
Herr Muhle, will das Land Niedersachsen den Anbieter des Lernmanagementsystems IServ enteignen?
Natürlich nicht. Der Wirtschaftsminister hat die Firma im Sommer mit fast zwei Millionen Euro unterstützt. IServ ist ein niedersächsisches Startup und gehört bei der Frage, wie wir im digitalen Zeitalter Lerninhalte zur Verfügung stellen, zu den Marktführern in Deutschland.
Sind die 1,9 Millionen Euro für IServ nicht eher ein Trostpflaster? Das Kultusministerium Ihres Landes bevorzugt die Niedersächsische Bildungscloud (NBC) – die Ihrem Vorzeigeunternehmen IServ den Garaus machen könnte.
Nein, die Förderung für IServ ist dazu da, dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen. Das Wirtschafts- und damit das Digitalministerium glaubt an diese Firma. Sie wird auch in Zukunft ein wichtiger Faktor an den Schulen in Niedersachsen sein. IServ hat sich genial entwickelt. Außerdem geht es nicht um ein Gegeneinander. Die Niedersächsische Bildungscloud und IServ kooperieren. Über IServ können Schüler und Lehrer unkompliziert auf die NBC zugreifen.
Warum haben Sie IServ dann nicht zur Landeslösung gemacht, wenn es so genial ist?
Wenn man auf den Ursprung guckt, dann war die Schulcloud…
… das ist der Vorgänger der Niedersächsischen Bildungscloud…
… ja, diese Schulcloud war zunächst ein Forschungsvorhaben des Bundes. Niedersachsen hat sich zu einem frühen Zeitpunkt intensiv an der inhaltlichen Ausrichtung beteiligt, damit sich das in Richtung der Bedarfe des Landes entwickelt. Gleichzeitig ist es wichtig, im Sinne eines innovativen Entwicklungsgedankens für Bildung zunächst wohlwollend auf Vorhaben zu schauen, um Potenziale zu erkennen. Wir haben übrigens bislang nicht viel für die Schulcloud investiert. Auch in Zukunft werden wir das nicht tun.
Weil der Bund das für Sie macht – und damit eine gefährliche Konkurrenz erzeugt.
Uns geht es nicht um Konkurrenz, sondern um Kooperation. Wie können die verschiedensten Dienstleister für Schulen bestmöglich zusammenarbeiten? Das ist unsere Aufgabe. Jedenfalls mache ich diese Beobachtung in Schulen. Die Schulleitungen zeigen mir, wie sie die Systeme miteinander in Verbindung bringen. Nirgendwo gibt es ein einheitliches System. Deswegen sind IServ und die Niedersächsischen Bildungscloud auch in engem Austausch.
Verzeihen Sie, dass ich da so hartnäckig bin, Herr Muhle. Aber das ist eine ziemlich riskante Kooperation. IServ hat mit seinen Schnittstellen die staatliche Bildungscloud überhaupt erst an die Schulen des Landes angestöpselt. Im Gegenzug macht nun der neue Schulcloud-Betreiber Dataport Druck. Auch Kultusminister Tonne tut das. Das bedeutet, IServ hilft erst der Schulcloud auf die Beine – und wird dann hinausgekegelt.
Das mag aus Ihrer Perspektive so aussehen. Für uns gilt nicht nur Markt vor Staat. Wir müssen auch die unterschiedlichen Ausgangssituationen der Schulen in der Pandemie betrachten. Darauf waren weder IServ noch die NBC vorbereitet, alle Schulen gleich gut und auf Anhieb zu versorgen.
Die Bildungscloud war nicht nur nicht vorbereitet, es gab sie praktisch nicht.
Das stimmt, dennoch muss man am Ende die Verantwortung des Landes für seine Schulen betonen. Für mich spielt die Frage der digitalen Souveränität genauso wie das Thema der Datenschutzkonformität eine große Rolle. Wir haben in Deutschland 17 Datenschutzbehörden, die gänzlich unterschiedlich mit bestimmten Anwendungen umgehen. Da ist es in meinen Augen schon eine Aufgabe des Staates, allen Einrichtungen Tools zur Verfügung zu stellen, die funktionieren – und datenschutzkonform sind. Es geht also um lösungsorientierte Ansätze und Whitelists, die Schulen in ihrer Arbeit unterstützen und nicht behindern.
Wäre es dann aber nicht besser, den Datenschützern Beine zu machen?
Wir haben als Wirtschaftsministerium vor über einem Jahr einen Antrag auf den Weg gebracht, beim Datenschutz die Aufsicht in eine Hand zu geben…
… also aus 17 Datenschutz-Behörden eine zu machen?
Ja, genau. Denn es darf nicht mehr eine bayerische und eine saarländische und vielleicht noch eine andere Linie geben, sondern nur eine, die dann aber verlässlich ist. Dafür findet sich aktuell keine Mehrheit. Komplexität ist ein grundsätzliches Problem der Digitalisierung. Wir in Niedersachsen stehen deswegen dafür, den Datenschutz zu vereinheitlichen. Wir wollen, dass die Wettbewerber erfahren, was geht und was nicht geht.
Meinen Sie damit auch das, was Saarlands Regierungschef vorschwebt? Er wollte einen Gipfel der Ministerpräsidenten veranstalten, um per Beschluss Microsoft zu erlauben – obwohl der Datenschutz sich klar dagegen positioniert.
Ich glaube, das sagt viel über Digitalisierungskompetenz. Wir haben in der deutschen Politik noch nicht verstanden, uns über digitale Souveränität zu unterhalten.
Wie halten Sie es als Digitalisierungschef des Landes mit großen US-Anbietern wie Microsoft, die gegen die DSGVO verstoßen?
Wenn wir die digitale Souveränität ernst nehmen, dann können wir nicht dauerhaft auf Produkte wie Microsoft setzen. Wir sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass sie im Moment in den meisten Unternehmen und in manchen Schulen eine wichtige Rolle spielen.
Bereiten Sie, wie Schleswig-Holstein, den Ausstieg aus Microsoft vor?
Schrittweise muss das geschehen, ja. Wenn mir mein IT-Dienstleister sagt, wir bleiben bei Microsoft, dann würde ich sagen: „Das ist jetzt aber der letzte Durchgang. Lass uns dafür sorgen, dass wir mit alternativen Anbietern open source bereitstellen und die niedersächsische Verwaltung so datensicher und -souverän machen.“
Noch einmal zur Schulcloud. Als die Cloud 2016 auf einem IT-Gipfel erfunden wurde, da hat man einfach behauptet, es gebe überhaupt noch keine anderen Schulclouds. Man hat sie schlicht übersehen – obwohl Moodle, Mebis, IServ und so weiter längst da waren.
Ich glaube, das ist insgesamt die größte Herausforderung, dass wir es nicht schaffen, alles auf einer Plattform sichtbar zu machen. Das, was Amazon mit allen möglichen Produkten gelingt, das können wir im Bildungsbereich nicht. In der Verwaltungsdigitalisierung ist das ganz genauso. Besser wäre sicherlich, wenn man ein Portal des Bundes hätte. Ich denke an eine zentrale Maske, hinter der die Schnittstellen alle so gut funktionieren, dass die Systeme ineinander arbeiten.
Erfüllt die niedersächsische Bildungscloud eine solche Funktion?
Ich glaube, es muss ein darüber liegendes System sein. Die Leute wollen eine übergreifende Entität haben, wo sie zum Beispiel alles aus einer Hand bekommen. Damit klar ist, alle Lehrer, Eltern und Schüler können sich über ein Portal vernetzen und in alle einzelnen Systeme einloggen. Oder um alle Lehrerfortbildungen, die es im Land gibt, zentral einsehen zu können.
Ich habe kürzlich einen Beamten aus Ihrem Bundesland gefragt, „warum kaufen Sie sich denn jetzt eigentlich Brockhaus-Online, wenn sie gleichzeitig die zentrale Inhalte-Plattform der Länder namens Mundo bezahlen?“
Was hat der Mann Ihnen gesagt?
Er kannte Mundo nicht: „Das höre ich ja zum ersten Mal, wie heißt dieses Portal nochmal?“
Es wäre natürlich ein Manko, wenn jemand in der Landesverwaltung für Bildung Mundo noch nicht kennt. Und ich hielte es für elementar falsch, in der aktuellen Situation eine Entscheidung für eine kommerzielle Lizenz zu treffen. Aber ich verantworte das nicht.
Sie hatten in Niedersachsen die starke Marke „Molol“, eine Fortbildung für Lehrer, die Strahlkraft in der ganzen Bundesrepublik entwickelt hat. Und plötzlich dreht die Landesverwaltung der „Mobilen Schule Oldenburg“ das Licht aus. Was ist da los?
Dass die Molol letztes Jahr nicht in Präsenz stattfand, das hat letztlich die Pandemie verhindert.
Keine gute Ausrede für die Landesmedienzentren, die den Erfinder der Molol, Andreas Hofmann, offenbar loswerden wollten…
… das ist Spekulation, das weiß ich nicht. Für mich steht fest: Andreas Hofmann hat die mobile Schule wunderbar ins Netz transferiert. Und, so viel darf ich sagen, wir als Digitalministerium wollen die Molol so weiter entwickeln, dass sie ein Digital-Hub für die ganze Bundesrepublik wird. Ich glaube nämlich, das ist das beste System von Fortbildung, was wir im Moment sehen. Lehrer für Lehrer, das ist in meinen Augen unschlagbar.
Organisiert Hofmann auch die Techtide, Ihre Digitalkonferenz Anfang Dezember?
Nein. Founder der Techtide bin ich und veranstaltet wird sie vom niedersächsischen Digitalministerium und der Deutschen Messe AG. Das großartige und vielfältige Programm wird von ehrenamtlichen Digitalenthusiasten aus allen gesellschaftlichen Bereichen in Niedersachsen kuratiert. Mit der Techtide am 1. und 2. Dezember wollen wir nach und nach alle 8 Millionen Niedersachsen erreichen. Wir streamen das ganze Programm von allen Bühnen, für alle ist etwas dabei. Denn: digitale Sensibilität und Kompetenz brauchen wir alle. Und das so schnell wie möglich.