Table.Standpunkt | Sozialpolitik
Erscheinungsdatum: 29. August 2026

Ohne Zumutungen wird es nicht gehen

War 2016 bis 2024 BSG-Präsident: Rainer Schlegel (picture alliance/Metodi Popow)
Die Sozialversicherungssysteme hätten bislang kein Einnahmeproblem, schreibt Rainer Schlegel, Ex-Präsident des Bundessozialgerichts und CDU-Mitglied. Das werde sich aber ändern, wenn Reformen nicht zeitnah umgesetzt werden.

Der Koalitionsvertrag adressiert viele Probleme. Er legt sich jedoch insbesondere im Bereich Gesundheit und Soziales nicht fest, wie eine Konsolidierung der Sozialleistungssysteme aussehen könnte, die der demografischen Entwicklung und insbesondere der wachsenden Belastung der Erwerbstätigen Rechnung trägt. Erkenntnisgewinne für dringend notwendige Reformen erhofft sich die Regierungskoalition aus der Arbeit von Gremien wie der Sozialstaats- und der Rentenkommission.

Das Tempo, in dem diese eingesetzt werden und Ergebnisse liefern sollen, erweckt allerdings nicht den Eindruck, dass alle Verantwortlichen daran glauben, diese Vorschläge in der laufenden Legislaturperiode umsetzen zu können. Vielleicht ist das auch gar nicht gewollt. Denn wer jetzt konkrete Vorschläge macht, wird keine Leistungsausweitungen versprechen und mit Beifall von allen Seiten rechnen können. Aber nur an konkreten Vorschlägen kann man sich „abarbeiten“, kann Lösungen diskutieren und darauf hoffen, einen Schritt weiterzukommen.

Das Bewusstsein dafür, dass die Systeme mit den Beitragseinnahmen auskommen müssen und man nur ausgeben kann, was man zuvor erwirtschaftet hat, ist ebenso wie das Bewusstsein für Eigenverantwortung weithin verloren gegangen. Die nachfolgenden Reformvorschläge können nur ein erster Aufschlag sein. Sie enthalten ohne Zweifel Zumutungen und müssen daher zwingend mit entsprechenden Entlastungen einhergehen.

Insbesondere muss es gelingen, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag in absehbarer Zeit wieder unter der Grenze von 40 Prozent liegt. Die Betroffenen müssen erkennen: Die Reformvorschläge sind hart, aber sie sichern die Funktionsfähigkeit des Sozialsystems langfristig.

Bei allen anstehenden Maßnahmen ist auf Praktikabilität, schnelle Umsetzbarkeit und einfache sowie verständliche Regeln zu achten. Möglichen Härten ist durch Härtefallregelungen Rechnung zu tragen, die durch Regelbeispiele konkretisiert werden. Zwischen beitragsfinanzierten und steuerfinanzierten Leistungen ist bei allen Reformen strikt zu trennen. Der Griff in die Beitragskassen der Sozialversicherung zugunsten gesamtgesellschaftlicher Aufgaben wie bisher bei der Mütterrente und den Ausgaben für Bürgergeld-Bezieher in der GKV muss aufhören. Die Beitragszahler beziehungsweise die Kassen und Träger müssen sich gegen solche Übergriffe effektiv wehren können.

Für sämtliche Leistungsbereiche ist ein gemeinsames Datenportal einzurichten, auf dem alle beitrags- und leistungsrechtlichen Daten von den zuständigen Stellen abgerufen werden können. Über die europaweit geltende Datenschutzgrundverordnung hinaus braucht es keine nationalen höheren Schutzstandards. Um die Sozialverwaltung schneller und effektiver zu machen, ist bei jedem Neuantrag auf einen Personalausweis oder dessen Verlängerung die elektronische Signatur automatisch zu aktivieren, damit der Zugang zu Sozialleistungen digital erfolgen kann.  

Die geringfügige Beschäftigung, also „Minijobs“, sind abzuschaffen, so beliebt sie bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch sein mögen. Sie schaffen nur Probleme und sind insbesondere für Frauen eine „Armutsfalle“. Ausnahmen sollten ausschließlich für Schüler und Studenten bis zum 25. Lebensjahr sowie Rentner ab Vollendung des 67. Lebensjahres gelten – bei diesen Personengruppen sollten maximal 500 Euro sozialversicherungsfrei gestellt werden.

Die Grundsicherung muss sich auf „wirklich Bedürftige“ beschränken. Das sollte in Freibeträge, Sanktionen und dem, was die Allgemeinheit an Anstrengungen von den Leistungsbeziehern erwarten darf, auch zum Ausdruck kommen. Gerade im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende muss die 40-Stunden-Woche zum Maßstab und eine geringfügige Beschäftigung allenfalls als Übergangslösung zu einem „Vollzeit-Job“ akzeptiert werden.

Unterkunftskosten sollten, wo immer möglich, pauschaliert werden. Vor allem bei „Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften“, also Alleinstehenden, ist ein Umzug in weit größerem Umfang zumutbar. Die Devise muss lauten: Dorthin ziehen, wo es Arbeit gibt! Im Kern identische Leistungen wie die Kosten der Unterkunft und das Wohngeld sind außerdem in einem System zusammenzuführen.

Bei der Rente sollte als Sofortmaßnahme auf die Mütterrente III und die „Haltelinie“ von 48 Prozent verzichtet und die „Rente mit 63“ abgeschafft werden. Die Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme müssen versicherungsmathematisch genauer berechnet werden, was bei der zu erwartenden Lebenserwartung zu höheren Abschlägen führen wird.

Die Einführung einer „Erwerbstätigenversicherung“ für Selbstständige ist überfällig. Selbständige sollten dabei die Möglichkeit bekommen, auch private Altersvorsorge zu betreiben, die dann als zwingend als regelmäßige lebenslängliche Rente ausbezahlt wird. Langfristig sollte das Sicherungsziel der Rente für alle darauf ausgerichtet werden, dass man so vorsorgen muss, dass man auf ein Niveau oberhalb der Sozialhilfe kommt. In dieses Pflichtsystem sollten alle Erwerbstätige einbezogen werden, auch Beamte, Abgeordnete und Freiberufler. Dies lässt dem Einzelnen dann auch die Mittel und die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob und wie er ergänzende Vorsorge betreiben will.

 

 

 

Letzte Aktualisierung: 31. August 2025
Teilen
Kopiert!