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Erscheinungsdatum: 07. April 2025

Politikwechsel auf sechs Beinen – Was Union und SPD verbinden könnte

Die anstehende Koalition zwischen CDU/CSU und SPD leidet schon vor Beginn an Mutlosigkeit und mangelnden Reformwillen. Was könnten Projekte sein, die einen echten Politikwechsel markieren, aber politisch vermittelbar sind, fragt Baha Jamous in seinem Gastbeitrag. Er stellt die Themen, mit denen beide Parteien in ihrer jeweiligen Wählerbasis punkten können.

Von Baha Jamous

Zwei Mal habe ich in den vergangenen Wochen beschrieben, warum die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD strategisch vermint sind. Und warum es für die Union kaum noch einen gesichtswahrenden Weg aus diesem Prozess gibt. Dann fragte mich kürzlich jemand: Was müsste eigentlich im Koalitionsvertrag stehen, damit beide Parteien gesichtswahrend rauskommen?

Mein erster Reflex: Nichts.

Aber das wäre zu bequem. Vielleicht lohnt es sich, genauer hinzusehen – nicht nach idealen, sondern nach denkbaren Projekten. Vorhaben, bei denen beide Seiten nicht verlieren. Projekte, die einen echten Politikwechsel markieren, aber politisch vermittelbar sind. Vor allem: Themen, mit denen beide Parteien in ihrer jeweiligen Wählerbasis punkten können, ohne dass eine Seite als Umfaller dasteht. Ein Brückenbauversuch – verkrampft, aber notwendig.

Vorab: Das Zeitfenster für solche Projekte ist schmal geworden. Die Union verliert in den Umfragen – und mit ihr die Erwartung auf politischen Kurswechsel. Noch am Wahlabend sah es anders aus: 28,6 Prozent, ein deutliches Plus gegenüber 2021. Friedrich Merz profitierte persönlich, wurde als glaubwürdiger, führungsstärker wahrgenommen. In den Kompetenzwerten lag die Union in Schlüsselbereichen vorn – vor allem in der Wirtschaft (39 Prozent), bei Innerer Sicherheit (37 Prozent) und auch in der Asyl- und Migrationspolitik (26 Prozent), wo sie nach Jahren der Defensive erstmals wieder Vertrauen aufbauen konnte.

Nur wenige Wochen später ist davon wenig geblieben: In den aktuellen Umfragen von Forsa und Infratest dimap liegt die Union bei 25 bzw. 26 Prozent – beinahe gleichauf mit der AfD. Die Erklärung ist simpel: Das Vertrauen, das sich Merz und die Union in der heißen Wahlkampfphase mühsam erarbeitet hatten, hat sich binnen weniger Wochen verflüchtigt.

Ich habe oft Robert Habeck für sein miserables Erwartungsmanagement kritisiert. Jetzt muss ich an Friedrich Merz denselben Maßstab anlegen. Alles lässt sich erklären – aber gerade, wenn man aus einem Wahlkampf kommt, in dem mit absoluten Positionen und klarer Lagerlogik operiert wurde, braucht es extreme kommunikative Sorgfalt bei Positionswechseln. Die aber blieb aus. Und wer politisch U-Turns fährt, ohne das Publikum mitzunehmen, zahlt für die Verwirrung mit Glaubwürdigkeit.

Was bleibt, ist die nüchterne Erkenntnis: Der Mangel an Kommunikation muss jetzt durch konkrete Politik kompensiert werden. Handeln statt reden. Das ist schwieriger, braucht Zeit, ist aber im Ergebnis nachhaltiger. Unstrittig ist: Das Self-Handicapping der Union nach der Wahl war unnötig, teuer und selbst verschuldet.

Nun aber konstruktiv: Sechs konkrete Vorhaben könnten diesen Kurswechsel glaubhaft einleiten – für beide Seiten. Keine Wunschliste. Sondern ein realistischer Kompromissraum für eine Regierung, die sich nicht in Symbolpolitik erschöpfen will.

1.⁠ ⁠Wiedereinstieg in die Kernenergie: Die Energiekrise hat den Ausstieg als Dogma entlarvt. Die Union drängt auf eine Rückkehr zu Technologieoffenheit – und kann mit Netzstabilität und Zukunftsforschung punkten. Die SPD wiederum könnte über die Versorgungsnöte in der Industrie eine Wende vollziehen, ohne ideologisch zu kippen: Realpolitik für die Arbeiter.

2.⁠ ⁠Steuerentlastung für Unternehmen und Mittelschicht: Das Land braucht wirtschaftliche Impulse. Die Union will Investitionen freisetzen und Leistung belohnen. Die SPD könnte über gezielte Entlastung kleiner Einkommen, die Anhebung von Freibeträgen und stärkere Progression oben die eigene Linie wahren – und dennoch die Mitte entlasten. Ein massiver Subventionsabbau schafft Raum für breite Steuerreduktion. Hinter der Vision eines Leistungslandes können sich alle versammeln. Es wird Zeit für den Bierdeckel.

3.⁠ ⁠Reform des Bürgergelds: Die Union braucht Härte – Sanktionen, Weiterbildung, Vermittlungsvorrang. Die SPD kann das Thema als notwendige Nachsteuerung verkaufen. Scholz selbst hatte bereits eine Korrektur angekündigt. Die Reform wäre also keine Niederlage – sondern eine Rückkehr zu Ernsthaftigkeit.

4.⁠ ⁠Restriktivere Asylpolitik: Die Lebenswirklichkeit in den Kommunen lässt beiden Parteien keine Wahl. Die SPD steht in ihrer Wählerschaft unter massivem Druck – vor allem in strukturschwachen Regionen. Die Union kann liefern: Einschränkung des individuellen Asylzugangs zugunsten klarer Kontingente, Grenzverfahren und Drittstaatenregelungen. Die Union bekommt ihre Vorstellung von Humanität und Ordnung. Vor allem letzteres fehlt in Deutschland unbestreitbar.

5.⁠ ⁠Bürokratieabbau durch Strukturreform: Seit Jahrzehnten ein Versprechen – nun wäre es durchsetzbar. Zusammenlegung von Behörden, Digitalisierung von Prozessen, „One in, two out”, Zusammenlegung von Förderprogrammen, Reduktion von Beauftragten. Bürokratieabbau heißt: Der Staat entlastet sich selbst. Die Union bekommt Effizienz. Die SPD bekommt einen Staat, der dort liefert, wo er muss.

6.⁠ ⁠Rentenreform durch Erweiterung des Versichertenkreises und Vorsorgeanreize: Beide Parteien wissen, dass es so nicht weitergeht. Doch niemand wagt den Einstieg. Ein gemeinsames Projekt wäre historisch: Beamte und Selbstständige zahlen ein, das Renteneintrittsalter wird an die Lebenserwartung geknüpft, der Generationenvertrag dadurch gestärkt. Parallel dazu: eine echte kapitalgedeckte Altersvorsorge im Rentensystem und steuerbefreite private Vorsorge.

Keine dieser Maßnahmen ist ein Geschenk. Sie fordern beiden Seiten Überwindung ab. Aber genau darin liegt die Chance. Ob es dazu kommt? Ich weiß es nicht. Aber man sollte nicht so tun, als gäbe es keine Schnittmengen. Es gibt sie – und sie sind politisch ehrlicher als alles, was derzeit durchgestochen wird.

Baha Jamous arbeitet als Director People Corporate Affairs beim Fintech Solaris. Er war Referent, Wahlkampfmanager und Geschäftsführer der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU Sachsen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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