Vor Musikkonzerten gibt meist die Oboe den Kammerton an, den sie an den ersten Geiger und dieser dann an den Rest des Orchesters weitergibt. So sind alle auf 443 Herz eingestimmt und können auf das Zeichen des Dirigenten loslegen. Die öffentliche Debatte ist weit unordentlicher und das Resultat oft eine Kakophonie. Doch wer Nachrichten hört, Schlagzeilen studiert und Online-Angebote durchstreift, bekommt angesichts der Uniformität der veröffentlichten Meinung den Eindruck, jemand habe den Ton, jedenfalls aber das Thema angegeben, in den dann alle, meist kakophon und kontrovers einsteigen.
Nach dem Messerattentat in Solingen am 23. August 2024 und den kurz darauffolgenden Erfolgen der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hieß der Generalton „das Migrationsproblem“, an dessen vermeintlich sofortiger Lösung sich Regierung und Opposition sogleich mit Gipfeltreffen, Pressekonferenzen und Online-Posts machten, die das basso ostinato gefährlicher Einwanderung repetierten.
Prompt etablierten Meinungsumfragen „das Migrationsproblem“ als Spitzenreiter und als Beleg dafür, dass die Orchester-Bevölkerung dieselbe Tonlage hatte wie die Oboistin und der Dirigent. Wer hier wen wie gestimmt hatte, war kaum noch auseinanderzudröseln. Da der Migrationsgipfel scheiterte und sich noch eine Landtagswahl in Brandenburg anschloss, hielt sich „das Megathema Migration“ bis weit in den September hinein am Leben.
Das Beispiel lässt sich für eine allgemeine Medienkritik nutzen. Medien, allen voran das Fernsehen und zunehmend Online-Netzwerke, bestimmen den aktuellen Ton, den Meinungsumfragen dann bestätigen und politische Akteure aufnehmen und wieder zurückspielen. Zu vermuten ist, dass sie sich damit in Abhängigkeit jener begeben, die die Melodie vorgespielt haben, in diesem Fall rechtsradikale Parteien in ganz Europa, die negative Begleiterscheinungen der globalen Migrationsbewegungen plakatieren und ausschlachten. Man muss nur an das Diktum des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland von 2015 erinnern, der meinte: „Etwas Besseres als die Flüchtlinge konnte uns gar nicht passieren“ und dies mit der Ankündigung ergänzte, die anderen Parteien mit eben diesem Thema jagen zu wollen.
Warum ist Migration, womit die meisten Deutschen nur indirekt, vom Hörensagen und aus den Medien konfrontiert sind, Thema Nummer eins? Warum nicht der Klimawandel, der genug aktuelle Ereignisse produziert, warum nicht die soziale Ungleichheit, die sich an drastischen Vermögenskonzentrationen aktuell erläutern ließe, warum nicht Kinderarmut, die klarsehenden Menschen doch ins Auge springen müsste? Warum nicht tatsächliche „Sorgen und Nöte“, von denen die rechten Verführer ständig reden, ohne sie im Mindesten mindern zu können, sie nicht einmal mildern wollen? Und warum geraten verantwortliche Politiker mit rechtlich problematischen und zudem undurchführbaren Abschiebungs- und Abschließungs-plänen außer Rand und Band?
Warum alle, auch wenn sie ganz anderer Meinung sind, ein und denselben Kammerton anspielen, lässt sich mit dem Theorem der kulturellen Hegemonie begründen. Es wird auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zurückgeführt, der sich im faschistischen Gefängnis Gedanken darüber machte, wie eine machtvolle Arbeiterbewegung, die es auf parlamentarischem Wege nicht geschafft hatte, auf kulturellem Wege die Macht gewinnen könnte: indem sie den gesellschaftlichen Ton angibt. Das Theorem wanderte nach 1945 durch eurokommunistische, sozial- und sogar christdemokratische Denkfabriken, um eine Kommunikationskampagne zu entwickeln, die dem Motto folgte: „Die Begriffe besetzen!“
Das gelang der Alten Rechten, die im Rückgriff auf den nützlichen Kommunisten Gramsci zur Neuen Rechten mutierte und ihre bisherige Erfolglosigkeit mit der negativen Besetzung des Begriffs Migration überwinden konnte. Konträre Meinungsäußerungen halten das Thema mit am Leben, so dass man nicht mehr altmodische Propagandatechniken „top-down“ anwenden muss, speziell mit der Ausbreitung von Online-Plattformen, an denen keine Gatekeeper mehr über Faktentreue und ethische Prinzipien wachen und sich Verschwörungstheorien aller Art rasant ausbreiten. Dazu zählt die Wahnvorstellung des Großen Bevölkerungsaustauschs, einer von höchster Stelle angeordneten Umvolkung der weißen Einheimischen durch farbige Immigranten.
Das ist der weitere Resonanzraum einer insgesamt unsachlichen, auf Dissonanz getrimmten Migrationsdebatte. Der arme Antonio Gramsci hat diese Plünderung und Verwendung seiner Ideen nicht verdient. Möglicherweise wohnen wir im Fall der Vereinigten Staaten aber gerade einer Umkehrung bei. Es war wie eine Erlösung, wie der demokratische Parteitag die Tonlage vom düsteren Weltuntergang Donald Trumps zu einer hoffungsvolleren Zukunftsvision Kamala Harris‘ „swichte“.
Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Claus Leggewie ist seit 2016 Inhaber der Ludwig-Börne-Professur und Leiter des „Panel on Planetary Thinking“ an der Universität Gießen.
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