Die politischen Parteien haben ein Nachwuchsproblem. Neumitglieder berichten von verkrusteten Strukturen, eingefahrenen Debatten und familienunfreundlichen Sitzungszeiten. Auf die Vorfreude folgt nicht selten die Ernüchterung. Hinzu kommt: Immer häufiger werden die Mitglieder verspottet oder angefeindet. Das hat Folgen. Nur noch 1,2 Millionen Menschen sind Mitglied einer Partei. 1990 waren es noch doppelt so viele. Etwa die Hälfte der Mitglieder ist älter als 60 Jahre, lediglich 15 Prozent sind jünger als 40 Jahre.
Mittlerweile gefährdet die Mitgliederschwäche die Rekrutierungsfunktion der Parteien und damit auch die Funktionsfähigkeit der Demokratie. Zu den Kommunalwahlen, die am 26. Mai und 9. Juni in insgesamt 9 der 15 Bundesländer stattfinden, hatten alle Parteien einige Mühe, Kandidierende zu finden – vor allem in ländlichen Regionen und in Ostdeutschland. Um flächendeckend antreten zu können, nominierte beispielsweise die CDU in Sachsen-Anhalt insgesamt 40 Prozent parteilose Bewerber:innen. Damit dürfte sie einen neuen Rekord markiert haben.
Für die Landtage und den Bundestag finden die Parteien zwar noch Interessenten. Aber der Pool, aus dem sie sich bedienen, wird angesichts ihrer Mitgliederschwäche kleiner. Eine Bestenauswahl für den Beruf der Politik wird schwieriger. So bilden die Parlamentsfraktionen die Bevölkerung in ihrer zunehmenden Vielfalt nicht (mehr) ab. Im aktuellen Bundestag sitzen über hundert Juristen, aber nur zwei Arbeiter. Fast ein Drittel der Abgeordneten entstammt dem Öffentlichen Dienst. Es fehlen Handwerker, Krankenschwestern oder Wissenschaftler. Fast 90 Prozent der Parlamentarier sind akademisch geprägt und stammen aus ähnlichen sozioökonomischen Milieus. Nur etwa jeder zehnte Bundestagsabgeordnete hat einen Migrationshintergrund. All dies befördert die Elitenverachtung und den Vorwurf des Populismus, die Politik sei abgehoben.
Die Parteien in Deutschland besitzen ein faktisches Rekrutierungsmonopol für parlamentarische Mandate. Voraussetzung für eine Nominierung sind Sitzfleisch und Ellenbogen; Trinkfestigkeit ist von Vorteil. Das Mandat ist der Lohn für langjährige Parteiarbeit und überstandene Intrigen. Neulinge hingegen müssen sich hintenanstellen.
Formal werden die Kandidierenden bei parteiinternen Wahlen nominiert. Den Anforderungen des Grundgesetzes zur innerparteilichen Demokratie tragen die Parteien so Rechnung. Tatsächlich jedoch erfolgt die Vorauswahl in internen Steuerungsrunden, die von Funktionärsinteressen bestimmt sind. Dort wird in der Regel entschieden, wer in einem Wahlkreis kandidiert und wie sich die Landeslisten zusammensetzen.
Die intransparenten Nominierungsverfahren führen zu dem, was Politikwissenschaftler die Selbstreferenzialität der Parteien nennen. Demnach ist ihnen der Regionalproporz am wichtigsten. Es folgt der Ausgleich zwischen den Geschlechtern sowie innerparteilichen Strömungen und Arbeitsgruppen. Andere Auswahlkriterien spielen, wenn überhaupt, nur eine nachgeordnete Rolle. Zudem gilt das Senioritätsprinzip, Mandatsinhaber werden in der Regel wiederaufgestellt.
Das Wahlrecht hat zur Folge, dass die Mehrzahl der Kandidierenden bereits vor dem Wahltag weiß, ob sie ins Parlament einziehen werden. Ein offenes Verfahren um die aussichtsreichen Plätze, das heißt, einen innerparteilichen Wettbewerb, gibt es hingegen nur selten. Daran ändert auch die aktuelle Wahlrechtsreform nichts. Im Gegenteil wird sie das Angebot noch verknappen, denn der Bundestag wird 2025 um gut hundert auf dann noch 630 Mandate verkleinert werden. Amtierende Abgeordnete werden ihr politisches Kapital zulasten der Neulinge im Bewerbungsprozess einbringen.
Die Parteien haben den Ernst der Lage zu wenig erkannt. Sie klammern sich an ihre engen Rekrutierungspfade. Von zivilgesellschaftlichen Organisationen werden die mangelnde Vielfalt in den Parlamenten sowie das Ochsentourprinzip und die Hinterzimmerverfahren zu Recht kritisiert. Doch in den Parteien gibt es nicht genügend Veränderungsbereitschaft. Deshalb sind sie auf Impulse und Unterstützung von außen angewiesen, um überfällige Reformen anzugehen.
Die Parteien sollten sich öffnen. Zum einen brauchen wir eine innerparteiliche Demokratie, die die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht nur formal erfüllt. Zum anderen müssen Seiteneinsteiger mit anderen beruflichen Erfahrungen, ungewöhnlichen politischen Biografien oder unkonventionellen Lebenswegen eine faire Chance bekommen.
Natürlich: Vielfalt ist nicht alles. Politik braucht Erfahrung, die Kontinuität in den Prozessen und die Sicherung von Mehrheiten. Aber ohne mehr Vielfalt im Ergebnis sowie inklusive und transparentere Nominierungsverfahren laufen sie Gefahr, zur der Unterhöhlung der Demokratie beizutragen, die vom Populismus betrieben wird.
Eine Öffnung ist möglich. Ein fairer Wettstreit um innovative Ideen und kluge Köpfe kann die innerparteiliche Demokratie und das Vertrauen in die Parteien stärken. Es ist möglich, die tradierten Nominierungsverfahren zu modernisieren, ohne dass die Parteien die Kontrolle über den Rekrutierungsprozess aus der Hand geben. Wir sehen zwei Innovationsbereiche.
Erstens könnten Parteien gezielt nach verborgenen politischen Talenten suchen. Die kleine Partei Volt zum Beispiel hat ihre Kandidierenden zur Europawahl 2024 in einem offenem Bewerbungsverfahren ausgewählt. Im Vorfeld konnten sich Menschen, die bis dato mit Parteien keinerlei Berührungspunkte hatten, für ein kostenloses Trainingsprogramm bewerben. Es gibt darüber hinaus mittlerweile mehrere politische Initiativen, die sich dem Scouting außerhalb der klassischen Karrierepfade der Parteien widmen. Die überparteiliche Initiative JoinPolitics zum Beispiel versteht sich als Non-Profit-Startup für politische Innovationen. Sie fördert politische Talente auf ihrem Weg in die Politik mit einem Startkapital für politische Initiativen und mit einem Netzwerk von Experten. Das Programm Diversify der Deutschlandstiftung Integration unterstützt dezidiert junge Menschen mit Migrationsgeschichte und Interesse an der Politik, unter anderem mit einem Mentorenprogramm sowie mit Fortbildungen.
Zweitens könnten die Parteien Vorwahlen abhalten und so in die Aufstellung der Kandidierenden in den Wahlkreisen die Bevölkerung einbeziehen. Dafür müsste nicht mal das Wahlrecht geändert werden, das die Aufstellung formal nur auf einer Mitglieder- oder Delegiertenversammlung vorsieht. Vorwahlen können konsultativ abgehalten werden. Der organisatorische Aufwand kann dabei mit digitalen Tools minimiert werden.
Auch die Listenaufstellung braucht ein für die Öffentlichkeit nachvollziehbares Verfahren mit Korridoren für Karrierepfade jenseits der Ochsentour. Zum Beispiel könnten Mitgliederbefragungen, auf die Parteien zumindest gelegentlich zurückgreifen, um die Spitzenpersonen zu bestimmen, auf die gesamte Liste ausgeweitet werden. Im Vorfeld der Listenaufstellung ließen sich darüber hinaus Vorwahlen abhalten. Nachgedacht werden könnte auch über eine Änderung im Wahlrecht hin zu flexiblen Wahlverfahren, die es den Wählern ermöglichen, von den Listenvorschlägen der Parteien abzuweichen.
Im Jahr 2025 steht eine richtungsweisende Bundestagswahl an. Die demokratischen Parteien werden von links- und rechtspopulistischen Formationen herausgefordert. Unsere Parteiendemokratie steht damit vor einem Stresstest.
Für die Parteien wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, eine Modernisierungsoffensive zu starten. Es wäre ein guter Zeitpunkt, die Nominierungsverfahren transparenter und inklusiver zu gestalten. Die Parteien sollten sich trauen, den Wahlkampf so auch zu einem Wettbewerb um politische Talente und innovative Ideen zu machen. Und wenn sie schon nicht den Mut haben, dies flächendeckend zu tun, könnten sie zumindest in ausgewählten Wahlkreisen oder Landesverbänden damit experimentieren. Dies wäre eine innovative Antwort auf das Nachwuchsproblem der Parteien und die Vertrauenskrise der Parteiendemokratie.
Benjamin Höhne ist Politik-Professor an der TU Chemnitz; Philip Huseman n ist Geschäftsführer von JoinPolitics, einem Non-Profit-Start-up zur Stärkung der Demokratie; Christoph Seils ist Autor und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel