Table.Briefing: Bildung

Skizze für neues Arbeitszeitmodell + Lehramt ohne Abitur

Liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Lehrer fehlen, müssen eben jene mehr arbeiten, die schon im System sind – eine Formel, die sich im Kreis der Kultusminister mehr und mehr durchsetzt. Dass sie nicht aufgeht, legt eine Studie nahe, die die Telekom Stiftung heute um 11 Uhr vorstellt. Mein Kollege Christian Füller hat vorab hineingeschaut und war erstaunt, wie unachtsam die Länder mit der Arbeitskraft von Pädagogen umgehen. Chronisch überlastet, haben diese wenig Zeit für ihr Kerngeschäft: den Unterricht. Der Studienautor und ehemalige Berliner Staatssekretär, Mark Rackles, plädiert daher für ein neues Arbeitszeitmodell – und macht einen Vorschlag.

Doch die Kultusminister beschäftigen sich bislang nur am Rande mit den ungesunden Arbeitszeiten ihrer Lehrkräfte. Viel mehr Energie – man könnte fast sagen: Kreativität – investieren die Ministerien, um den Zugang ins Lehramt zu vereinfachen und mehr junge Studierende schneller durch die Ausbildung zu schleusen. Nach den Bachelor-Lehrern in Brandenburg könnte künftig in Sachsen-Anhalt eine Fachhochschule junge Menschen im dualen Studium ins Lehramt führen – auch ohne Abitur. Im Interview erklärt der Linken-Politiker und Bildungsexperte Thomas Lippmann, warum er wenig von Billiglehrern hält und es keine vergeudete Mühe sei, mehr universitäre Studienplätze zu schaffen.

Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre!

Ihre
Anna Parrisius
Bild von Anna  Parrisius

Analyse

Kostbare Zeit im Klassenzimmer

Diese Studie dürfte den Schulministern nicht gefallen – und auch der Öffentlichkeit nicht. Deutsche Lehrer sind nämlich, anders als der Volksmund meint, chronisch überarbeitet und überlastet. Sie arbeiten im Schnitt 50 Stunden pro Woche. Das pädagogische Problem besteht darin, dass nur gut ein Drittel dieser Arbeitszeit in das Kerngeschäft der Lehrer fällt: dem Unterricht mit Schülern. 

Das ist die Hauptbotschaft einer Studie der Telekom Stiftung, die zu einem radikalen Ergebnis für die Arbeitszeit von Lehrern kommt. “Das deutsche Modell ist seit 150 Jahren gültig und schlicht aus der Zeit gefallen”, sagte der Geschäftsführer der Stiftung, Ekkehard Winter. “Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht.” Der Autor der Studie, der ehemalige Berliner Staatssekretär Mark Rackles, schlägt deswegen vor, ein Jahresarbeitszeit-Modell zu testen. Rackles fordert, Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben zu befreien und mehr Transparenz in den Arbeitsalltag zu bringen. 

Für die Bildungspolitik enthält das Papier eine bittere Pille. Während die Kultusminister darüber nachdenken, entweder die Arbeitszeit der Lehrer zu erhöhen oder ihre Teilzeitquote zu abzusenken, empfiehlt Rackles das Gegenteil. “Wenn man das pädagogische Arbeitsvolumen erhöhen will, dann sollte man nicht an einer – kaum mehr vermittelbaren – Arbeitszeiterhöhung ansetzen.” Der Berater und die Telekom-Stiftung sind nicht die ersten, die an der gegenwärtigen Strategie zur Bekämpfung des Lehrermangels Kritik üben. Lehrerverbände, aber auch unabhängige Experten warnen davor, die Lehrkräfte mit zusätzlichem Arbeitsdruck aus den Klassenzimmern zu treiben.

Das Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte weise erhebliche Mängel auf, schreibt Rackles. “Es fördert eine chronische Überlastung der Beschäftigten, es weist eine geringe Ressourceneffizienz auf und fast keine Adaptionsfähigkeit an neue Entwicklungen.” Das Lehrpersonal der 40.000 Schulen sei mit knapp einer Million Personen zwar die größte Beschäftigtengruppe im öffentlichen Dienst. Sie unterliege aber “faktisch einer ungeregelt und potenziell unbegrenzten Arbeitszeit.” Damit verstoße das bestehende Arbeitszeitzeitmodell gegen Arbeitsschutzbestimmungen

Zwei Drittel der Lehrerarbeitszeit sind unbestimmt

In der Studie steht schwarz auf weiß, was ein Großteil der Bevölkerung den Lehrkräften nicht abnimmt. Neben den 21 bis 30 Pflichtstunden im Unterricht, die in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch sind, erfüllen Lehrkräfte viele weitere Aufgaben. Diese sind vom Zeitumfang her weitgehend unbestimmt. Die Aufgaben reichen von Klassenfahrten über Verwaltung und Teambesprechungen bis hin zu Vertretungen sowie den häufig aufwändigen Korrekturen der Klassenarbeiten. Dadurch erhöhe sich die tatsächliche Arbeitszeit auf 49 bis 56 Stunden pro Woche.

Obwohl viele der Fakten bekannt sind, die Mark Rackles zusammen getragen hat, so erstaunt beim Lesen doch eines: Wie wenig achtsam die Bildungsverwaltung mit der Ressource Lehrerarbeitskraft umgeht. Der Autor zitiert Ergebnisse des Schulbarometers, das starke gesundheitliche Beschwerden bei Lehrkräften erhoben hat. Demnach leiden 62 Prozent häufig oder sehr häufig unter körperlicher Erschöpfung. Nur 15 Prozent der Pädagogen halten ihre Arbeitsbelastung für angemessen. Und für acht von zehn Lehrern ist Wochenendarbeit der Normalfall. Die Länder als Dienstherren erkennen das Grundproblem der Gesundheitsbelastung zwar indirekt an – etwa, indem sie Präventionsangebote und Gesundheitsportale empfehlen.

Gleichwohl ändern die Länder das problematische Arbeitsmodell nicht. “Weder in Überschallgeschwindigkeit noch überhaupt hat sich seitdem etwas Substanzielles an dem in Rede stehenden Pflichtstundenmodell mit seinen anerkannten Schwächen und Nachteilen verändert.” So spottet Rackles über einen Satz der ehemaligen Kultusministerin Annette Schavan aus dem Jahr 2003. Damals hatte Schavan eine Empfehlung ausgesprochen. Die “nicht mehr in unsere Zeit und nicht mehr in unser Verständnis von Schule passende” Lehrerarbeitszeit sei am besten in Überschallgeschwindigkeit zu ändern. Das aber ist nicht geschehen. Vielmehr erhöhen die ersten Schulminister nun sogar noch die Lehrdeputate der Pädagogen. 

Starke Schulleiter sollen das Problem lösen

Freilich gibt es auch für den Autor keinen einfachen Ausweg aus dem Dilemma überlasteter Lehrpersonen bei steigendem Lehrermangel. Rackles schlägt Pilotversuche mit Jahresarbeitszeit und einer klaren Definition von Zeiterfordernissen vor, die im bestehenden System relativ unkompliziert realisierbar seien. Die entscheidende Größe für ein neues Arbeitszeitmodell sind starke Schulleitungen.

So knüpft sein Papier an die Forderung des Vorsitzenden der Telekom Stiftung, Thomas de Maizière, an. Damit die Zuweisung globaler Budgets an “ergebnisverantwortliche Schulen” gelingen kann, schreibt Rackles, “müssen die Schulleitungen als zentrale Akteure in dem neuen Arbeitszeitmodell gestärkt werden.” Kurz: Sie können dann selbst die Arbeitszeit ihrer Lehrer jenseits des Unterrichts definieren. Freilich ist das deutsche Schulsystem ein Friedhof von Schul- und Pilotversuchen. Und die Schulleiter haben sich zwar während der Coronakrise als die wichtigsten Manager von Schulen erwiesen. Allerdings hat ihnen bisher kein Bundesland dafür mehr Kompetenzen zuerkannt. 

Lesen Sie auch: Thomas de Maizière – “Wir brauchen kreative Unruhe”

  • Arbeitszeit
  • Lehrer
  • Lehrermangel
  • Mark Rackles
  • Telekom-Stiftung

“Das ist für die Lehrerstruktur in der Bundesrepublik nicht gut”

Thomas Lippmann im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Herr Lippmann, in Sachsen-Anhalt soll eine Fachhochschule Lehrer ausbilden – obwohl es da nicht mal Pädagogik-Professoren gibt. Es sollen dort unter anderem Bewerber ohne Abitur zu Lehrkräften werden. Kann jetzt jeder Lehrer ausbilden?

Diese Idee ist echt aus der Zeit gefallen. Ich weiß nicht, was die Leute um eine CDU-Landtagsabgeordnete antreibt, die das Modell jetzt auf den Markt gebracht haben. Man scheint anknüpfen zu wollen an eine alte Tradition in Köthen – um diese FH geht es -, wo es zu DDR-Zeiten und kurz nach der Wende mal eine Pädagogische Hochschule gab. Diese Überlegung hat meines Erachtens keine Chance auf Umsetzung. Und das ist auch gut so.

Neue originelle Lehrerkategorien wie Bildungsamtsräte entwickelt man auch anderswo. Warum machen die Länder sowas?

Es geht schlicht darum, zusätzliche Bewerber für Lehramtsstudiengänge zu finden, die von den jungen Leuten gemieden werden, weil sie unattraktiv sind. Bei uns ist es das Lehramt an Sekundarschulen. Statt sich mit den Gründen für das mangelnde Interesse auseinanderzusetzen, eröffnet man für diese Schulen jetzt neue zweit- und drittklassige Ausbildungswege. Die vermeintliche Kirsche auf der Torte ist das duale Studium: Man lockt Studienbewerber mit Geld in verschmähte Laufbahnen. Das ist ein Irrweg.

Ist es nicht verständlich, dass die Kultusminister unter dem Druck des Lehrermangels nach jedem Strohhalm greifen?

Ich verstehe das, aber ich kann es nicht gutheißen. Hier werden Lehrerausbildungen kreiert, die so ungewöhnlich sind, dass man die Absolventen nur im eigenen Land anerkennt und einstellen kann. Darauf sollte man sich aber nicht verlassen. Im Wettbewerb um die skurrilsten Wege geschieht zweierlei: Erstens sinkt das Niveau – eine Abwärtsspirale in Richtung schnellbesohlte und billige Lehrer setzt ein. Zweitens grenzen sich die Länder gegenseitig immer schärfer ab. Wenn aber alle Bundesländer versuchen, sich gegenseitig die Lehrer abzukaufen und gleichzeitig nur für den eigenen Gutshof auszubilden, dann kann das für die gesamte Lehrerstruktur in der Bundesrepublik nicht gut sein.

Lesen Sie auch: SWK sieht Teilzeit als “größte Beschäftigungsreserve”

Was sollte man Ihrer Ansicht nach unternehmen, um dem Lehrermangel beizukommen?

Man kann den Lehrkräftemangel nur durch eine erheblich ausgeweitete Ausbildung von neuen Lehrkräften beheben – und zwar auf universitärem Niveau. Das muss Priorität haben. Wir haben nicht zu wenige Bewerberinnen und Bewerber, es gibt schlicht zu wenig Studienplätze an den Universitäten. Ein Blick in die Lehramtsausbildung zeigt, dass wir nach wie vor eine unglaubliche Fülle von Kapazitätsbeschränkungen an den Unis haben. Also die Kultus- und die Wissenschaftsminister sollten erstmal ihre Hausaufgaben machen, bevor sie nach originellen Studienanwärtern schielen – womöglich solche ohne Abitur.

Wenn man jetzt viele Lehramtsstudierenden an die Unis holt, führt das nicht zwangsläufig in einen neuen, pardon, Schweinezyklus? Sprich: eine Lehrerschwemme in 15 oder 20 Jahren?

Solche Zyklen haben immer denselben Ablauf: zuerst wird nicht kontinuierlich in Größenordnungen ausgebildet, dann reißt man erschrocken alle Schleusen auf – und die Ausbildung überschießt, meist mit etwas Zeitverzögerung. So etwas kann man auch in der jetzigen Phase nicht völlig ausschließen. Aber es gibt keine Alternative dazu. Und es spricht auch einiges dafür, dass dies in den nächsten 15 bis 20 Jahren, über die wir reden, nicht passieren wird.

Warum nicht? 

Weil die Lücke, die jetzt entsteht, keine gewöhnliche Lehrerlücke ist, sondern ein Abgrund. Diese Schlucht ist unvergleichbar tiefer und ausgeweiteter als alles, was bisher in der deutschen Nachkriegsgeschichte erkennbar ist. Das heißt, uns steht eine langanhaltende Phase bevor, um wieder genug und exzellent ausgebildete Lehrkräfte ins Schulsystem zu bekommen. Übrigens werden die Lücken gerade mit Seiteneinsteigern gefüllt, die längst nicht so lange im Dienst bleiben; viele werden im Alter von 40 bis 50 Jahren eingestellt. Bis die Lehramtsstudierenden, die in den nächsten zehn Jahren ihr Studium beginnen, in den Schulen ankommen, sind diese Quereinsteiger oft schon wieder raus. 

Sie schlagen vor, Masterabsolventen anderer Studiengänge als sogenannte Ein-Fach-Lehrer einzustellen. Ist das kein Dumping?

Das ist kein Dumping-Vorschlag, sondern schlicht das Gebot der Stunde. Zwei-Fach-Lehrer ist ein guter deutscher Weg der Lehrerausbildung – es ist aber auch ein Sonderweg. Man ist nicht ja nicht erst dann eine gute Lehrkraft, wenn man für zwei Fächer ausgebildet ist. Ein-Fach-Lehrer sind nichts Minderwertiges. Nur ist wichtig, dass das alles Lehrkräfte sind, die mit dem Abschluss einer wissenschaftlichen Hochschule in die Schulen kommen. 

Thomas Lippmann ist bildungspolitischer Sprecher der Linken im Landtag von Sachsen-Anhalt, bis 2021 war er Fraktionschef. Der ehemalige Schulleiter war zuvor Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

  • Lehrerbildung
  • Lehrermangel
  • Thomas Lippmann

BILDUNG.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    wenn Lehrer fehlen, müssen eben jene mehr arbeiten, die schon im System sind – eine Formel, die sich im Kreis der Kultusminister mehr und mehr durchsetzt. Dass sie nicht aufgeht, legt eine Studie nahe, die die Telekom Stiftung heute um 11 Uhr vorstellt. Mein Kollege Christian Füller hat vorab hineingeschaut und war erstaunt, wie unachtsam die Länder mit der Arbeitskraft von Pädagogen umgehen. Chronisch überlastet, haben diese wenig Zeit für ihr Kerngeschäft: den Unterricht. Der Studienautor und ehemalige Berliner Staatssekretär, Mark Rackles, plädiert daher für ein neues Arbeitszeitmodell – und macht einen Vorschlag.

    Doch die Kultusminister beschäftigen sich bislang nur am Rande mit den ungesunden Arbeitszeiten ihrer Lehrkräfte. Viel mehr Energie – man könnte fast sagen: Kreativität – investieren die Ministerien, um den Zugang ins Lehramt zu vereinfachen und mehr junge Studierende schneller durch die Ausbildung zu schleusen. Nach den Bachelor-Lehrern in Brandenburg könnte künftig in Sachsen-Anhalt eine Fachhochschule junge Menschen im dualen Studium ins Lehramt führen – auch ohne Abitur. Im Interview erklärt der Linken-Politiker und Bildungsexperte Thomas Lippmann, warum er wenig von Billiglehrern hält und es keine vergeudete Mühe sei, mehr universitäre Studienplätze zu schaffen.

    Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre!

    Ihre
    Anna Parrisius
    Bild von Anna  Parrisius

    Analyse

    Kostbare Zeit im Klassenzimmer

    Diese Studie dürfte den Schulministern nicht gefallen – und auch der Öffentlichkeit nicht. Deutsche Lehrer sind nämlich, anders als der Volksmund meint, chronisch überarbeitet und überlastet. Sie arbeiten im Schnitt 50 Stunden pro Woche. Das pädagogische Problem besteht darin, dass nur gut ein Drittel dieser Arbeitszeit in das Kerngeschäft der Lehrer fällt: dem Unterricht mit Schülern. 

    Das ist die Hauptbotschaft einer Studie der Telekom Stiftung, die zu einem radikalen Ergebnis für die Arbeitszeit von Lehrern kommt. “Das deutsche Modell ist seit 150 Jahren gültig und schlicht aus der Zeit gefallen”, sagte der Geschäftsführer der Stiftung, Ekkehard Winter. “Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht.” Der Autor der Studie, der ehemalige Berliner Staatssekretär Mark Rackles, schlägt deswegen vor, ein Jahresarbeitszeit-Modell zu testen. Rackles fordert, Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben zu befreien und mehr Transparenz in den Arbeitsalltag zu bringen. 

    Für die Bildungspolitik enthält das Papier eine bittere Pille. Während die Kultusminister darüber nachdenken, entweder die Arbeitszeit der Lehrer zu erhöhen oder ihre Teilzeitquote zu abzusenken, empfiehlt Rackles das Gegenteil. “Wenn man das pädagogische Arbeitsvolumen erhöhen will, dann sollte man nicht an einer – kaum mehr vermittelbaren – Arbeitszeiterhöhung ansetzen.” Der Berater und die Telekom-Stiftung sind nicht die ersten, die an der gegenwärtigen Strategie zur Bekämpfung des Lehrermangels Kritik üben. Lehrerverbände, aber auch unabhängige Experten warnen davor, die Lehrkräfte mit zusätzlichem Arbeitsdruck aus den Klassenzimmern zu treiben.

    Das Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte weise erhebliche Mängel auf, schreibt Rackles. “Es fördert eine chronische Überlastung der Beschäftigten, es weist eine geringe Ressourceneffizienz auf und fast keine Adaptionsfähigkeit an neue Entwicklungen.” Das Lehrpersonal der 40.000 Schulen sei mit knapp einer Million Personen zwar die größte Beschäftigtengruppe im öffentlichen Dienst. Sie unterliege aber “faktisch einer ungeregelt und potenziell unbegrenzten Arbeitszeit.” Damit verstoße das bestehende Arbeitszeitzeitmodell gegen Arbeitsschutzbestimmungen

    Zwei Drittel der Lehrerarbeitszeit sind unbestimmt

    In der Studie steht schwarz auf weiß, was ein Großteil der Bevölkerung den Lehrkräften nicht abnimmt. Neben den 21 bis 30 Pflichtstunden im Unterricht, die in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch sind, erfüllen Lehrkräfte viele weitere Aufgaben. Diese sind vom Zeitumfang her weitgehend unbestimmt. Die Aufgaben reichen von Klassenfahrten über Verwaltung und Teambesprechungen bis hin zu Vertretungen sowie den häufig aufwändigen Korrekturen der Klassenarbeiten. Dadurch erhöhe sich die tatsächliche Arbeitszeit auf 49 bis 56 Stunden pro Woche.

    Obwohl viele der Fakten bekannt sind, die Mark Rackles zusammen getragen hat, so erstaunt beim Lesen doch eines: Wie wenig achtsam die Bildungsverwaltung mit der Ressource Lehrerarbeitskraft umgeht. Der Autor zitiert Ergebnisse des Schulbarometers, das starke gesundheitliche Beschwerden bei Lehrkräften erhoben hat. Demnach leiden 62 Prozent häufig oder sehr häufig unter körperlicher Erschöpfung. Nur 15 Prozent der Pädagogen halten ihre Arbeitsbelastung für angemessen. Und für acht von zehn Lehrern ist Wochenendarbeit der Normalfall. Die Länder als Dienstherren erkennen das Grundproblem der Gesundheitsbelastung zwar indirekt an – etwa, indem sie Präventionsangebote und Gesundheitsportale empfehlen.

    Gleichwohl ändern die Länder das problematische Arbeitsmodell nicht. “Weder in Überschallgeschwindigkeit noch überhaupt hat sich seitdem etwas Substanzielles an dem in Rede stehenden Pflichtstundenmodell mit seinen anerkannten Schwächen und Nachteilen verändert.” So spottet Rackles über einen Satz der ehemaligen Kultusministerin Annette Schavan aus dem Jahr 2003. Damals hatte Schavan eine Empfehlung ausgesprochen. Die “nicht mehr in unsere Zeit und nicht mehr in unser Verständnis von Schule passende” Lehrerarbeitszeit sei am besten in Überschallgeschwindigkeit zu ändern. Das aber ist nicht geschehen. Vielmehr erhöhen die ersten Schulminister nun sogar noch die Lehrdeputate der Pädagogen. 

    Starke Schulleiter sollen das Problem lösen

    Freilich gibt es auch für den Autor keinen einfachen Ausweg aus dem Dilemma überlasteter Lehrpersonen bei steigendem Lehrermangel. Rackles schlägt Pilotversuche mit Jahresarbeitszeit und einer klaren Definition von Zeiterfordernissen vor, die im bestehenden System relativ unkompliziert realisierbar seien. Die entscheidende Größe für ein neues Arbeitszeitmodell sind starke Schulleitungen.

    So knüpft sein Papier an die Forderung des Vorsitzenden der Telekom Stiftung, Thomas de Maizière, an. Damit die Zuweisung globaler Budgets an “ergebnisverantwortliche Schulen” gelingen kann, schreibt Rackles, “müssen die Schulleitungen als zentrale Akteure in dem neuen Arbeitszeitmodell gestärkt werden.” Kurz: Sie können dann selbst die Arbeitszeit ihrer Lehrer jenseits des Unterrichts definieren. Freilich ist das deutsche Schulsystem ein Friedhof von Schul- und Pilotversuchen. Und die Schulleiter haben sich zwar während der Coronakrise als die wichtigsten Manager von Schulen erwiesen. Allerdings hat ihnen bisher kein Bundesland dafür mehr Kompetenzen zuerkannt. 

    Lesen Sie auch: Thomas de Maizière – “Wir brauchen kreative Unruhe”

    • Arbeitszeit
    • Lehrer
    • Lehrermangel
    • Mark Rackles
    • Telekom-Stiftung

    “Das ist für die Lehrerstruktur in der Bundesrepublik nicht gut”

    Thomas Lippmann im Landtag von Sachsen-Anhalt.

    Herr Lippmann, in Sachsen-Anhalt soll eine Fachhochschule Lehrer ausbilden – obwohl es da nicht mal Pädagogik-Professoren gibt. Es sollen dort unter anderem Bewerber ohne Abitur zu Lehrkräften werden. Kann jetzt jeder Lehrer ausbilden?

    Diese Idee ist echt aus der Zeit gefallen. Ich weiß nicht, was die Leute um eine CDU-Landtagsabgeordnete antreibt, die das Modell jetzt auf den Markt gebracht haben. Man scheint anknüpfen zu wollen an eine alte Tradition in Köthen – um diese FH geht es -, wo es zu DDR-Zeiten und kurz nach der Wende mal eine Pädagogische Hochschule gab. Diese Überlegung hat meines Erachtens keine Chance auf Umsetzung. Und das ist auch gut so.

    Neue originelle Lehrerkategorien wie Bildungsamtsräte entwickelt man auch anderswo. Warum machen die Länder sowas?

    Es geht schlicht darum, zusätzliche Bewerber für Lehramtsstudiengänge zu finden, die von den jungen Leuten gemieden werden, weil sie unattraktiv sind. Bei uns ist es das Lehramt an Sekundarschulen. Statt sich mit den Gründen für das mangelnde Interesse auseinanderzusetzen, eröffnet man für diese Schulen jetzt neue zweit- und drittklassige Ausbildungswege. Die vermeintliche Kirsche auf der Torte ist das duale Studium: Man lockt Studienbewerber mit Geld in verschmähte Laufbahnen. Das ist ein Irrweg.

    Ist es nicht verständlich, dass die Kultusminister unter dem Druck des Lehrermangels nach jedem Strohhalm greifen?

    Ich verstehe das, aber ich kann es nicht gutheißen. Hier werden Lehrerausbildungen kreiert, die so ungewöhnlich sind, dass man die Absolventen nur im eigenen Land anerkennt und einstellen kann. Darauf sollte man sich aber nicht verlassen. Im Wettbewerb um die skurrilsten Wege geschieht zweierlei: Erstens sinkt das Niveau – eine Abwärtsspirale in Richtung schnellbesohlte und billige Lehrer setzt ein. Zweitens grenzen sich die Länder gegenseitig immer schärfer ab. Wenn aber alle Bundesländer versuchen, sich gegenseitig die Lehrer abzukaufen und gleichzeitig nur für den eigenen Gutshof auszubilden, dann kann das für die gesamte Lehrerstruktur in der Bundesrepublik nicht gut sein.

    Lesen Sie auch: SWK sieht Teilzeit als “größte Beschäftigungsreserve”

    Was sollte man Ihrer Ansicht nach unternehmen, um dem Lehrermangel beizukommen?

    Man kann den Lehrkräftemangel nur durch eine erheblich ausgeweitete Ausbildung von neuen Lehrkräften beheben – und zwar auf universitärem Niveau. Das muss Priorität haben. Wir haben nicht zu wenige Bewerberinnen und Bewerber, es gibt schlicht zu wenig Studienplätze an den Universitäten. Ein Blick in die Lehramtsausbildung zeigt, dass wir nach wie vor eine unglaubliche Fülle von Kapazitätsbeschränkungen an den Unis haben. Also die Kultus- und die Wissenschaftsminister sollten erstmal ihre Hausaufgaben machen, bevor sie nach originellen Studienanwärtern schielen – womöglich solche ohne Abitur.

    Wenn man jetzt viele Lehramtsstudierenden an die Unis holt, führt das nicht zwangsläufig in einen neuen, pardon, Schweinezyklus? Sprich: eine Lehrerschwemme in 15 oder 20 Jahren?

    Solche Zyklen haben immer denselben Ablauf: zuerst wird nicht kontinuierlich in Größenordnungen ausgebildet, dann reißt man erschrocken alle Schleusen auf – und die Ausbildung überschießt, meist mit etwas Zeitverzögerung. So etwas kann man auch in der jetzigen Phase nicht völlig ausschließen. Aber es gibt keine Alternative dazu. Und es spricht auch einiges dafür, dass dies in den nächsten 15 bis 20 Jahren, über die wir reden, nicht passieren wird.

    Warum nicht? 

    Weil die Lücke, die jetzt entsteht, keine gewöhnliche Lehrerlücke ist, sondern ein Abgrund. Diese Schlucht ist unvergleichbar tiefer und ausgeweiteter als alles, was bisher in der deutschen Nachkriegsgeschichte erkennbar ist. Das heißt, uns steht eine langanhaltende Phase bevor, um wieder genug und exzellent ausgebildete Lehrkräfte ins Schulsystem zu bekommen. Übrigens werden die Lücken gerade mit Seiteneinsteigern gefüllt, die längst nicht so lange im Dienst bleiben; viele werden im Alter von 40 bis 50 Jahren eingestellt. Bis die Lehramtsstudierenden, die in den nächsten zehn Jahren ihr Studium beginnen, in den Schulen ankommen, sind diese Quereinsteiger oft schon wieder raus. 

    Sie schlagen vor, Masterabsolventen anderer Studiengänge als sogenannte Ein-Fach-Lehrer einzustellen. Ist das kein Dumping?

    Das ist kein Dumping-Vorschlag, sondern schlicht das Gebot der Stunde. Zwei-Fach-Lehrer ist ein guter deutscher Weg der Lehrerausbildung – es ist aber auch ein Sonderweg. Man ist nicht ja nicht erst dann eine gute Lehrkraft, wenn man für zwei Fächer ausgebildet ist. Ein-Fach-Lehrer sind nichts Minderwertiges. Nur ist wichtig, dass das alles Lehrkräfte sind, die mit dem Abschluss einer wissenschaftlichen Hochschule in die Schulen kommen. 

    Thomas Lippmann ist bildungspolitischer Sprecher der Linken im Landtag von Sachsen-Anhalt, bis 2021 war er Fraktionschef. Der ehemalige Schulleiter war zuvor Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

    • Lehrerbildung
    • Lehrermangel
    • Thomas Lippmann

    BILDUNG.TABLE REDAKTION

    Licenses:

      Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

      Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

      Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

      Anmelden und weiterlesen