote gemessen. Sprich: Fiel der mündliche Test schlechter als die Klausur aus, wurde die bessere Klausurnote einfach noch mal vergeben – etwa im zweiten oder dritten Quartal. Fiel die mündliche Prüfung besser aus, wurde diese Note gewertet. Mit anderen Worten: Nach ihren ersten Prüfungsnoten konnten sich diese Abiturienten in den Folgequartalen immer nur steigern.
Fritz Schäffer vom Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) findet es indes falsch, die Ursachen bei den Abiturienten zu suchen. Das bundesweite Plus von 50 Prozent 1,0-Abituren im zweiten Pandemiejahr sei bemerkenswert – und sage etwas über das Abitur insgesamt aus. “Es entzaubert den Mythos des Zentralabiturs. Denn jetzt wird offensichtlich, was auch vorher schon immer galt: Es gibt kein einheitliches und gerechtes Abitur”, sagte der Abitur-Experte des BLLV Table.Media. “Durch die Verzerrungen, die in den Corona-Jahren ganze Jahrgänge betroffen haben, werden sie nur diesmal statistisch so deutlich sichtbar.”
Schäffer stört sich an der öffentlichen Diskussion und der Empörung über die exzellenten Noten. “Warum steht dieser Jahrgang nun am Pranger? Weil er angeblich zu einfach ein Einserabitur bekam. Was sagt uns das? Es muss offenbar mit allen Mitteln verhindert werden, dass jemand ungerechterweise eine zu gute Note bekommt. Bekommt jemand eine zu schlechte Note, zum Beispiel weil der Unterricht schlecht war oder zu viel ausgefallen ist, ist das weniger schlimm. Das ist ein verrücktes System!” Christian Füller
heimlich, still und leise wollten die Kultusminister eine neue Oberstufe beschließen. Was bisher am Abitur nicht reguliert war, etwa die Zahl der Klausuren und die der Halbjahreskurse, soll nun bundesweit einheitlich geregelt werden. Karl-Heinz Reith hat das Papier, das gerade in der KMK diskutiert wird, einsehen können – und informiert Sie darüber.
Das Problem dieser Oberstufenreform ist nicht nur, dass nun viel mehr Regularien aufgestellt werden sollen, sondern dass diese Veränderung rückwärtsgewandt ist. Wir stecken inmitten einer Transformation von Schule, die eigentlich nach vorne denken müsste: Statt Klausuren müssten auch andere Formen von Leistungserhebung möglich gemacht werden. Das, so kritisiert Verena Pausder in einem Gastbeitrag, ist aber in dieser Reform der Abitur-Regeln gar nicht enthalten.
Meine Kollegin Anna Parrisius hat sich angeschaut, wie immer mehr Unis ihre Plätze durch Zulassungstests vergeben. Dadurch entstehen neue Hürden, auch wenn die Hürde eines Einser-Abis für angehende Medizinerinnen oder Psychologen damit wegfällt.
Ja, die Abiturnoten, genauer die Schwemme von 1,0-Abituren, sind stets der große Aufreger in Deutschland. Mitten in der Pandemie ist die Zahl der Einser-Abiture geradezu explodiert. Der Abiturexperten des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Fritz Schäffer, erklärt, wie das geschehen konnte – und dass das auch ganz gut so ist.
Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
Die Kernbotschaft: Die Zahl der Leistungskurse auf erhöhtem Niveau in der Oberstufe soll reduziert, die Zahl der verpflichtend zu belegenden Halbjahreskurse dagegen bundesweit einheitlich auf 40 erhöht werden. Einige Details sind noch offen, einige davon auch strittig. Dem Vernehmen nach zeichnet sich jedoch eine Einigung ab. Das Papier soll Mitte März, spätestens aber im Sommer von den Kultusministern verabschiedet werden und ab 2025 bundesweit für alle Abiturjahrgänge gelten. Mit den Änderungen wird der Gestaltungsspielraum der einzelnen Schule in der Oberstufe weiter eingeschränkt und individuelle Schwerpunktbildung erschwert.
Mitauslöser der erneuten Reform der gymnasialen Oberstufe ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Numerus clausus (NC) in den medizinischen Studiengängen von Dezember 2017. Das Gericht hatte darin die Kultusminister aufgefordert, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen, um mehr Chancengleichheit bei der Bewerbung um die knappen Studienplätze zu schaffen. Zum Zulassungssystem selbst hatten sich die Länder bereits auf einen neuen Staatsvertrag verständigt.
Die angestrebten Änderungen beim Abitur und in der Oberstufe:
1972 führte man die gymnasiale Oberstufe mit ihrem Kurswahlsystem und der Möglichkeit zur Schwerpunktbildung ein, um die Studienvorbereitung zu verbessern. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurde sie mehrfach grundlegend geändert – wie auch die Kritik an ihr selbst nie abriss. Das Kurswahlsystem wurde von Mal zu Mal eingeschränkt.
Diverse KMK-Papiere zur Vorbereitung der jetzt erneut angestrebten Reform verweisen auf “die anhaltenden öffentlichen Debatten” über die in den Ländern unterschiedlichen Abitur-Rahmenbedingungen. Empirisch gibt es jedoch bislang keine Befunde, dass Abiturienten aus Ländern mit rigideren Abiturregeln weniger häufig im Studium scheitern. Auch zeigt sich nicht, dass sie gar erfolgreicher sind als Abiturienten aus anderen Bundesländern. Länderübergreifende Leistungstests, wie sie in den vierten Grundschulklassen und gegen Ende der Sekundarstufe I jetzt seit fast zwei Jahrzehnten regelmäßig üblich sind, haben die Kultusminister für die gymnasiale Oberstufe bislang ausgeschlossen.
Während die KMK mit ihrer neuen Vereinbarung mehr länderübergreifende Detailregelungen anstrebt, verfolgt ein Reformbündnis verschiedener Organisationen von Schulpraktikern und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in ihrer “Potsdamer Erklärung” eine völlig andere Richtung. Angesichts des digitalen Wandels, den veränderten Anforderungen der Arbeitswelt und der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft sei heute im Unterricht mehr statt weniger Flexibilität erforderlich.
Die langen Laufzeiten bisheriger KMK-Vereinbarungen zur Oberstufe hätten Innovationen eher behindert als ermutigt. Das Reformbündnis wünscht sich deshalb mit der neuen Vereinbarung eine Innovationsklausel. Sie soll es einzelnen Schulen oder auch länderübergreifenden Netzwerken ermöglichen, befristet von den Standard-Regeln zur Oberstufe abzuweichen. So könnten diese neue, inhaltlich besonders anspruchsvolle Unterrichtsvorhaben ausprobieren, heißt es in einem Brief an die KMK. Karl-Heinz Reith
So durchmischt wie in diesem Wintersemester waren die Erstsemester von Birgit Spinath noch nie. Spinath ist Professorin für Pädagogische Psychologie in Heidelberg. Neuerdings sitzen in ihrem Hörsaal Studierende mit einem Abi-Schnitt bis zu 2,8 – vor kurzem noch undenkbar. Laut einer Schätzung von 2021 kommen auf einen Studienplatz in Psychologie 14 Bewerber. Die meisten Unis entscheiden nach Abi-Schnitt, wer studieren darf.
Bewerber in Baden-Württemberg konnten 2022 erstmals einen dreieinhalbstündigen Eignungstest absolvieren. Das Ergebnis fiel in Heidelberg bei den Zulassungskriterien zu einem Drittel ins Gewicht – in Freiburg oder Ulm sogar zu 40 Prozent.
In der Humanmedizin, der Zahn- und Tiermedizin sowie der Pharmazie, haben sich bereits flächendeckend Eignungstests durchgesetzt, zuvorderst der Test für medizinische Studiengänge (TMS). Für Pharmazie gibt es den PhaST. Hintergrund ist, dass die Länder 2019 die Auswahlkriterien für diese Fächer reformiert haben in Reaktion auf das NC-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017. Hochschulen sollen Medizinstudenten nach Eignung auswählen, so die Meinung der Richter. Neben dem Abi-Schnitt sollen Unis mindestens ein zweites, notenunabhängiges und transparentes Kriterium mit erheblichem Gewicht hinzuziehen – was auf Eignungstests hinausläuft.
Matthias Bode, Experte für Hochschulzulassung, geht davon aus, dass Grundsätze des Urteils auch für Fächer gelten, “die über eine vergleichbare Nachfrage verfügen” – also auch für Psychologie. Der Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW hält es für “rechtlich sicherer, zumindest in breit nachgefragten Studiengängen, entsprechende Tests vorzusehen”. Die Länder sind geteilter Meinung. Bayern sieht es nicht so. Berlin und Baden-Württemberg haben die Entwicklung von Psychologie-Tests gefördert.
In Baden-Württemberg nutzten 2022 bereits die Unis Heidelberg, Freiburg, Mannheim, Tübingen und Ulm den dortigen Test. An der Humboldt-Universität zu Berlin gab es schon 2021 den ersten Eignungstest. Die beiden Verfahren hat die Deutsche Gesellschaft für Psychologie nun zu einem bundesweiten Test BaPsy-DGPs zusammengeführt. Für das kommende Wintersemester wollen 20 Hochschulen ihn als zusätzliches Auswahlkriterium nutzen, unter anderem auch die Uni Frankfurt. Früher oder später möchten zwei Drittel der Hochschulen mit psychologischen Instituten einen Test, wie eine Umfrage des Fakultätentages Psychologie ergeben hat.
Internationale Studien zeigen, dass Eignungstests die Studienleistung gut vorhersagen können. Birgit Spinath, die den Projektverbund für das baden-württembergische Testverfahren koordiniert hat, sagt: “Die Abiturnote ist weiterhin ein guter Vorhersagewert für die Studienleistung, sie hat jedoch Schwachpunkte.”
Je nach Bundesland, Schultyp und Schule stehen Abiturnoten für deutlich unterschiedliche Leistungen. Mädchen haben zudem im Schnitt ein besseres Abitur. “Sie arbeiten in der Schule regelkonformer”, sagt Spinath. Jungs brechen häufiger aus, wissen erst später, was sie nach dem Abi machen wollen. Ein Test, für den sie sich kurzfristig ins Zeug legen müssen, liegt vielen eher, meint Birgit Spinath. Aktuell seien 80 Prozent der Psychologie-Studierenden weiblich.
Zweifel daran, ob ein Eignungstest die Studienplatzvergabe nur verbessert, hat Claudia Finger, die am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu Studienplatzvergabe und sozialer Gerechtigkeit forscht. Sie sagt: “Die Vorhersagefähigkeit für Studienerfolg darf man nicht mit Chancengleichheit gleichsetzen.” Tests könnten neue soziale Ungerechtigkeit schaffen – weil etwa nicht jeder sich Testgebühren und die Kosten für eine Anfahrt und Übernachtung leisten kann oder gar einen Vorbereitungskurs.
Die Entwickler der Psychologie-Tests beschäftigt das: Berlin übernahm bisher Gebühren für den Eignungstest. In Baden-Württemberg mussten Teilnehmer 100 Euro zahlen – wie beim Medizinertest und dem neuen Psychologie-Test, der jetzt an den Start geht. Die Hochschulen im Ländle ermöglichten Härtefallanträge, welche knapp ein Dutzend der Testteilnehmer nutzte, sagt Oliver Dickhäuser. Der Professor für Pädagogische Psychologie von der Uni Mannheim und Leiter eines Teilprojekts des BaWü-Tests hielte künftig eine breitere Lösung für sinnvoll. “Vielleicht kann die Kosten bei Härtefällen auch eine Stiftung übernehmen.” Matthias Ziegler, der an der Humboldt-Universität zu Berlin die Testentwicklung verantwortet hat, hofft auf ein Engagement der Hochschulrektorenkonferenz oder der KMK.
Der Bund hat für die Hochschulzulassung eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, will aber nicht aktiv werden. “Hinsichtlich örtlich zulassungsbeschränkter Studiengänge sind die Länder beziehungsweise die Hochschulen für einen möglichen Erlass von Testgebühren zuständig”, teilte eine Sprecherin auf Anfrage von Table.Media mit.
Noch ein Problem: Kommerzielle Kurse zur Testvorbereitung könnten sozial selektiv wirken. Um hier gegenzusteuern, hat Oliver Dickhäuser für den baden-württembergischen Test kostenfreie Video-Tutorials und Übungen mit Masterstudenten entwickelt, die nun auch für den bundesweiten Test angeboten werden. Es gibt allerdings auch schon Kursangebote für bis zu 500 Euro. Claudia Finger vom WZB warnt: “Eine flächendeckende Einführung könnte solch eine Entwicklung verschärfen.” Andererseits würden bei einer weiteren Verbreitung zumindest Anfahrtskosten reduziert, Übernachtungen am Testort überflüssig. Bisher kümmerten Psychologie-Fachschaften sich um Bettenbörsen.
Zu deutlich mehr sozialer Gleichheit wird ein Eignungstest so oder so kaum führen. Denn wer studiert, hängt in Deutschland oft noch stark mit der sozialen Herkunft zusammen. Soziologin Finger: “Dafür müsste man deutlich früher ansetzen – im Schulsystem.”
Die Zukunft wird eine Herausforderung. Klimawandel, Digitalisierung, Fachkräftemangel. Wenn unsere Kinder die Schule verlassen, sollten sie darauf vorbereitet sein. Alle. Egal, wo sie wohnen, wo sie herkommen, welche Schule sie besuchen, oder welchen sozialen Hintergrund sie haben. Es sollte unser Anspruch sein, sie im besten Humboldtschen Sinne zu mündigen Gestalter:innen der Zukunft auszubilden.
Was läge da also näher, als sich das Abitur anzusehen und zu schauen, ob es diesen Anforderungen Rechnung trägt. Björn Nölte, vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, sagt etwas Richtiges. Wir könnten uns die “schönsten Dinge für den Lernprozess ausdenken. Lernende werden immer danach fragen, welche Prüfungen am Ende auf sie warten.”
Und als ob das nicht schon Herausforderung genug wäre, hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Abiturprüfungen künftig zur besseren Vergleichbarkeit über alle Bundesländer einheitlicher werden sollen. Die Kultusministerkonferenz arbeitet bereits mit Hochdruck an genau diesem angeblich zukunftsfähigen Abitur. Die Rahmenbedingungen sollen bereits Mitte März entschieden sein – 2027 sollen die ersten ihren Abschluss nach den neuen Regeln erreichen.
So weit, so hoffnungsvoll.
Doch gräbt man sich tiefer in die Materie, merkt man, dass wenig an dem neuen Entwurf zukunftsfähig ist. Das wird klar mit Blick auf die Potsdamer Erklärung, die eine großen Zahl Bildungsschaffender verfasst und unterschrieben hat. Denn die Leistungsmessung in der Oberstufe und vor allem im Abitur soll auch in Zukunft dominiert werden von Klausuren in den jeweiligen Fächern. Die Schüler:innen müssen sie einzeln und in der Regel mit der Hand schreiben.
Und das ist genau das Gegenteil dessen, was wir jetzt brauchen.
Denn ein einheitliches Abitur mit fast ausschließlich schriftlichen Prüfungen geht komplett in die falsche Richtung. Das sieht man gerade in Zeiten von KI-Lösungen wie ChatGPT sowie dem Ziel, die Schüler:innen zu befähigen, ihre eigenen Wege – ob digital oder analog – zu finden. Es berücksichtigt auch in keiner Weise die Diversität unserer heutigen Gesellschaft. Hier gibt es vielfältige Herkunftsgeschichten, unterschiedliche Sprach- und Lernvoraussetzungen sowie Begabungen der Schüler:innen. Uniformität ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.
Unser Land braucht künftig Problemlöser:innen, die den Herausforderungen der Zukunft innovative Lösungen entgegensetzen können und sich in einer Gesellschaft mit Herausforderungen wie Fake News, Hatespeech, datenbasierten Diensten und digitalen Programmen zurechtfinden und diese verstehen und aktiv gestalten. Und zu diesen werden wir sie nur ausbilden, wenn die Prüfungen am Ende eines jeden Themas und Fachs auch zur neuen Arbeitsweise passen. Deshalb sollten E-Portfolios, Multimedia-Präsentationen, Forschungsberichte, praktische Arbeiten, Kolloquien und Pitches genauso Eingang finden in die Benotung und Abinote wie handschriftliche Prüfungen in Präsenz.
Wir brauchen ein Bildungssystem, das diese neuen Anforderungen an Schule und Bildung reflektiert und ein Abitur, welches auch Projektarbeit, digitale Arbeiten und vor allem die Synthese und die kritische Auseinandersetzung mit dem Gelernten ermöglicht, und zwar nicht nur in handschriftlicher Form.
Um die Weiterentwicklung des Schulwesens auch zukünftig zu sichern, sollte dringend eine Innovationsklausel in den Vorschlag der KMK aufgenommen werden, durch die Innovation in der Schule systematisch ermöglicht, unterstützt, begleitet und ausgewertet werden kann. Diese Klausel muss über das Instrument des bisherigen Schulversuchs hinausgehen, damit es nicht nur für einzelne Modellschulen, sondern für möglichst viele Schulen möglich ist und damit zu einem Wettbewerb der besten Ideen zur Gestaltung der Schule der Zukunft führt.
Diese Forderung der Bildungsschaffenden rund um die Potsdamer Erklärung sollte daher zwingend in die Abiturreform der KMK einfließen, damit diese wirklich die Weichen für die Zukunft stellt und zu mehr Bildungsgerechtigkeit, Problemlösekompetenz und Mündigkeit unserer Schüler:innen im 21. Jahrhundert führt.
Verena Pausder ist Expertin für Start-ups und digitale Bildung. 2017 gründete sie den Verein “Digitale Bildung für alle!”. 2020 erschien ihr SPIEGEL-Beststeller “Das neue Land”, in dem sie eine Vision entwirft, wie Deutschland New Work, Innovation und Digitalisierung für sich nutzen kann.
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So viele 1,0-Abiture gab es noch nie in Deutschland. Im Jahr 2022 haben über 10.000 Abiturienten die bestmögliche Note aus ihren Abiturprüfungen geholt. Auch relativ ist die Zahl der Abis mit 3,25 Prozent die bisher höchste Rate an 1,0 bei Prüfungen für die Hochschulreife. Das Bemerkenswerte an dem neuen Höchstwert in den KMK-Dokumenten ist allerdings nicht das Jahr 2022, sondern das Vorjahr. Da sprang die Zahl der 1,0-Abiture in Deutschland um satte 50 Prozent. Waren es 2020 noch rund 6.500, landeten im Jahr 2021 über 9.600 Abiturienten auf der 1,0. Wie kann es sein, dass in der Pandemie das beste Abitur in Deutschland zu feiern ist?
Von den Kultusministern gibt es dazu keine Erklärungsansätze. Unter ihnen gilt die Faustregel: Die Pandemie hat Lernlücken hinterlassen. Der plötzliche Boom der glatten Einserabiture im Jahr 2021 ist ja nicht der erste Ausreißer aus dieser Generalthese. Wie berichtet haben auch die Achtklässler in Baden-Württemberg nach Monaten des Homeschoolings, der Ferien und wenigen Wochen Schule ihre Kompetenzen deutlich verbessert. Die Gruppe der Besten in Englisch und Deutsch wurde um 25 bis knapp 30 Prozent größer – in der Pandemie. Auch aus der Wissenschaft gibt es dafür keine plausible Erklärung. Den plötzlichen Boom der Kompetenzen haben die zuständigen Forscher in Baden-Württemberg gar nicht erst untersucht.
Eine Erklärung für den Sprung von 6.516 auf 9.614 Abiture mit dem Schnitt von 1,0 geht so: Die Spitzengruppe der deutschen Schülerschaft ist immer noch sehr klein. Sie befand sich im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 in der Größenordnung von 1,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit einer 1,0 im Abitur. Das sind jene Eleven, für die es ein Vorteil sein kann, nicht im Klassenverband zu lernen, sondern allein für sich. 2022 stieg dieser Wert folgerichtig auf 3,25 Prozent.
Aber es gibt auch eine relativ simple Begründung, die in der Berechnung der Abiturnote ab dem Jahr 2021 liegt. Man wollte den Abiturienten der Pandemie helfen, ihre Nachteile ausgleichen. Daher wurde die sogenannte Günstigerregel eingeführt. Das bedeutet: Abiturienten, die zum Beispiel im ersten Quartal der Oberstufe eine Klausur schrieben und danach wegen Corona vor allem mündliche Leistungsüberprüfungen hatten, wurden stets an dieser letzten Klausurnote gemessen. Sprich: Fiel der mündliche Test schlechter als die Klausur aus, wurde die bessere Klausurnote einfach noch mal vergeben – etwa im zweiten oder dritten Quartal. Fiel die mündliche Prüfung besser aus, wurde diese Note gewertet. Mit anderen Worten: Nach ihren ersten Prüfungsnoten konnten sich diese Abiturienten in den Folgequartalen immer nur steigern.
Fritz Schäffer vom Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) findet es indes falsch, die Ursachen bei den Abiturienten zu suchen. Das bundesweite Plus von 50 Prozent 1,0-Abituren im zweiten Pandemiejahr sei bemerkenswert – und sage etwas über das Abitur insgesamt aus. “Es entzaubert den Mythos des Zentralabiturs. Denn jetzt wird offensichtlich, was auch vorher schon immer galt: Es gibt kein einheitliches und gerechtes Abitur”, sagte der Abitur-Experte des BLLV Table.Media. “Durch die Verzerrungen, die in den Corona-Jahren ganze Jahrgänge betroffen haben, werden sie nur diesmal statistisch so deutlich sichtbar.”
Schäffer stört sich an der öffentlichen Diskussion und der Empörung über die exzellenten Noten. “Warum steht dieser Jahrgang nun am Pranger? Weil er angeblich zu einfach ein Einserabitur bekam. Was sagt uns das? Es muss offenbar mit allen Mitteln verhindert werden, dass jemand ungerechterweise eine zu gute Note bekommt. Bekommt jemand eine zu schlechte Note, zum Beispiel weil der Unterricht schlecht war oder zu viel ausgefallen ist, ist das weniger schlimm. Das ist ein verrücktes System!” Christian Füller