Table.Briefing: Bildung

Digitalstatus der Schulen + Sebastian Schmidt + Hackathon Tag 3 + Virtuelles Klassenzimmer + Naklario + asynchrones Barcamp

  • Nach der Pandemie: Digital-Kompetenz droht zu versiegen
  • Interview mit Lehrer Sebastian Schmidt über den flipped classroom
  • Hackathon, Tag Drei: Erst Achtsamkeit – dann Soziokratie
  • Forscher testen virtuelles Klassenzimmer
  • Makerspace: Naklario – lernen wie beim Chatroulette
  • Didaktik & Tools: Nele Hirsch und Jöran Muuß-Mehrholz über asynchrone Barcamps
Liebe Leserin, lieber Leser,

Heute beginnen wir damit, tiefer in digitale Lehr- und Lernmethoden einzusteigen. Sebastian Schmidt ist der bekannteste Lehrer, der Erklärvideos nicht nur dreht, sondern auch im täglichen Unterricht nutzt – und das schon seit 2013. Schmidt ist in der Szene berühmt geworden für seinen flipped classroom, und wir wollten wissen, was den Esprit dieses umgedrehten Klassenzimmers ausmacht. Und ob es sich verändert hat. Hat es. Wie und warum, das erklärt der Träger des Deutschen Lehrerpreises von 2019 im Interview.

Die pädagogische Digitalisten-Szene veranstaltet in dieser Woche ein Event nach dem anderen, seien es Lehrerfortbildungen oder Barcamps oder den Digitaltag am morgigen Freitag. Einerseits. Andererseits scheinen die Kultusminister sich wieder ganz auf analoge Schule vorzubereiten. Falk Steiner hat sich in den Ländern umgehört, was von den hybriden Lernmodellen und den Videokonferenzen nach dem Sommer wohl übrig bleibt.

Am Samstag findet das online-Barcamp des Instituts für zeitgemäße Prüfungen statt – eines der interessantesten Projekte. Lehrer beraten und bestärken sich gegenseitig, wie man die Wurzel der Schule verändern kann: das Prüfungsunwesen. Aber was ist ein Barcamp überhaupt? Dazu gibt es heute ein Didaktik & Tools von einer originellen Variante der Unkonferenz: dem ersten asynchronen Barcamp, das die Edunauten gerade abgehalten haben.

Der Hackathon “Wir für Schule” nähert sich seinem Höhepunkt, der Vorstellung der Projekte, die in den Teams entstanden sind. Unsere Hack-Reporter haben sich die Leuchttumschulen angesehen, die dort vorgestellt werden, und das Achtsamkeitstraining, das jeden Morgen angeboten wird. Schulreform soll disruptiv sein – und achtsam. Und wir haben noch ein Siegerprojekt von “Wir für Schule” aus dem letzten Jahr besucht: Naklario, ein Nachhilfe-Startup.

Ihr
Christian Füller
Bild von Christian  Füller

Analyse

Digital-Kompetenz droht zu versiegen

Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres spricht von einem “Schub für die Digitalisierung”. Auch das bayerische Kultusministerium zieht gegenüber Bildung.Table eine “insgesamt positive Bilanz”. Dennoch könne “auch guter digitaler Distanzunterricht den Präsenzunterricht nicht vollständig ersetzen.” Das hatte wohl niemand vor, aber eine sinnvolle Weiternutzung der Tools und Technik, die nun angeschafft sind und auch noch werden, die wollen alle Verantwortlichen erreichen. Nie waren die Voraussetzungen für hybrides Lernen besser, bei dem digitale Lehr- und Lernmittel und angepasste Unterrichtskonzepte zum Einsatz kommen.

Die Aufrüstung läuft

Denn in der Pandemie haben die Bundesländer die Schulen, Lehrer:innen und Schüler:innen technisch aufgerüstet. Von den 6,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt Schule wurden bis Februar 1,363 Milliarden Euro verplant oder ausgegeben. Und noch scheinen die Bundesländer im Shoppingmodus. Allein Bayern schaffte aus Bundes- und Landesmitteln bislang 360.000 Laptops und Tablets für seine 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche an Allgemeinbildenden Schulen an (Verhältnis 1:4). Das kleinere Berlin schaffte gut 50.000 Endgeräte für seine 366.000 Schüler:innen an (Verhältnis 1:7). Und die Bundesländer planen weitere Gerätekäufe. Schleswig-Holstein, das kommende Woche in die Sommerferien geht, will zum Beispiel allen Lehrer:innen zeitnah dienstliche Endgeräte zur Verfügung stellen, Berlin rollt 37.000 Tablets an Lehrkräfte aus. Die Geräte kommen, und manch Pädagoge scheint darauf nur zu warten.

Auch der Fortbildungswille der Lehrkräfte scheint immer noch groß. Bayern verweist stolz auf 170.000 Teilnehmer:innen seit September 2020 allein bei den Fortbildungsangeboten der Stabsstelle für Medien, Pädagogik und Didaktik der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung. Schleswig-Holstein freut sich bei 28.000 Lehrkräften im Land über 23.000 Lernmodul-Nutzungen mit ähnlicher Ausrichtung. Klar, wo Licht ist, ist auch Schatten: Das Weiterbildungskonzept der Berliner Bildungsverwaltung befindet sich derzeit laut der Senatsverwaltung für Bildung noch in Abstimmung mit den Personalvertretungen. Aber auch an anderer Stelle werden Ausbau und Verstetigung weiter vorangetrieben: Schleswig-Holstein verlängerte erst vor wenigen Tagen den Vertrag mit dem Lernplattformanbieter Itslearning um drei Jahre, um den Schulen Planungssicherheit zu geben und andere Bundesländer planen hier ebenfalls mittel- bis langfristig. Und auch bei der oft umstrittenen Frage, wer Wartung und Betrieb sicherstellt, haben sich inzwischen in den meisten Ländern und Kommunen Lösungen gefunden.

Die Aufgabe ist klar – doch wo sind Lösungen?

Es tut sich also einiges, um die digitalen Möglichkeiten zu verstetigen. Doch sind Endgeräte und Lernplattformen noch keine integrierten Bildungskonzepte für die Präsenzschule. Wie aber sollen die aussehen? Und wer soll diese umsetzen? “Es braucht eine sinnvolle Didaktik für die Bildung in der digitalen Welt. Um diese konzeptionell in den einzelnen Fächern umzusetzen, müssen die Lehrkräfte Zeit, Beratung und Unterstützung bekommen”, fordert Maike Finnern, die neue Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf Anfrage von Bildung.Table. Hier seien die Kultusministerien gefragt.

Genau das hat Bildung.Table bei einigen getan. Man habe “einen Schulversuch “Digitales Lernen” auf den Weg gebracht, der von der Humboldt-Universität wissenschaftlich begleitet wird und sich genau mit diesen Fragen beschäftigen soll”, vermeldet Berlins Bildungsverwaltung. Drei Jahre soll der dauern. Man sei “prinzipiell der Auffassung, dass man die gemachten Erfahrungen von Schule in der digitalen Welt weiter nutzen soll.” Schleswig-Holstein muss bei der Umsetzung auch auf den Eigenantrieb der weitgehend lehrmittelautonomen Lehrer:innen zwischen Nord- und Ostsee hoffen. Und Bayern teilt mit, dass schon vor der Pandemie der Unterricht oftmals digital gestützt stattgefunden habe – mit Whiteboards und Tablets. Das klingt eher nicht nach Ambitionen und Aufbruchstimmung, sondern eher nach postpandemischer Erschöpfung.

Neue Normalität oder Zurück zum Alltag

Und genau das ist die derzeit größte Gefahr: Die zeitweise neue Normalität droht durch die alte Realität vollständig überlagert zu werden. Die Erfahrungen mit digitalem Distanzunterricht drohen nach den Ferien und im Präsenzalltag verloren zu gehen, wenn sie nicht schnell gezielt und nachhaltig in vorhandene Bildungskonzepte, Rahmenlehrpläne und Fachdidaktiken integriert werden. Ohne Schulschließungen ist der Druck auf die Verantwortlichen spürbar zurückgegangen.

Während der Pandemie hatte sich gezeigt: Es war vor allem sozioökonomischer Zufall, der darüber entschieden hat, ob Kinder und Jugendliche zu Hause die technischen, wohnlichen und familiären Voraussetzungen für ein funktionierendes Distanzlernen vorfinden konnten. Und es war Zufall, ob die jeweiligen Lehrkräfte Zugriff auf adäquate Technik und die entsprechenden Schüler:innen hatten und damit die Voraussetzungen für intensives Distanzlernen mit neuen Methoden hatten und dieses angewandt haben. 

Zufall aber ist kein Konzept für Zukunft. Die GEW warnt vor ungleichen Bedingungen für die Schulen und damit für die Schüler:innen. Diese Gefahr betrifft alle Ebenen – Zugang, Ausbildung, Endgeräte, Wartung, Plattformen. Doch ohne schulalltagstaugliche Nutzungskonzepte hilft das nichts. Und viele der schönen neuen Geräte würden bald als Backsteine zwischen Knetmasse und Lehrer:innenzimmer-Kaffeevorrat enden. Eine weitere Digitalisierungsrunde dürfte dann Jahre auf sich warten lassen. Denn wenn die Nutzung im kommenden Schuljahr erwartbar massiv zurückgehen wird, während die Staatseinnahmen gewaltigen neuen Schuldenbergen gegenüberstehen, dürfte auch die Frage schnell aufkommen: Handelt es sich bei den hier verausgabten Milliarden um wirklich gut investiertes Geld? Falk Steiner

Mehr zum Thema

    • Digitalisierung
    • Endgeräte
    • Technologie
    • Unterricht

    “Schüler müssen zu Produzenten werden”

    Sebastian Schmidt: Erfinder des "flipped classroom".
    Pädagoge und Flipped-Classroom-Erfinder Sebastian Schmidt

    Herr Schmidt, Sie arbeiten schon seit vielen Jahren mit dem Instrument, das jetzt in aller Munde ist: Lernvideos. Welche Tipps haben Sie für ihre Kolleg:innen, damit sie diesen Kulturwandel hinbekommen? 

    Da trägt sich tatsächlich ein Kulturwandel zu. Man übersetzt Stoffe und Themen ins Digitale, um den Fernunterricht in Distanz hinzubekommen. Während Corona hat man überwiegend auf das Medium Video gesetzt. Das Problem von Videos ist, dass sie dem Schüler suggerieren, dass er’s kann. Aber leider ist das nicht immer der Fall. “Ich kann’s” heißt leider oft: “Ich kann’s eigentlich nicht selber”.

    Wie lösen Sie das Problem dieses Scheinwissens?

    Wir, genauer Schüler, brauchen zum Lernen ein bisschen mehr als den einen Lernzugang über das Video. Ich setze beim Lernen auch auf Erklär-Videos – allerdings kombiniert mit vielen anderen Elementen. Schüler lernen am besten, wenn sie etwas selber machen, wenn sie auch selber Fehler machen. Deswegen muss etwas anderes stattfinden, ehe das Video kommt.

    Früher haben Sie die Videos zum Vorbereiten des Unterrichts benutzt. Jetzt zur Nachbereitung. Woher kommt der Sinneswandel?

    Ich habe in den letzten Jahren am Medium Video ganz viel gelernt – über Technik. Aber auch über mich und über die Inhalte, die ich darin verarbeitet habe. 

    Was ist Ihre entscheidende Lehre gewesen?

    Ein Erklärvideo zeigt uns, wie etwas geht. Das mag für praktische Fragen wie das Einsetzen einer Druckerpatrone oder eine neue Stichsäge gut sein. In der Schule passt das nicht immer. Da geht’s um grundsätzliche Fragen und Lernprozesse. Und deshalb hat sich meine Video-Philosophie im Laufe der Zeit geändert: Meine Klassen verwenden das Erklärvideo fast nur noch zum Nachbereiten. Davor werden die Schüler selbst aktiv und kreativ. Das ist die Magie, die wir unbedingt an die Schüler weitergeben müssen. 

    Magie?

    Ja, auch das gibt es in der Schule. Durch die Erstellung von einem Erklärvideo oder durch die Produktion von digitalem Content überhaupt lernen Schüler ganz, ganz viel. Sie müssen selber zu Produzenten werden, das ist der Trick. Es kann nicht sein, dass Distanzunterricht nur vom Konsum lebt. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass Frontalunterricht in der Videokonferenz noch ermüdender und dysfunktionaler wurde als im Klassenzimmer.

    Die Methode flipped classroom funktionierte bisher genau anders herum: erst Video, dann Klassenzimmer. Nun haben Sie das erneut geflippt. 

    Mir geht es um Dialog und Eigentätigkeit der Schüler. Um das erste zu erreichen, gebe ich den Lernenden Aufgaben und Themen, die einfach zu machen sind, mit nach Hause. Dann habe ich im Unterricht mehr Zeit für Dialoge und Interaktionen, in denen wir komplexere Themen gemeinsam verhandeln können. Irgendwann habe ich dann, zweitens, gemerkt, dass die Schüler viel mehr können. Das heißt, auch in der – eigentlich – lehrerlastigen Vorbereitungsphase muss nicht immer ich erklären, sondern kann hinführende Aufgaben, Impulse oder Problemstellungen mit nach Hause aufgeben – sodass die Schüler sich mit zeitlichem Versatz Gedanken machen können. 

    Eine Art Verantwortungsverlagerung mehr und mehr in Richtung Schüler?

    Ja, und es gibt dafür immer mehr Anlässe, nicht nur die “große” Hausaufgabe, sondern auch viele kleine im Klassenzimmer. Alle paar Minuten gehen die Schüler in Gruppen in den Dialog und kommen dann wieder zurück in den Unterricht, um dort ihre Ideen Preis zu geben. Und zwar sehr oft im Dialog mit den anderen Schülern zusammen. Das heißt, je weniger ich vorher erkläre, desto mehr Erkundungsfreiheit gebe ich ihnen. Deswegen bleibt die Grundidee des flipped classroom ja auch bestehen: Ich drehe das Klassenzimmer um, ich exportiere so viel hinaus, dass drinnen der exklusive Labor- und Gesprächsraum mit mir, dem Lehrer, entsteht. Wenn ich die Predigt vom Anfang an den Schluss lege, dann hilft das den Schülern mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. 

    Wie lange hat dieses zweite Flippen bei Ihnen gedauert?

    Ich mache das jetzt seit circa fünf Jahren. Das waren natürlich auch Erfahrungswerte, die ich sammeln musste, etwa, dass dieses ewige “Vorkauen und Nachmachen” mit den Schülern didaktisch nicht immer so ganz sinnvoll ist – und auch mir langweilig wurde.  

     Kann man ein derart komplexes flipped-Konzept eigentlich umsetzen, wenn die Schüler zu Hause sitzen? 

    Ja, man muss reden, reden, reden. Das ist die Grundidee, deswegen ist es wichtig, dass man auch über die Distanz zum Dialog kommt. Ich hab am Anfang die Schüler intensiv darin geschult, wie man Partner- und Gruppenarbeit macht. Dazu habe ich alle möglichen virtuellen Klassenräume und Plattformen verwendet, auf denen Schüler sich gegenseitig Sachen hochladen und Feedback geben konnten. 

    Klingt einfach, aber organisieren die Schüler es dann auch selbst, wenn sie Teams brauchen? 

    Anfangs nicht, aber das lernen Schüler ganz schnell. Ich hab ganz profan gesagt: Heute geht ihr in die Partnerarbeit, sucht euch jemanden, der Zeit hat, mit euch zu kooperieren. Telefoniert miteinander, tauscht euch aus. Ich habe ihnen Plattformen genannt, die man datenschutzkonform nutzen kann, damit ein Dialog auch mit dem und über das Material möglich ist. Mir war wichtig, dass die Fernunterrichtsphase am Ende nicht dazu führt, dass die Schüler wieder ins Abarbeiten von Vorgaben zurückkippen. Sondern, dass wir wieder gemeinsam aktiv werden. Also Aufgaben selbst bewerkstelligen. Impulse oder Problemstellungen gemeinschaftlich angehen. Erst am Ende dieser Sequenz bekommen die Schüler es von mir dann als Erklärvideo zugeschickt. 

    Übernehmen Ihre Kollegen in der Schule das Konzept?

    Ja, allerdings war das Problem, dass der Druck der Eltern bei Corona ein bisschen groß war, den Unterricht einfach stumpf herunter zu streamen. Didaktisch sind sechsstündige Videokonferenzen aber sicher nicht der heilige Gral der Welt der Bildung – um es freundlich zu sagen. Manchen Kollegen fiel es schwer, diesem Druck standzuhalten.

    Nochmal zum Anfang zurück: welchen Tipp geben sie für guten Videounterricht?

    Der Punkt ist, dass man das Arbeitsmaterial rhythmisiert. Und es nicht einfach nur 1:1 von analog nach digital kopiert, dann wäre nichts gewonnen.

    Was ist der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen?

    Der Clou ist – das sollte man sich immer vor Augen halten – dass wir kompetenzorientierten Unterricht wollen. Das heißt, der Schüler soll im Mittelpunkt des Machens und des Lernens stehen. Diesen Schritt muss ich gehen. Unterricht heißt nicht einfach, wie das in Zeitungen und Talkshows gern verkündet wird, dass man sich vor ein Video setzt und dabei irgendetwas lernt. Lernen muss facettenreich sein, es muss mehrere Zugänge bieten und es muss auch redundant sein. Damit jeder Schüler seine Form des individuellen Lernens finden und bewerkstelligen kann.

    Könnten Lehrer nicht einfach Videos von Startups benutzen?

    Ja, das geht, wenn man es intelligent einsetzt – und die Kompetenzorientierung nicht vergisst. 

    Welche Videolehrer würden sie empfehlen? 

    Vielleicht nicht Simpleclub, weil deren Sprache ist nicht die, die ich im Unterricht verwenden möchte. Ich finde Daniel Jung gut, ich finde den Lehrer Schmidt gut, jeden auf seine Weise. Und Sofatutor macht sich einfach extrem viele gute didaktische Gedanken mit einem Story-Board und viel pädagogischem Drumherum. Eine Rangliste würde ich aber nicht aufstellen wollen. Wenn die Schüler für sich das beste Video finden, dann ist es das Beste. Ganz egal, ob es mir gefällt.

    Mehr zum Thema

      • Sofatutor
      • Software
      • Technologie

      Hackathon: Erst Achtsamkeit – dann Soziokratie

      Ein Kirchentag hat zu Anfang seine Morgenandacht. Der Hackathon “Wir für Schule” hat Vera Kaltwasser. Die ehemalige Lehrerin lehrt jetzt nur noch Achtsamkeit – und hat dafür noch viele andere Schlüsselwörter im Gepäck, die gebildete Gelassenheit transportieren. Wie innere Ruhe und Körperwahrnehmung. Mit ihr beginnen die Tage des Hackathons morgens um halb neun zunächst mit dem richtigen Atmen. 

      Kaltwasser hat das Curriculum Achtsamkeit in der Schule – kurz AiSchu – entwickelt. Dahinter steckt eine “Haltung des bewussten Seins”, sagt sie. “Wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht diese innere Ruhe haben, dann übertragen sie das auf die Schüler.” Kinder, die nur noch auf Reize reagieren, die auf sie einstürzen – sumsende Handys etwa – kommen gar nicht mehr in den Genuss zu sehen, dass es auch ohne geht. Wie Kinder lernen, dem Impuls des Nachschauens zu widerstehen, wenn eine Nachricht eingeht, das ist eine von Kaltwassers wichtigsten Lektionen. “Wir laufen zu oft auf Autopilot”, sagt sie. Das ist nicht gut. So geschehen Dinge unbewusst, die durch bewusstes Handeln gesteuert werden sollten. 

      Nachhaltigkeit und Soziokratie in den Good Practices

      Am späten Mittwochnachmittag moderierten Kati Ahl und Lisa-Marie Waßmer durch die tägliche Vorstellung der Good Practices. Zwei der vielen Beispiele, die hier gesammelt werden, wurden vorgestellt. Andrea Hecking vom Ehrenbürg-Gymnasium Forchheim sprach über eine Zukunftswerkstatt, die sich mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen beschäftigte und Eike Garbe von der Aktiven Schule Leipzig erzählte, wie ihre Schule zu einer soziokratischen wurde.

      Bildung für nachhaltige Entwicklung, kurz BNE, soll “Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln” befähigen, sagt das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Im bayerischen Forchheim wollte man diesen Ansatz mit der Berufsorientierung verbinden. Die so vermittelten Zukunftskompetenzen seien “im Berufsleben von entscheidender Wichtigkeit”, sagt Andrea Hecking. Konkret bedeutete das für den 9. Jahrgang in Forchheim: zwei Tage Input und Coaching, drei Tage arbeiten am eigenen Nachhaltigkeitsprojekt. Fazit: “Die Begeisterung für BNE ist ansteckend.” Hecking ist zufrieden mit dem Projekt, dass ohne Lockdown und den so ausgefallenen Praktika nie stattgefunden hätte. Ihr Tipp für Nachahmer: Klein anfangen – dabei entdeckt man meistens mehr Mitstreiter, als man vermutet hätte.

      Etwas ganz Anderes stelle Eike Garbe aus dem Vorstand des Trägervereins der Aktiven Schule Leipzig vor. An Ihrer Schule gab es Konflikte und Ineffizienzen, die sich mit den “bekannten Entscheidungsmethoden” nicht hatten lösen lassen. Eine Arbeitsgruppe sollte nach Lösungen suchen und fand sie in der Soziokratie. Das ist eine Organisationsform, die die Gleichwertigkeit ihrer Teilnehmer:innen voranstellt, sich als agil versteht und die Zusammenarbeit “leichter, effizienter und zugleich auch intelligenter und freudvoller” machen kann – sagt das Soziokratie Zentrum Österreich. Laut Eike Garbe hat es 3-4 Monate gedauert, bis die ersten unterstützenden Effekte des neuen Modells an ihrer Schule Wirkung gezeigt haben. Ärger und Konflikte gebe es natürlich immer noch, doch nun habe man Möglichkeiten, damit umzugehen. Auch für Bewerber:innen, vor allem junge, sei das soziokratische Entscheidungsprinzip ihrer Schule attraktiv. Für andere Organisationen und Firmen könnte das Konzept interessant sein. Garbe berichtet, dass sich die Gesamtzeit ihrer Meetings drastisch reduziert hätte. Christine Keilholz/Enno Eidens

      Mehr zum Thema

        • Hackathon
        • Unterricht

        News

        Forscher testen virtuelles Klassenzimmer

        Bisher verstand man unter einem virtuellen Klassenzimmer, wenn Schüler in einer Schulcloud oder auf einer Plattform zusammen arbeiten. In einem neuen Forschungsprojekt der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird nun das echte virtuelle Klassenzimmer getestet – mit virtueller Realität, die mittels VR-Brillen erzeugt wird. Der Jenaer Erziehungswissenschaftler Alexander Gröschner will erforschen, wie virtuelle Realität die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern bereichern kann – und damit auch den Schulunterricht. “Wir wollen herausfinden, wie sich die Bearbeitung von Aufgaben in der sogenannten Virtual Reality – in die angehende Lehrpersonen mittels Brille und zwei Controllern eintauchen – auf den Lernerfolg und die Emotionsregulation während des Lernens auswirkt”, sagte Gröschner, der auch in der Jury des Deutschen Schulpreises sitzt. Die Studie werde unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus Finnland, Israel, der Türkei und den USA durchgeführt. 

        Für die Studie begeben sich vorrangig Lehramtsstudierende in die virtuelle Realität und nehmen Lerninhalte aus dem Mint-Bereich auf, also aus Fächern wie Biologie, Chemie und Mathematik. So könnten sie mit einem am MIT entwickelten Programm an einem virtuellen Arbeitsplatz die exponentielle Ausbreitung von Sars-CoV-2 nachverfolgen. Die Forscher beobachten währenddessen, wie sich die Testpersonen im virtuellen Raum bewegen, wohin sie schauen, wie sie sich orientieren und welche Hilfsmittel sie verwenden. Anschließend sollen über Interviews und Fragebögen die persönlichen Eindrücke der Teilnehmer eingefangen werden. 

        VR-Brillen könnten an Schulen demnächst Realität werden und den Unterricht bereichern, glaubt Gröschner. Neben der Vermittlung von Inhalten könnten Lehrkräfte mit digitalen Hilfsmitteln auch stärker auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus von Schülern eingehen. “Nicht zuletzt der Unterricht während der Pandemie hat gezeigt, dass wir stärker in den Blick nehmen müssen, wer welche Förderung benötigt”. red

        Mehr zum Thema

          • Schulpreis
          • Software
          • Technologie

          Makerspace

          Naklario – lernen wie beim Chatroulette

          Schüler, die zur Nachhilfe gehen, laufen noch immer Gefahr, stigmatisiert zu werden. Sebastian Scott will das ändern. Mit einem jungen Team von Studierenden hat sich der 24-jährige BWL-Student auf den Weg gemacht, Schüler-Nachhilfe neu zu denken. Gemeinsam entwickelten sie die Online-Plattform Naklario. Im März 2020, wenige Tage, nachdem in Deutschland die ersten Schulen wegen des Coronavirus schließen mussten, traf sich das Team erstmals beim #WirVsVirus-Hackathon, den die Bundesregierung zusammen mit privaten Initiativen veranstaltete. Ein Wochenende tüftelten sie an der Idee einer Plattform, die kostenlose “Nachhilfe auf Knopfdruck” ermöglicht. Inspiration lieferte ausgerechnet der Online-Klassiker Chatroulette.  

          Das Prinzip ist simpel: Ein Schüler sitzt allein am Schreibtisch, beide Elternteile sind auf Arbeit, und er verzweifelt an einer Algebra-Aufgabe. Statt das Matheheft frustriert in die Ecke zu werfen, meldet er sich bei Naklario an und wird direkt – per Audio oder Video – mit einem Tutor verbunden, der gleichzeitig online ist und helfen kann. Egal ob Rentner oder Unternehmensberater: Jeder der rund 750 ehrenamtlichen Tutoren kann so viel Zeit investieren, wie es der eigene Kalender zulässt. So sehe das “Ehrenamt der Zukunft” aus, meint Scott.

          Aktuell stehen den Schülern wöchentlich 1.500 halbstündige Lernsessions zur Verfügung, die spontan oder bereits einige Tage vorher gebucht werden können – auf Wunsch auch immer wieder mit dem gleichen Tutor. Im Hintergrund arbeitet ein Algorithmus, der je nach Klassenstufe, Fach, Schultyp und Bundesland die Tandems automatisch vernetzt. Auf der Website heißt es, bei naklar.io engagieren sich nur “geprüfte ehrenamtliche Tutor:innen”. Was fehlt: Fachliche Eignung oder pädagogische Kompetenzen überprüft das junge Startup nur oberflächlich – anders als bei etablierten, meist kommerziellen, Nachhilfeinstituten. 

          Punktuelle Lernbegleiter

          Die Tutoren bereiten keine didaktisch aufbereiteten Nachhilfestunden vor, in denen der Schulstoff zielgerichtet wiederholt wird, sondern sind vielmehr Lernbegleiter, die punktuell Hilfe anbieten. Doch kann das funktionieren? Jürgen Neumann überzeugt das Konzept: “Die Plattform ist der Hammer”, sagt der studierte Mathematiker und Physiker, der seit etwa vier Monaten in seiner Freizeit Nachhilfe gibt – manchmal von zu Hause, manchmal vom Büro bei Siemens aus. An einem Montagabend wird der 49-Jährige mit Sara-Sophie “gematched”. Die Sechstklässlerin ist vom Schultablet zugeschaltet und hat Matheterme mitgebracht. Ein Klick und wenige Sekunden später erscheint ein Screenshot aus ihrem Aufgabebuch auf dem Bildschirm. “Ich muss das einfach noch vertiefen”, sagt sie. Los geht’s. 

          Eine halbe Stunde jonglieren die beiden mit Brüchen, Punkt-vor-Strich- und Klammerregeln. Term für Term lösen sie die Aufgaben – gemeinsam, im Dialog. Textfelder werden befüllt und mit digitalen Buntstiften kritzeln die beiden in das Arbeitsheft. Sara-Sophie rechnet, Jürgen Neumann unterstützt, wenn es hakt. “Das macht mir einfach Spaß”, sagt er – ein Motiv, das wohl viele der ehrenamtlichen Tutoren teilen. Die Plattform sei “super einfach und super zugänglich” aufgebaut, damit auch Kinder aus sozial benachteiligten Milieus schnell Hilfe erhalten, betont Initiator Scott. Ob das gelingt, ist allerdings noch unklar. Statistiken, welche Schüler das Angebot besonders nutzen, entstehen gerade erst. 

          Und wo erreicht man Schüler im Jahr 2021? Richtig, auf Tiktok. Allein mit zwei ihrer Clips erzielte das junge Team über 800.000 Aufrufe. Etwa 7.500 Schüler nutzen Naklario aktuell. Nachhilfe, nur in “cool”, sagt Scott. Eine zweite Säule sind Kooperationen: Neben dem sächsischen Kultusministerium nutzt auch das Kinder- und Jugendwerk “Die Arche” das Tool – mit Erfolg. Dank naklar.io könnten auch in Pandemie Kinder aus sozial benachteiligte Familien Nachhilfe erhalten. “Ich kann mit meinem Programm ins Wohnzimmer kommen”, sagt Arche-Vorstand Bernd Siggelkow im Gespräch mit Bildung.Table. Ein Bildungsträger mit jahrzehntelanger Erfahrung und ein junges Startup, dass das passende Online-Tool entwickelt: Davon profitierten beide Seiten, betont Siegelkow. “Wir müssen das Rad nicht immer neu erfinden.” Moritz Baumann

          Mehr zum Thema

            • Software
            • Technologie

            Didaktik & Tools

            Barcamp – asynchron

            Was bringt ein asynchrones Barcamp?

            Nele Hirsch: Ein Barcamp ist ein Open-Space-Format, bei dem die Teilnehmenden selbst das Programm gestalten. Es gibt im Bildungsbereich inzwischen verschiedene Präsenz- und Online-Varianten. Gegenüber klassischen Lernangeboten, bei denen Veranstalter:innen – meist lange im voraus – das Programm festlegen, haben sie einen Vorteil: dass sich alle genau mit den Fragen, Herausforderungen und Themen beschäftigen können, die für sie relevant sind – auch sehr spontan. Keine Person kann am Ende beklagen, dass ihr Thema nicht dran kam. Denn dann hätte sie einfach einen Workshop, “Session” genannt, dazu anbieten können.

            Jöran Muuß-Merholz: Ein asynchrones Barcamp findet zeitversetzt, also ohne gemeinsame Termine statt. Damit wird das Barcamp-Prinzip des selbstbestimmten Lernens verstärkt: Ich lerne nicht nur, was ich will, sondern auch, wann und solange ich will. Das asynchrone Barcamp legt nur einen gemeinsamen Zeitrahmen fest. Bei den #edunauten waren es zwei Wochen …

            Hirsch: … und in dieser Zeit gab es 40 Sessions, gut 400 Beiträge auf der Plattform und zahlreiche weitere Diskussionsstränge auf externen Plattformen.

            Muuß-Merholz: Die Bandbreite der Themen war enorm! Von “Digitale Achtsamkeit”, “Zeitgemäße Fehlerkultur” über “Berufsorientierung” bis zur konkreten Arbeit an Podcast-Reihen und virtuellen Whiteboards.

            Welche Voraussetzungen brauchen Lehrkräfte?

            Hirsch: Technisch ist die Durchführung eines asynchronen Barcamps und die Beteiligung daran sehr niederschwellig möglich. Bei den #edunauten handelte es sich ja beispielsweise nur um einzelne Blogbeiträge (im Barcamp-Sprech: “die Sessions”), die dann über die Kommentarfunktion unter dem Beitrag kommentiert wurden. Herausfordernder ist es, sich Zeit für aktive Beteiligung einzuplanen und die Motivation aufrecht zu halten. Das ist natürlich einfacher, wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem festgelegten Thema lernt. Allerdings fehlt es dann oft an Selbstbestimmung und Relevanz für die eigene Arbeit. 

            Muuß-Merholz: Außerdem setzt es voraus, dass es überhaupt das passende Fortbildungsangebot gibt und man daran teilnehmen kann. Ein asynchrones Barcamp kann als Symptom dafür gesehen werden, dass “Fortbildung” viel stärker mit dem Arbeitsalltag verwoben stattfindet. Das bedeutet: Fortbildung ist nicht mehr an gesonderten Tagen und gesonderten Orten mit gesonderten Leuten. Die Leute bilden sich “einfach so” fort, ohne auf die Fortbildungsangebote “von oben” zu warten. Die Praxis nimmt ihre Fortbildung selbst in die Hand.

            Was bleibt vom asynchronen Barcamp, wenn Schule wieder analog wird?

            Muuß-Merholz: Ich gehe nicht davon aus, dass mit dem Ende der Schulschließungen Online-Fortbildungen verschwinden werden. Viele werden die in der Corona-Zeit kennengelernte Flexibilität weiterhin einfordern. Das Veranstaltungsformat eines asynchronen Barcamps kann und sollte deshalb auch zukünftig genutzt werden. Das gilt umso mehr, da die Umsetzung nur wenig Aufwand bereitet und es sehr vielfältige Anpassungsmöglichkeiten in Bezug auf die genaue Ausgestaltung gibt.

            Hirsch: Das Format eines asynchronen Barcamps kann sicherlich auch für Lehrerfortbildungen oder für pädagogische Tage an einzelnen Schulen angepasst und genutzt werden. Auch wäre es denkbar, es begleitend zu eher klassisch angelegten Fortbildungen anzubieten, die über einen längeren Zeitraum laufen. Eine Teilnehmerin bei den #edunauten hat beispielsweise schon angekündigt, ein asynchrones Barcamp als Methode für die Lehrkräfte-Ausbildung auszuprobieren.

            Profi-Tipp

            Wer ein asynchrones Barcamp selbst durchführen will, kann von den Erfahrungen der #edunauten lernen. Auch im Nachhinein stehen alle Informationen zur Durchführung und Inhalte der Sessions sowie der Austausch dazu online. Man findet alles auf der Website edunauten.de.

            Kritik

            Die Kehrseite der Flexibilität und Offenheit eines asynchronen Barcamps ist, dass eine synchrone Veranstaltung natürlich eine ganz andere Stimmung und Dynamik entwickeln kann. Zudem kann es irritierend wirken, dass Mitlernende nur dann sichtbar sind, wenn sie sich aktiv beteiligen. Vor diesem Hintergrund ist ein asynchrones Barcamp sicherlich kein Ersatz für synchrone Barcamps.

            Nele Hirsch berät in ihrem eBildungslabor Lehrer:innen und Schulen. Sie ist aktiv in der Bewegung für Open Educational Resources (OER). Von 2005 bis 2009 war sie Bundestagsabgeordnete und bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion.

            Jöran Muuß-Merholz ist OER-Experte und betreibt die Agentur Jöran & Konsorten, die für Stiftungen und Ministerien Bildungsveranstaltungen organisiert und moderiert. 

            Das Interview steht unter der Lizenz CC BY 4.0.

            Mehr zum Thema

              • Barcamp
              • Fortbildung
              • Lehrer
              • Technologie
              Licenses:
                • Nach der Pandemie: Digital-Kompetenz droht zu versiegen
                • Interview mit Lehrer Sebastian Schmidt über den flipped classroom
                • Hackathon, Tag Drei: Erst Achtsamkeit – dann Soziokratie
                • Forscher testen virtuelles Klassenzimmer
                • Makerspace: Naklario – lernen wie beim Chatroulette
                • Didaktik & Tools: Nele Hirsch und Jöran Muuß-Mehrholz über asynchrone Barcamps
                Liebe Leserin, lieber Leser,

                Heute beginnen wir damit, tiefer in digitale Lehr- und Lernmethoden einzusteigen. Sebastian Schmidt ist der bekannteste Lehrer, der Erklärvideos nicht nur dreht, sondern auch im täglichen Unterricht nutzt – und das schon seit 2013. Schmidt ist in der Szene berühmt geworden für seinen flipped classroom, und wir wollten wissen, was den Esprit dieses umgedrehten Klassenzimmers ausmacht. Und ob es sich verändert hat. Hat es. Wie und warum, das erklärt der Träger des Deutschen Lehrerpreises von 2019 im Interview.

                Die pädagogische Digitalisten-Szene veranstaltet in dieser Woche ein Event nach dem anderen, seien es Lehrerfortbildungen oder Barcamps oder den Digitaltag am morgigen Freitag. Einerseits. Andererseits scheinen die Kultusminister sich wieder ganz auf analoge Schule vorzubereiten. Falk Steiner hat sich in den Ländern umgehört, was von den hybriden Lernmodellen und den Videokonferenzen nach dem Sommer wohl übrig bleibt.

                Am Samstag findet das online-Barcamp des Instituts für zeitgemäße Prüfungen statt – eines der interessantesten Projekte. Lehrer beraten und bestärken sich gegenseitig, wie man die Wurzel der Schule verändern kann: das Prüfungsunwesen. Aber was ist ein Barcamp überhaupt? Dazu gibt es heute ein Didaktik & Tools von einer originellen Variante der Unkonferenz: dem ersten asynchronen Barcamp, das die Edunauten gerade abgehalten haben.

                Der Hackathon “Wir für Schule” nähert sich seinem Höhepunkt, der Vorstellung der Projekte, die in den Teams entstanden sind. Unsere Hack-Reporter haben sich die Leuchttumschulen angesehen, die dort vorgestellt werden, und das Achtsamkeitstraining, das jeden Morgen angeboten wird. Schulreform soll disruptiv sein – und achtsam. Und wir haben noch ein Siegerprojekt von “Wir für Schule” aus dem letzten Jahr besucht: Naklario, ein Nachhilfe-Startup.

                Ihr
                Christian Füller
                Bild von Christian  Füller

                Analyse

                Digital-Kompetenz droht zu versiegen

                Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres spricht von einem “Schub für die Digitalisierung”. Auch das bayerische Kultusministerium zieht gegenüber Bildung.Table eine “insgesamt positive Bilanz”. Dennoch könne “auch guter digitaler Distanzunterricht den Präsenzunterricht nicht vollständig ersetzen.” Das hatte wohl niemand vor, aber eine sinnvolle Weiternutzung der Tools und Technik, die nun angeschafft sind und auch noch werden, die wollen alle Verantwortlichen erreichen. Nie waren die Voraussetzungen für hybrides Lernen besser, bei dem digitale Lehr- und Lernmittel und angepasste Unterrichtskonzepte zum Einsatz kommen.

                Die Aufrüstung läuft

                Denn in der Pandemie haben die Bundesländer die Schulen, Lehrer:innen und Schüler:innen technisch aufgerüstet. Von den 6,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt Schule wurden bis Februar 1,363 Milliarden Euro verplant oder ausgegeben. Und noch scheinen die Bundesländer im Shoppingmodus. Allein Bayern schaffte aus Bundes- und Landesmitteln bislang 360.000 Laptops und Tablets für seine 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche an Allgemeinbildenden Schulen an (Verhältnis 1:4). Das kleinere Berlin schaffte gut 50.000 Endgeräte für seine 366.000 Schüler:innen an (Verhältnis 1:7). Und die Bundesländer planen weitere Gerätekäufe. Schleswig-Holstein, das kommende Woche in die Sommerferien geht, will zum Beispiel allen Lehrer:innen zeitnah dienstliche Endgeräte zur Verfügung stellen, Berlin rollt 37.000 Tablets an Lehrkräfte aus. Die Geräte kommen, und manch Pädagoge scheint darauf nur zu warten.

                Auch der Fortbildungswille der Lehrkräfte scheint immer noch groß. Bayern verweist stolz auf 170.000 Teilnehmer:innen seit September 2020 allein bei den Fortbildungsangeboten der Stabsstelle für Medien, Pädagogik und Didaktik der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung. Schleswig-Holstein freut sich bei 28.000 Lehrkräften im Land über 23.000 Lernmodul-Nutzungen mit ähnlicher Ausrichtung. Klar, wo Licht ist, ist auch Schatten: Das Weiterbildungskonzept der Berliner Bildungsverwaltung befindet sich derzeit laut der Senatsverwaltung für Bildung noch in Abstimmung mit den Personalvertretungen. Aber auch an anderer Stelle werden Ausbau und Verstetigung weiter vorangetrieben: Schleswig-Holstein verlängerte erst vor wenigen Tagen den Vertrag mit dem Lernplattformanbieter Itslearning um drei Jahre, um den Schulen Planungssicherheit zu geben und andere Bundesländer planen hier ebenfalls mittel- bis langfristig. Und auch bei der oft umstrittenen Frage, wer Wartung und Betrieb sicherstellt, haben sich inzwischen in den meisten Ländern und Kommunen Lösungen gefunden.

                Die Aufgabe ist klar – doch wo sind Lösungen?

                Es tut sich also einiges, um die digitalen Möglichkeiten zu verstetigen. Doch sind Endgeräte und Lernplattformen noch keine integrierten Bildungskonzepte für die Präsenzschule. Wie aber sollen die aussehen? Und wer soll diese umsetzen? “Es braucht eine sinnvolle Didaktik für die Bildung in der digitalen Welt. Um diese konzeptionell in den einzelnen Fächern umzusetzen, müssen die Lehrkräfte Zeit, Beratung und Unterstützung bekommen”, fordert Maike Finnern, die neue Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf Anfrage von Bildung.Table. Hier seien die Kultusministerien gefragt.

                Genau das hat Bildung.Table bei einigen getan. Man habe “einen Schulversuch “Digitales Lernen” auf den Weg gebracht, der von der Humboldt-Universität wissenschaftlich begleitet wird und sich genau mit diesen Fragen beschäftigen soll”, vermeldet Berlins Bildungsverwaltung. Drei Jahre soll der dauern. Man sei “prinzipiell der Auffassung, dass man die gemachten Erfahrungen von Schule in der digitalen Welt weiter nutzen soll.” Schleswig-Holstein muss bei der Umsetzung auch auf den Eigenantrieb der weitgehend lehrmittelautonomen Lehrer:innen zwischen Nord- und Ostsee hoffen. Und Bayern teilt mit, dass schon vor der Pandemie der Unterricht oftmals digital gestützt stattgefunden habe – mit Whiteboards und Tablets. Das klingt eher nicht nach Ambitionen und Aufbruchstimmung, sondern eher nach postpandemischer Erschöpfung.

                Neue Normalität oder Zurück zum Alltag

                Und genau das ist die derzeit größte Gefahr: Die zeitweise neue Normalität droht durch die alte Realität vollständig überlagert zu werden. Die Erfahrungen mit digitalem Distanzunterricht drohen nach den Ferien und im Präsenzalltag verloren zu gehen, wenn sie nicht schnell gezielt und nachhaltig in vorhandene Bildungskonzepte, Rahmenlehrpläne und Fachdidaktiken integriert werden. Ohne Schulschließungen ist der Druck auf die Verantwortlichen spürbar zurückgegangen.

                Während der Pandemie hatte sich gezeigt: Es war vor allem sozioökonomischer Zufall, der darüber entschieden hat, ob Kinder und Jugendliche zu Hause die technischen, wohnlichen und familiären Voraussetzungen für ein funktionierendes Distanzlernen vorfinden konnten. Und es war Zufall, ob die jeweiligen Lehrkräfte Zugriff auf adäquate Technik und die entsprechenden Schüler:innen hatten und damit die Voraussetzungen für intensives Distanzlernen mit neuen Methoden hatten und dieses angewandt haben. 

                Zufall aber ist kein Konzept für Zukunft. Die GEW warnt vor ungleichen Bedingungen für die Schulen und damit für die Schüler:innen. Diese Gefahr betrifft alle Ebenen – Zugang, Ausbildung, Endgeräte, Wartung, Plattformen. Doch ohne schulalltagstaugliche Nutzungskonzepte hilft das nichts. Und viele der schönen neuen Geräte würden bald als Backsteine zwischen Knetmasse und Lehrer:innenzimmer-Kaffeevorrat enden. Eine weitere Digitalisierungsrunde dürfte dann Jahre auf sich warten lassen. Denn wenn die Nutzung im kommenden Schuljahr erwartbar massiv zurückgehen wird, während die Staatseinnahmen gewaltigen neuen Schuldenbergen gegenüberstehen, dürfte auch die Frage schnell aufkommen: Handelt es sich bei den hier verausgabten Milliarden um wirklich gut investiertes Geld? Falk Steiner

                Mehr zum Thema

                  • Digitalisierung
                  • Endgeräte
                  • Technologie
                  • Unterricht

                  “Schüler müssen zu Produzenten werden”

                  Sebastian Schmidt: Erfinder des "flipped classroom".
                  Pädagoge und Flipped-Classroom-Erfinder Sebastian Schmidt

                  Herr Schmidt, Sie arbeiten schon seit vielen Jahren mit dem Instrument, das jetzt in aller Munde ist: Lernvideos. Welche Tipps haben Sie für ihre Kolleg:innen, damit sie diesen Kulturwandel hinbekommen? 

                  Da trägt sich tatsächlich ein Kulturwandel zu. Man übersetzt Stoffe und Themen ins Digitale, um den Fernunterricht in Distanz hinzubekommen. Während Corona hat man überwiegend auf das Medium Video gesetzt. Das Problem von Videos ist, dass sie dem Schüler suggerieren, dass er’s kann. Aber leider ist das nicht immer der Fall. “Ich kann’s” heißt leider oft: “Ich kann’s eigentlich nicht selber”.

                  Wie lösen Sie das Problem dieses Scheinwissens?

                  Wir, genauer Schüler, brauchen zum Lernen ein bisschen mehr als den einen Lernzugang über das Video. Ich setze beim Lernen auch auf Erklär-Videos – allerdings kombiniert mit vielen anderen Elementen. Schüler lernen am besten, wenn sie etwas selber machen, wenn sie auch selber Fehler machen. Deswegen muss etwas anderes stattfinden, ehe das Video kommt.

                  Früher haben Sie die Videos zum Vorbereiten des Unterrichts benutzt. Jetzt zur Nachbereitung. Woher kommt der Sinneswandel?

                  Ich habe in den letzten Jahren am Medium Video ganz viel gelernt – über Technik. Aber auch über mich und über die Inhalte, die ich darin verarbeitet habe. 

                  Was ist Ihre entscheidende Lehre gewesen?

                  Ein Erklärvideo zeigt uns, wie etwas geht. Das mag für praktische Fragen wie das Einsetzen einer Druckerpatrone oder eine neue Stichsäge gut sein. In der Schule passt das nicht immer. Da geht’s um grundsätzliche Fragen und Lernprozesse. Und deshalb hat sich meine Video-Philosophie im Laufe der Zeit geändert: Meine Klassen verwenden das Erklärvideo fast nur noch zum Nachbereiten. Davor werden die Schüler selbst aktiv und kreativ. Das ist die Magie, die wir unbedingt an die Schüler weitergeben müssen. 

                  Magie?

                  Ja, auch das gibt es in der Schule. Durch die Erstellung von einem Erklärvideo oder durch die Produktion von digitalem Content überhaupt lernen Schüler ganz, ganz viel. Sie müssen selber zu Produzenten werden, das ist der Trick. Es kann nicht sein, dass Distanzunterricht nur vom Konsum lebt. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass Frontalunterricht in der Videokonferenz noch ermüdender und dysfunktionaler wurde als im Klassenzimmer.

                  Die Methode flipped classroom funktionierte bisher genau anders herum: erst Video, dann Klassenzimmer. Nun haben Sie das erneut geflippt. 

                  Mir geht es um Dialog und Eigentätigkeit der Schüler. Um das erste zu erreichen, gebe ich den Lernenden Aufgaben und Themen, die einfach zu machen sind, mit nach Hause. Dann habe ich im Unterricht mehr Zeit für Dialoge und Interaktionen, in denen wir komplexere Themen gemeinsam verhandeln können. Irgendwann habe ich dann, zweitens, gemerkt, dass die Schüler viel mehr können. Das heißt, auch in der – eigentlich – lehrerlastigen Vorbereitungsphase muss nicht immer ich erklären, sondern kann hinführende Aufgaben, Impulse oder Problemstellungen mit nach Hause aufgeben – sodass die Schüler sich mit zeitlichem Versatz Gedanken machen können. 

                  Eine Art Verantwortungsverlagerung mehr und mehr in Richtung Schüler?

                  Ja, und es gibt dafür immer mehr Anlässe, nicht nur die “große” Hausaufgabe, sondern auch viele kleine im Klassenzimmer. Alle paar Minuten gehen die Schüler in Gruppen in den Dialog und kommen dann wieder zurück in den Unterricht, um dort ihre Ideen Preis zu geben. Und zwar sehr oft im Dialog mit den anderen Schülern zusammen. Das heißt, je weniger ich vorher erkläre, desto mehr Erkundungsfreiheit gebe ich ihnen. Deswegen bleibt die Grundidee des flipped classroom ja auch bestehen: Ich drehe das Klassenzimmer um, ich exportiere so viel hinaus, dass drinnen der exklusive Labor- und Gesprächsraum mit mir, dem Lehrer, entsteht. Wenn ich die Predigt vom Anfang an den Schluss lege, dann hilft das den Schülern mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. 

                  Wie lange hat dieses zweite Flippen bei Ihnen gedauert?

                  Ich mache das jetzt seit circa fünf Jahren. Das waren natürlich auch Erfahrungswerte, die ich sammeln musste, etwa, dass dieses ewige “Vorkauen und Nachmachen” mit den Schülern didaktisch nicht immer so ganz sinnvoll ist – und auch mir langweilig wurde.  

                   Kann man ein derart komplexes flipped-Konzept eigentlich umsetzen, wenn die Schüler zu Hause sitzen? 

                  Ja, man muss reden, reden, reden. Das ist die Grundidee, deswegen ist es wichtig, dass man auch über die Distanz zum Dialog kommt. Ich hab am Anfang die Schüler intensiv darin geschult, wie man Partner- und Gruppenarbeit macht. Dazu habe ich alle möglichen virtuellen Klassenräume und Plattformen verwendet, auf denen Schüler sich gegenseitig Sachen hochladen und Feedback geben konnten. 

                  Klingt einfach, aber organisieren die Schüler es dann auch selbst, wenn sie Teams brauchen? 

                  Anfangs nicht, aber das lernen Schüler ganz schnell. Ich hab ganz profan gesagt: Heute geht ihr in die Partnerarbeit, sucht euch jemanden, der Zeit hat, mit euch zu kooperieren. Telefoniert miteinander, tauscht euch aus. Ich habe ihnen Plattformen genannt, die man datenschutzkonform nutzen kann, damit ein Dialog auch mit dem und über das Material möglich ist. Mir war wichtig, dass die Fernunterrichtsphase am Ende nicht dazu führt, dass die Schüler wieder ins Abarbeiten von Vorgaben zurückkippen. Sondern, dass wir wieder gemeinsam aktiv werden. Also Aufgaben selbst bewerkstelligen. Impulse oder Problemstellungen gemeinschaftlich angehen. Erst am Ende dieser Sequenz bekommen die Schüler es von mir dann als Erklärvideo zugeschickt. 

                  Übernehmen Ihre Kollegen in der Schule das Konzept?

                  Ja, allerdings war das Problem, dass der Druck der Eltern bei Corona ein bisschen groß war, den Unterricht einfach stumpf herunter zu streamen. Didaktisch sind sechsstündige Videokonferenzen aber sicher nicht der heilige Gral der Welt der Bildung – um es freundlich zu sagen. Manchen Kollegen fiel es schwer, diesem Druck standzuhalten.

                  Nochmal zum Anfang zurück: welchen Tipp geben sie für guten Videounterricht?

                  Der Punkt ist, dass man das Arbeitsmaterial rhythmisiert. Und es nicht einfach nur 1:1 von analog nach digital kopiert, dann wäre nichts gewonnen.

                  Was ist der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen?

                  Der Clou ist – das sollte man sich immer vor Augen halten – dass wir kompetenzorientierten Unterricht wollen. Das heißt, der Schüler soll im Mittelpunkt des Machens und des Lernens stehen. Diesen Schritt muss ich gehen. Unterricht heißt nicht einfach, wie das in Zeitungen und Talkshows gern verkündet wird, dass man sich vor ein Video setzt und dabei irgendetwas lernt. Lernen muss facettenreich sein, es muss mehrere Zugänge bieten und es muss auch redundant sein. Damit jeder Schüler seine Form des individuellen Lernens finden und bewerkstelligen kann.

                  Könnten Lehrer nicht einfach Videos von Startups benutzen?

                  Ja, das geht, wenn man es intelligent einsetzt – und die Kompetenzorientierung nicht vergisst. 

                  Welche Videolehrer würden sie empfehlen? 

                  Vielleicht nicht Simpleclub, weil deren Sprache ist nicht die, die ich im Unterricht verwenden möchte. Ich finde Daniel Jung gut, ich finde den Lehrer Schmidt gut, jeden auf seine Weise. Und Sofatutor macht sich einfach extrem viele gute didaktische Gedanken mit einem Story-Board und viel pädagogischem Drumherum. Eine Rangliste würde ich aber nicht aufstellen wollen. Wenn die Schüler für sich das beste Video finden, dann ist es das Beste. Ganz egal, ob es mir gefällt.

                  Mehr zum Thema

                    • Sofatutor
                    • Software
                    • Technologie

                    Hackathon: Erst Achtsamkeit – dann Soziokratie

                    Ein Kirchentag hat zu Anfang seine Morgenandacht. Der Hackathon “Wir für Schule” hat Vera Kaltwasser. Die ehemalige Lehrerin lehrt jetzt nur noch Achtsamkeit – und hat dafür noch viele andere Schlüsselwörter im Gepäck, die gebildete Gelassenheit transportieren. Wie innere Ruhe und Körperwahrnehmung. Mit ihr beginnen die Tage des Hackathons morgens um halb neun zunächst mit dem richtigen Atmen. 

                    Kaltwasser hat das Curriculum Achtsamkeit in der Schule – kurz AiSchu – entwickelt. Dahinter steckt eine “Haltung des bewussten Seins”, sagt sie. “Wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht diese innere Ruhe haben, dann übertragen sie das auf die Schüler.” Kinder, die nur noch auf Reize reagieren, die auf sie einstürzen – sumsende Handys etwa – kommen gar nicht mehr in den Genuss zu sehen, dass es auch ohne geht. Wie Kinder lernen, dem Impuls des Nachschauens zu widerstehen, wenn eine Nachricht eingeht, das ist eine von Kaltwassers wichtigsten Lektionen. “Wir laufen zu oft auf Autopilot”, sagt sie. Das ist nicht gut. So geschehen Dinge unbewusst, die durch bewusstes Handeln gesteuert werden sollten. 

                    Nachhaltigkeit und Soziokratie in den Good Practices

                    Am späten Mittwochnachmittag moderierten Kati Ahl und Lisa-Marie Waßmer durch die tägliche Vorstellung der Good Practices. Zwei der vielen Beispiele, die hier gesammelt werden, wurden vorgestellt. Andrea Hecking vom Ehrenbürg-Gymnasium Forchheim sprach über eine Zukunftswerkstatt, die sich mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen beschäftigte und Eike Garbe von der Aktiven Schule Leipzig erzählte, wie ihre Schule zu einer soziokratischen wurde.

                    Bildung für nachhaltige Entwicklung, kurz BNE, soll “Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln” befähigen, sagt das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Im bayerischen Forchheim wollte man diesen Ansatz mit der Berufsorientierung verbinden. Die so vermittelten Zukunftskompetenzen seien “im Berufsleben von entscheidender Wichtigkeit”, sagt Andrea Hecking. Konkret bedeutete das für den 9. Jahrgang in Forchheim: zwei Tage Input und Coaching, drei Tage arbeiten am eigenen Nachhaltigkeitsprojekt. Fazit: “Die Begeisterung für BNE ist ansteckend.” Hecking ist zufrieden mit dem Projekt, dass ohne Lockdown und den so ausgefallenen Praktika nie stattgefunden hätte. Ihr Tipp für Nachahmer: Klein anfangen – dabei entdeckt man meistens mehr Mitstreiter, als man vermutet hätte.

                    Etwas ganz Anderes stelle Eike Garbe aus dem Vorstand des Trägervereins der Aktiven Schule Leipzig vor. An Ihrer Schule gab es Konflikte und Ineffizienzen, die sich mit den “bekannten Entscheidungsmethoden” nicht hatten lösen lassen. Eine Arbeitsgruppe sollte nach Lösungen suchen und fand sie in der Soziokratie. Das ist eine Organisationsform, die die Gleichwertigkeit ihrer Teilnehmer:innen voranstellt, sich als agil versteht und die Zusammenarbeit “leichter, effizienter und zugleich auch intelligenter und freudvoller” machen kann – sagt das Soziokratie Zentrum Österreich. Laut Eike Garbe hat es 3-4 Monate gedauert, bis die ersten unterstützenden Effekte des neuen Modells an ihrer Schule Wirkung gezeigt haben. Ärger und Konflikte gebe es natürlich immer noch, doch nun habe man Möglichkeiten, damit umzugehen. Auch für Bewerber:innen, vor allem junge, sei das soziokratische Entscheidungsprinzip ihrer Schule attraktiv. Für andere Organisationen und Firmen könnte das Konzept interessant sein. Garbe berichtet, dass sich die Gesamtzeit ihrer Meetings drastisch reduziert hätte. Christine Keilholz/Enno Eidens

                    Mehr zum Thema

                      • Hackathon
                      • Unterricht

                      News

                      Forscher testen virtuelles Klassenzimmer

                      Bisher verstand man unter einem virtuellen Klassenzimmer, wenn Schüler in einer Schulcloud oder auf einer Plattform zusammen arbeiten. In einem neuen Forschungsprojekt der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird nun das echte virtuelle Klassenzimmer getestet – mit virtueller Realität, die mittels VR-Brillen erzeugt wird. Der Jenaer Erziehungswissenschaftler Alexander Gröschner will erforschen, wie virtuelle Realität die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern bereichern kann – und damit auch den Schulunterricht. “Wir wollen herausfinden, wie sich die Bearbeitung von Aufgaben in der sogenannten Virtual Reality – in die angehende Lehrpersonen mittels Brille und zwei Controllern eintauchen – auf den Lernerfolg und die Emotionsregulation während des Lernens auswirkt”, sagte Gröschner, der auch in der Jury des Deutschen Schulpreises sitzt. Die Studie werde unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus Finnland, Israel, der Türkei und den USA durchgeführt. 

                      Für die Studie begeben sich vorrangig Lehramtsstudierende in die virtuelle Realität und nehmen Lerninhalte aus dem Mint-Bereich auf, also aus Fächern wie Biologie, Chemie und Mathematik. So könnten sie mit einem am MIT entwickelten Programm an einem virtuellen Arbeitsplatz die exponentielle Ausbreitung von Sars-CoV-2 nachverfolgen. Die Forscher beobachten währenddessen, wie sich die Testpersonen im virtuellen Raum bewegen, wohin sie schauen, wie sie sich orientieren und welche Hilfsmittel sie verwenden. Anschließend sollen über Interviews und Fragebögen die persönlichen Eindrücke der Teilnehmer eingefangen werden. 

                      VR-Brillen könnten an Schulen demnächst Realität werden und den Unterricht bereichern, glaubt Gröschner. Neben der Vermittlung von Inhalten könnten Lehrkräfte mit digitalen Hilfsmitteln auch stärker auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus von Schülern eingehen. “Nicht zuletzt der Unterricht während der Pandemie hat gezeigt, dass wir stärker in den Blick nehmen müssen, wer welche Förderung benötigt”. red

                      Mehr zum Thema

                        • Schulpreis
                        • Software
                        • Technologie

                        Makerspace

                        Naklario – lernen wie beim Chatroulette

                        Schüler, die zur Nachhilfe gehen, laufen noch immer Gefahr, stigmatisiert zu werden. Sebastian Scott will das ändern. Mit einem jungen Team von Studierenden hat sich der 24-jährige BWL-Student auf den Weg gemacht, Schüler-Nachhilfe neu zu denken. Gemeinsam entwickelten sie die Online-Plattform Naklario. Im März 2020, wenige Tage, nachdem in Deutschland die ersten Schulen wegen des Coronavirus schließen mussten, traf sich das Team erstmals beim #WirVsVirus-Hackathon, den die Bundesregierung zusammen mit privaten Initiativen veranstaltete. Ein Wochenende tüftelten sie an der Idee einer Plattform, die kostenlose “Nachhilfe auf Knopfdruck” ermöglicht. Inspiration lieferte ausgerechnet der Online-Klassiker Chatroulette.  

                        Das Prinzip ist simpel: Ein Schüler sitzt allein am Schreibtisch, beide Elternteile sind auf Arbeit, und er verzweifelt an einer Algebra-Aufgabe. Statt das Matheheft frustriert in die Ecke zu werfen, meldet er sich bei Naklario an und wird direkt – per Audio oder Video – mit einem Tutor verbunden, der gleichzeitig online ist und helfen kann. Egal ob Rentner oder Unternehmensberater: Jeder der rund 750 ehrenamtlichen Tutoren kann so viel Zeit investieren, wie es der eigene Kalender zulässt. So sehe das “Ehrenamt der Zukunft” aus, meint Scott.

                        Aktuell stehen den Schülern wöchentlich 1.500 halbstündige Lernsessions zur Verfügung, die spontan oder bereits einige Tage vorher gebucht werden können – auf Wunsch auch immer wieder mit dem gleichen Tutor. Im Hintergrund arbeitet ein Algorithmus, der je nach Klassenstufe, Fach, Schultyp und Bundesland die Tandems automatisch vernetzt. Auf der Website heißt es, bei naklar.io engagieren sich nur “geprüfte ehrenamtliche Tutor:innen”. Was fehlt: Fachliche Eignung oder pädagogische Kompetenzen überprüft das junge Startup nur oberflächlich – anders als bei etablierten, meist kommerziellen, Nachhilfeinstituten. 

                        Punktuelle Lernbegleiter

                        Die Tutoren bereiten keine didaktisch aufbereiteten Nachhilfestunden vor, in denen der Schulstoff zielgerichtet wiederholt wird, sondern sind vielmehr Lernbegleiter, die punktuell Hilfe anbieten. Doch kann das funktionieren? Jürgen Neumann überzeugt das Konzept: “Die Plattform ist der Hammer”, sagt der studierte Mathematiker und Physiker, der seit etwa vier Monaten in seiner Freizeit Nachhilfe gibt – manchmal von zu Hause, manchmal vom Büro bei Siemens aus. An einem Montagabend wird der 49-Jährige mit Sara-Sophie “gematched”. Die Sechstklässlerin ist vom Schultablet zugeschaltet und hat Matheterme mitgebracht. Ein Klick und wenige Sekunden später erscheint ein Screenshot aus ihrem Aufgabebuch auf dem Bildschirm. “Ich muss das einfach noch vertiefen”, sagt sie. Los geht’s. 

                        Eine halbe Stunde jonglieren die beiden mit Brüchen, Punkt-vor-Strich- und Klammerregeln. Term für Term lösen sie die Aufgaben – gemeinsam, im Dialog. Textfelder werden befüllt und mit digitalen Buntstiften kritzeln die beiden in das Arbeitsheft. Sara-Sophie rechnet, Jürgen Neumann unterstützt, wenn es hakt. “Das macht mir einfach Spaß”, sagt er – ein Motiv, das wohl viele der ehrenamtlichen Tutoren teilen. Die Plattform sei “super einfach und super zugänglich” aufgebaut, damit auch Kinder aus sozial benachteiligten Milieus schnell Hilfe erhalten, betont Initiator Scott. Ob das gelingt, ist allerdings noch unklar. Statistiken, welche Schüler das Angebot besonders nutzen, entstehen gerade erst. 

                        Und wo erreicht man Schüler im Jahr 2021? Richtig, auf Tiktok. Allein mit zwei ihrer Clips erzielte das junge Team über 800.000 Aufrufe. Etwa 7.500 Schüler nutzen Naklario aktuell. Nachhilfe, nur in “cool”, sagt Scott. Eine zweite Säule sind Kooperationen: Neben dem sächsischen Kultusministerium nutzt auch das Kinder- und Jugendwerk “Die Arche” das Tool – mit Erfolg. Dank naklar.io könnten auch in Pandemie Kinder aus sozial benachteiligte Familien Nachhilfe erhalten. “Ich kann mit meinem Programm ins Wohnzimmer kommen”, sagt Arche-Vorstand Bernd Siggelkow im Gespräch mit Bildung.Table. Ein Bildungsträger mit jahrzehntelanger Erfahrung und ein junges Startup, dass das passende Online-Tool entwickelt: Davon profitierten beide Seiten, betont Siegelkow. “Wir müssen das Rad nicht immer neu erfinden.” Moritz Baumann

                        Mehr zum Thema

                          • Software
                          • Technologie

                          Didaktik & Tools

                          Barcamp – asynchron

                          Was bringt ein asynchrones Barcamp?

                          Nele Hirsch: Ein Barcamp ist ein Open-Space-Format, bei dem die Teilnehmenden selbst das Programm gestalten. Es gibt im Bildungsbereich inzwischen verschiedene Präsenz- und Online-Varianten. Gegenüber klassischen Lernangeboten, bei denen Veranstalter:innen – meist lange im voraus – das Programm festlegen, haben sie einen Vorteil: dass sich alle genau mit den Fragen, Herausforderungen und Themen beschäftigen können, die für sie relevant sind – auch sehr spontan. Keine Person kann am Ende beklagen, dass ihr Thema nicht dran kam. Denn dann hätte sie einfach einen Workshop, “Session” genannt, dazu anbieten können.

                          Jöran Muuß-Merholz: Ein asynchrones Barcamp findet zeitversetzt, also ohne gemeinsame Termine statt. Damit wird das Barcamp-Prinzip des selbstbestimmten Lernens verstärkt: Ich lerne nicht nur, was ich will, sondern auch, wann und solange ich will. Das asynchrone Barcamp legt nur einen gemeinsamen Zeitrahmen fest. Bei den #edunauten waren es zwei Wochen …

                          Hirsch: … und in dieser Zeit gab es 40 Sessions, gut 400 Beiträge auf der Plattform und zahlreiche weitere Diskussionsstränge auf externen Plattformen.

                          Muuß-Merholz: Die Bandbreite der Themen war enorm! Von “Digitale Achtsamkeit”, “Zeitgemäße Fehlerkultur” über “Berufsorientierung” bis zur konkreten Arbeit an Podcast-Reihen und virtuellen Whiteboards.

                          Welche Voraussetzungen brauchen Lehrkräfte?

                          Hirsch: Technisch ist die Durchführung eines asynchronen Barcamps und die Beteiligung daran sehr niederschwellig möglich. Bei den #edunauten handelte es sich ja beispielsweise nur um einzelne Blogbeiträge (im Barcamp-Sprech: “die Sessions”), die dann über die Kommentarfunktion unter dem Beitrag kommentiert wurden. Herausfordernder ist es, sich Zeit für aktive Beteiligung einzuplanen und die Motivation aufrecht zu halten. Das ist natürlich einfacher, wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem festgelegten Thema lernt. Allerdings fehlt es dann oft an Selbstbestimmung und Relevanz für die eigene Arbeit. 

                          Muuß-Merholz: Außerdem setzt es voraus, dass es überhaupt das passende Fortbildungsangebot gibt und man daran teilnehmen kann. Ein asynchrones Barcamp kann als Symptom dafür gesehen werden, dass “Fortbildung” viel stärker mit dem Arbeitsalltag verwoben stattfindet. Das bedeutet: Fortbildung ist nicht mehr an gesonderten Tagen und gesonderten Orten mit gesonderten Leuten. Die Leute bilden sich “einfach so” fort, ohne auf die Fortbildungsangebote “von oben” zu warten. Die Praxis nimmt ihre Fortbildung selbst in die Hand.

                          Was bleibt vom asynchronen Barcamp, wenn Schule wieder analog wird?

                          Muuß-Merholz: Ich gehe nicht davon aus, dass mit dem Ende der Schulschließungen Online-Fortbildungen verschwinden werden. Viele werden die in der Corona-Zeit kennengelernte Flexibilität weiterhin einfordern. Das Veranstaltungsformat eines asynchronen Barcamps kann und sollte deshalb auch zukünftig genutzt werden. Das gilt umso mehr, da die Umsetzung nur wenig Aufwand bereitet und es sehr vielfältige Anpassungsmöglichkeiten in Bezug auf die genaue Ausgestaltung gibt.

                          Hirsch: Das Format eines asynchronen Barcamps kann sicherlich auch für Lehrerfortbildungen oder für pädagogische Tage an einzelnen Schulen angepasst und genutzt werden. Auch wäre es denkbar, es begleitend zu eher klassisch angelegten Fortbildungen anzubieten, die über einen längeren Zeitraum laufen. Eine Teilnehmerin bei den #edunauten hat beispielsweise schon angekündigt, ein asynchrones Barcamp als Methode für die Lehrkräfte-Ausbildung auszuprobieren.

                          Profi-Tipp

                          Wer ein asynchrones Barcamp selbst durchführen will, kann von den Erfahrungen der #edunauten lernen. Auch im Nachhinein stehen alle Informationen zur Durchführung und Inhalte der Sessions sowie der Austausch dazu online. Man findet alles auf der Website edunauten.de.

                          Kritik

                          Die Kehrseite der Flexibilität und Offenheit eines asynchronen Barcamps ist, dass eine synchrone Veranstaltung natürlich eine ganz andere Stimmung und Dynamik entwickeln kann. Zudem kann es irritierend wirken, dass Mitlernende nur dann sichtbar sind, wenn sie sich aktiv beteiligen. Vor diesem Hintergrund ist ein asynchrones Barcamp sicherlich kein Ersatz für synchrone Barcamps.

                          Nele Hirsch berät in ihrem eBildungslabor Lehrer:innen und Schulen. Sie ist aktiv in der Bewegung für Open Educational Resources (OER). Von 2005 bis 2009 war sie Bundestagsabgeordnete und bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion.

                          Jöran Muuß-Merholz ist OER-Experte und betreibt die Agentur Jöran & Konsorten, die für Stiftungen und Ministerien Bildungsveranstaltungen organisiert und moderiert. 

                          Das Interview steht unter der Lizenz CC BY 4.0.

                          Mehr zum Thema

                            • Barcamp
                            • Fortbildung
                            • Lehrer
                            • Technologie
                            Licenses:

                              Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

                              Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

                              Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

                              Anmelden und weiterlesen