Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 28. März 2024

Wenn Vielfalt ein Deckmantel für Einfalt wird

Vor allem und gerade diejenigen, die sich für Diversität einsetzen, haben ihre eigenen blinden Flecken. Sie übersehen die Nicht-Akademiker, die Älteren, die zwangsweise in Rente gehen müssen, und auch die Männer, die aufgrund von Frauenförderung diskriminiert werden. Darin sieht der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl eine Wurzel des grassierenden Populismus. Hier antwortet er auf Sebastian Turners Beitrag „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Sebastian Turners Auftakt „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“, der erste Beitrag in der Serie „Hacking Populism“ von Table.Briefings, fordert zur Stellungnahme heraus, und zu einem Bekenntnis: Ja, geschätzte Leserinnen und Leser, ich bin ein Teil des Problems – soll heißen: als Kind einer Nicht-Akademikerin und Vater von drei Akademikerkindern eher Problemerzeuger, der obendrein das Privileg hatte, über rund 40 Jahre und damit über mehrere Studentengenerationen hinweg als Journalismus-Professor und Medienforscher im In- und Ausland an der Aus- und Weiterbildung und damit an der Generierung von Akademikerkindern mitwirken zu dürfen. Und auch das noch vorneweg: „Non, je ne regrette rien.“ Aber der Appell, nach blinden Flecken zu suchen, ist bereits für sich gesehen verdienstvoll. Durch meine Brille als Medien- und Journalismusforscher sehe ich solche blinden Flecken vor allem in Redaktionen und im Wissenschaftsbetrieb.

Turner hat mit vielem recht: Die hohen Zustimmungswerte – vor allem im Osten Deutschlands – verdankt die AfD kaum ihrer Eigenleistung. Bei allen Wellen, in denen sie neue Wählerstimmen generieren konnte, haben die Politik der jeweiligen Regierungsparteien und die Medien als Treiber eine große Rolle gespielt, nicht zuletzt, indem viele Medien die zunächst ja „nur“ liberal-konservative AfD von Anfang an stigmatisiert, also in die rechte und immer mehr in die rechtsextreme Ecke getrieben haben. Dort ist sie dann – Stichwort: self-fulfilling prophecy – in Etappen auch, dank der Wirkungen von Medienaufmerksamkeit, mehr und mehr gelandet.

Es stimmt auch, dass diejenigen, die sich um mehr Diversität in unserer Gesellschaft bemühen, häufig auf einem Auge blind sind – und kaum registrieren, wen alles sie in ihrem gutgemeinten Bemühen um mehr Inklusion exkludieren: Nicht-Akademiker sind die große Gruppe, die Turner nennt. Aber es sind beispielsweise auch viele ältere Menschen, die unabhängig von ihrem Gesundheitszustand, ihrer Arbeitsfähigkeit und ihrem Arbeitswillen in aller Regel mit spätestens 65 Jahren zwangsverrentet oder -pensioniert werden – und damit nicht nur der jüngeren Generation oft viel zu früh zur Last fallen, sondern auch ziemlich plötzlich ein Stück weit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. An den Hochschulen haben – zweites Exempel – inzwischen viele junge Männer trotz bester wissenschaftlicher Qualifikation keine Chance, als Forscher festangestellt zu werden. Sie werden mit Anfang 40 Taxifahrer, weil Frauenbeauftragte ebenso wie Forscherkollegen und -kolleginnen dafür sorgen, dass Quoten erfüllt und vorzugsweise Frauen auf Professuren berufen werden.

Genug der Beispiele – die Liste ließe sich endlos fortsetzen, und sie belegt letztlich nur, wie recht der Soziologe Robert K. Merton hatte, als er vor den „unanticipated consequences of social action“ warnte, sprich: vor den Folgen politischer Regulierung – eine Erkenntnis, die sich alle Politiker, die andere gerne bevormunden, weil sie alles besser zu wissen glauben, endlich hinter die Ohren schreiben und nie mehr vergessen sollten. Das gilt fraglos besonders für die zweite Akademiker-Generation, welche die Schaltstellen in unserer Gesellschaft, so Turner, inzwischen „monopolartig“ besetzt hält.

Wie alle prononcierten Diskussionsbeiträge, bedarf Turners Generalthese allerdings der Differenzierung. Zum einen würde ich Zweifel anmelden, dass die heutigen „second generation academics“ tatsächlich „eine ebenso gute Ausbildung wie ihre Eltern durchlaufen“ haben. Da unterschätzt Turner, wie sehr sich das Innenleben der Universitäten und damit ihre Leistungsfähigkeit verändert hat – vor allem seit den Bologna-Reformen.

Genauer besehen, waren ja die Bologna-Maßnahmen bereits eine Reaktion, um vorangegangene Fehlentwicklungen aufzufangen: Als ich selbst 1969 zu studieren begann, waren die großen Universitäten bereits Opfer der überstürzten Expansion unseres Bildungswesens nach dem Sputnik-Schock geworden. „Bildung ist Bürgerrecht“ wurde eingelöst, indem die meisten Unis zur Massenabfertigung und damit zu sinkenden Standards in der Lehre übergingen.

Es gab allerdings noch die ein oder andere Enklave. So entfloh ich den überfüllten Lehrveranstaltungen der Münchner Uni an die neugegründete Universität Konstanz, die damals als „Klein-Harvard am Bodensee“ von Insidern gefeiert und empfohlen wurde. Dort hatte man als Student schon im zweiten oder dritten Semester persönlichen Kontakt zu „seinen“ Professoren – unter ihnen in den Sozialwissenschaften Ralf Dahrendorf, Fritz W. Scharpf, Frieder Naschold und – damals kaum älter als wir Studenten selbst – zu Bruno S. Frey, der mit 29 seine erste Ökonomie-Professur erhalten hatte. Es wurden Ansprüche gestellt, es wurde in den Seminaren ernsthaft diskutiert, es gab Forschung, die durch Lehre gestützt wurde und Lehre, die in Forschung mündete. Diese Renaissance des Humboldtschen Ideals war allerdings von kurzer Dauer – dann versank auch diese Universität im Alltag kaputtexpandierter Hochschulen und im Provinzmief.

Was ich damals bereits von Anthony Downs gelernt hatte, einem Ökonomen, der seine Wissenschaft heranzog, um politische Prozesse zu durchleuchten und den uns Frey nahegebracht hatte: „Democratization of privilege causes congestion“ – wenn man Privilegien demokratisiert, also Vielen zugänglich macht, verändert sich deren Qualität: Es entstehen Übernutzung, Staus und Verstopfung. Ob es beispielsweise zu viele Autos auf den Straßen oder zu viele Studenten an den Hochschulen sind – die Fahrfreude oder das Bildungserlebnis werden beeinträchtigt, wenn mehr Leute Zugang erhalten, als die Infrastruktur verkraftet. Insoweit sind die Akademiker der zweiten Generation nicht nur Nutznießer, sondern auch Opfer der expansiven Bildungspolitik der 70er- und 80er Jahre. Die damaligen Bildungspolitiker hatten ebenfalls ihre blinden Flecken.

Im Fall der Hochschulen haben die Bologna-Reformen dann die alte Universität vollends ruiniert: Durchstrukturierte Curricula, jede Lehrveranstaltung mit einer Prüfung versehen – von akademischer Freiheit ist so gut wie nichts übrig geblieben. Selbst Doktoranden, die zu meiner Promotionszeit in den 70er Jahren noch in „Einsamkeit und Freiheit“ (Helmut Schelsky) fröhliche Wissenschaft betreiben und sich an ihrem Forschungsthema abarbeiten durften, müssen heute vielerorts mehr (und oftmals unsinnige) Lehrveranstaltungen absolvieren, als ihrer eigenständigen Forschung gut tut. Die Second Generation-Akademiker, die inzwischen auch die Lehrstühle erobert haben, stabilisieren so durch ein Übermaß verbindlicher Lehrangebote inneruniversitär ihre Unentbehrlichkeit.

Unterm Strich also viel mehr Bildungsabschlüsse, aber verbunden mit unsäglichen und schwer messbaren Qualitätseinbußen, die auch die Institution Universität selbst zerstören. Selbst Ikonen wie Harvard oder Princeton sind ja inzwischen von Akademikern gekapert, die als Wissenschaftler sich nicht mehr um unvoreingenommene Wahrheitssuche bemühen, sondern als Aktivisten ihre vorgefertigten, vermeintlichen Wahrheiten als „Wissenschaft“ verkünden, ihren Mitmenschen aufoktroyieren und damit die Universitäten als Bastionen wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit gefährden.

Leider, leider haben wir Professoren größtenteils entweder geschlafen oder kollektiv weggeguckt, als dieser Prozess der Zielverschiebung in Gang gekommen ist. Dominant konnte er werden, weil die Universitäten immer mehr von außen gesteuert wurden – sei es durch politische Vorgaben und bürokratische Regulierung, sei es durch Drittmittelvergabe.

Ja, Sebastian Turner hat recht: Neu ist, dass „die gesellschaftliche Führung in ihrer Breite, die regulierende Klasse, […] heute so homogen und umfassend von Akademikern der zweiten Generation geprägt ist, dass andere Lebenswirklichkeiten weitgehend oder vollständig abwesend sind, wenn über das Leben aller Menschen im Land beraten und entschieden wird“. Das allerdings dürfte weit mehr für Führungspositionen im Staat, insbesondere für Bundes- und Landesregierungen und Kommunalverwaltungen sowie für Redaktionen, NGOs und Stiftungen gelten als für Unternehmen. Das wiederum nährt den Verdacht, dass die fachlichen Kompetenzen unter den Entscheidern der Second Generation-Akademiker höchst ungleich verteilt sein dürften, obschon es dazu vermutlich bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen gibt. Meine Hypothese: Es mangelt vor allem im öffentlichen Sektor, in den Bürokratien, aber auch in den Parlamenten und Redaktionen an Wirtschaftskompetenz sowie an Naturwissenschaftlern, Medizinern und Technikern. Auch das ist ein Defizit an Diversität und zugleich ein blinder Fleck in der Wahrnehmung derer, die mehr Diversität fordern. Ein Demokratiefördergesetz, das diesen Namen verdient, würde erst einmal an der Beseitigung solcher Kompetenz-Defizite ansetzen, statt mit Steuergeldern regierungsnahe NGOs und Projekte zu fördern, die unter dem Vorwand der Populismus-Bekämpfung die bestehende „kulturelle Hegemonie“ zementieren sollen.

Wie das zumindest im Journalismus funktionieren könnte, haben wir jüngst mit unserem Büchlein „Deep Journalism“ gezeigt. Sebastian Turner führt es obendrein mit seinem Start-up Table.Media und dessen fachspezifischen Briefings tagtäglich in der Praxis vor. Langfristig käme es allerdings wohl darauf an, an Schulen und Hochschulen dafür zu sorgen, dass Akademiker der zweiten, dritten und vierten Generation an ihren Bildungsstätten unabhängig vom Studienfach ein unabdingbares Minimum an Wirtschafts- und Medienkompetenz vermittelt bekommen. Dafür zu sorgen, dass das geschieht, wäre eine der vornehmsten Aufgaben künftiger Bildungs- und Hochschulpolitik.

Weil das andererseits nicht von heute auf morgen zu leisten ist und im Bildungssektor auch sonst allzu Vieles im Argen liegt, könnten die Medien diese Anstrengungen flankieren: Besserer Wirtschafts-, Wissenschafts- und Medienjournalismus, gerne zu Lasten ausufernder Politik-, Sport- und Unterhaltungsberichterstattung – das wäre ein phantastisches Programm, um Populismus einzuschränken. Und wenn dann noch jede zweite Redaktion sich regelmäßigen Populismus-Check zur Aufgabe machte, wäre dem Gemeinwesen vermutlich geholfen: Populistisch sind ja nicht nur die AfD, die Linke und Sahra Wagenknecht. Auch der Kanzler überbietet mit „Wumms“ und „Doppel-Wumms“ und seiner Anbiederung „You will never walk alone“ alles, was bisher an Populismus aus dem Kanzleramt kam – und er tut das bislang von den Medien weitgehend ungestraft….

Mehr Bildung, mehr Wissensvermittlung, insbesondere über Wirtschaft, Wissenschaft und Medien, mehr Populismus-Check und Suche nach den eigenen blinden Flecken – das alles ist vielversprechend und stößt gleichwohl an Grenzen. Sebastian Turner nennt das Stichwort „Komplexität“ – aus meiner Sicht ein Schlüsselbegriff, um Populismus zu verstehen: Weil die Welt so hyperkomplex und der „veränderungstempobedingte Vertrautheitsschwund“ (Odo Marquard) so atemberaubend geworden sind, verstärkt sich die Sehnsucht nach „einfachen Lösungen“ und bei vielen Menschen das Bedürfnis, sich blindlings Führern anzuvertrauen, statt bei allfälligen Entscheidungen den eigenen Verstand wenigstens ansatzweise zu bemühen. Auch dass Glauben statt Wissen-Wollen und damit Religiosität sich wieder so stark in den Vordergrund schieben, ist eine Spielart von Populismus – insbesondere, wenn der Glaube fundamentalistisch grundiert ist und damit gegenüber anderen Religionen feindselig und allseligmachend auftritt.

Weil keinerlei Aussicht besteht, dass die Komplexität der Welt und das Veränderungstempo wieder abnehmen werden, müssen wir lernen, damit zu leben. Demut und Bescheidenheit, das Wissen darum, wie wenig wir selbst wissen und beurteilen können und wie sehr wir darauf angewiesen sind, in fast allen Lebensbereichen Experten vertrauen zu müssen, könnten als Populismus-Bremse wirken – ebenso die Einsicht, dass Doppelmoral konstitutiv für gesellschaftliches Zusammenleben ist und deshalb Moralapostel nahezu zwangsläufig scheinheilig sind. Die Existenz von „Trade offs“ gilt es ebenfalls zu akzeptieren: die meisten Probleme lassen sich nur lösen, indem man das Entstehen neuer Probleme in Kauf nimmt – weshalb Konsenssuche, kleine Schritte und „piecemeal engineering“ oft vielversprechender sind als der versuchte und dann scheiternde große Wurf.

Dass eine verständliche und präzise Sprache – und damit der Verzicht auf Gendersternchen, Doppelpunkte, Schluckauf-Sprechpausen und auch auf falsche Partizipien (wie den soeben bei einem Unfall zu Tode gekommenen „Radfahrenden“) – Grundvoraussetzungen gelingender zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Kommunikation sind und bleiben, ist eine weitere Einsicht zur Populismus-Bekämpfung. Dass sie gerade Second Generation-Akademikern und insbesondere Journalistinnen und Journalisten so schwer zu vermitteln ist, hat mit menschlichem Herdentrieb zu tun – und ist gleichwohl extrem irritierend.

Professor Stephan Russ-Mohl war von 1985 bis 2001 Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Freien Universität Berlin und anschließend bis zur Emeritierung 2018 an der Universität in Lugano. Zusammen mit Sebastian Turner hat er 2023 das Buch „Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller Erfolgsfaktor“ herausgegeben.

Alle bisher erschienen Beiträge in der Serie „Hacking Populism“ lesen Sie hier.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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