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Erscheinungsdatum: 15. Juni 2025

Gaza: Politisch gewollt, aber unfähig – vom Versagen einer privaten Hilfsagentur

Anica Heinlein von Care Deutschland über die zweifelhafte Arbeit der von Israel und den USA unterstützten Hilfsagentur GHF im Gazastreifen. Ihr Befund: Ein ohnehin schon schlimmer Zustand ist inzwischen unerträglich geworden.

Seit dem verheerenden Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich in Gaza eine humanitäre Katastrophe unbeschreiblichen Ausmaßes entwickelt. Seit fast 20 Monaten versuchen humanitäre Organisationen wie CARE, Hilfe zu leisten. Bis heute werden sie daran gehindert, obwohl die UN und internationale Hilfsorganisationen bereit stehen: Hilfsgüter im Wert von vielen tausenden Euro warten in Warenhäusern darauf, verteilt zu werden. Was fehlt, sind die Genehmigungen durch Israel.

Die letzten Monate waren Phasen der totalen Blockade, in denen gar nichts mehr – nicht einmal Strom und Wasser – den Gazastreifen erreichte. Das bewusste Aushungern einer Bevölkerung im Kriegsfall konstituiert ein Kriegsverbrechen.

Mitarbeitende von CARE im Gazastreifen bestätigen die mehrfache und anhaltende Vertreibung fast der gesamten Bevölkerung. Human Rights Watch kam zu dem Ergebnis, dass systematisch und massenhaft Zwangsvertreibungen stattfanden, die Teil einer staatlichen Strategie sind. Als solche stellen diese Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Immer wieder meldeten Hilfsorganisationen die Bombardierung von humanitärem und medizinischem Personal. Sie alle haben Kolleg:innen und Mitarbeitende von Partnerorganisationen verloren, in so großer Anzahl, dass man kaum noch von einem Kollateralschaden sprechen kann. Auch diese Angriffe konstituieren ein Kriegsverbrechen.

Und nun dies: das totale Versagen einer privaten Organisation, der von Israel und den USA unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF). In deren Hände hat die israelische Regierung die Verteilung von Hilfsgütern hauptsächlich gelegt. Die Arbeitsweise der GHF widerspricht einer prinzipiengeleiteten, professionell geleisteten humanitären Hilfe, wie sie über lange Jahre von internationalen Hilfsorganisationen zusammen mit den Vereinten Nationen durchgeführt wurde.

Nur einige Beispiele von vielen: Die GHF reduzierte die zuvor zahlreichen Verteilungspunkte der UN und humanitärer Organisationen auf wenige zentrale Stationen – alle im Süden des Gazastreifens. So sind die Menschen gezwungen, weite Strecken mit schweren Rationen zurückzulegen – ein Hilfspaket wiegt 20 Kilogramm. Viele Familien müssen den Norden verlassen und näher an die Verteilzentren ziehen – was der Vertreibung der Bevölkerung aus dem Norden weiter Vorschub leistet. Alternativ setzen sie sich dem Risiko von Überfällen und Plünderungen aus. Man fragt sich, wie dies mit dem wiederholt gegen Hilfsorganisationen erhobenen Vorwurf vereinbar sein soll, diese könnten nicht garantieren, dass Hilfsgüter nicht in die Hände der Hamas gelangen.

Tatsache ist, dass es während der Waffenruhe Anfang 2025, als noch ausreichend Güter Gaza erreichten, kaum zu Plünderungen kam. Der Markt war schlicht gesättigt mit Lebensmitteln. Es drängt sich also der Eindruck auf, dass hier die Not der Menschen instrumentalisiert wird und es den Kriegsparteien nie wirklich um die Versorgung der Zivilbevölkerung ging.

Um Hilfe von der GHF zu erhalten, müssen die Menschen umfassend persönliche Daten zur Verfügung stellen – von sich und allen Familienmitgliedern. Diese Informationen gehen weit über das hinaus, was humanitäre Organisationen normalerweise abfragen, um sicherzustellen, dass Hilfe die Ärmsten in einer Bevölkerung erreicht. Wenn Menschen in Not aber nach bestimmten Kriterien überprüft oder ausgeschlossen werden, widerspricht das dem Grundsatz, Hilfe allein nach der Bedürftigkeit zu leisten. Zudem ist bei der GHF unklar, was mit den erhobenen Informationen geschieht – wie übrigens auch die Finanzierung der Stiftung intransparent bleibt.

Die GHF verspricht, Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza mit „unabhängigen Operationen, strenger Aufsicht und erfahrener Führung“ sowie mit „Sicherheit, Unparteilichkeit und Dringlichkeit“ bereitzustellen. Festzuhalten ist, dass auch die humanitären Organisationen all dies in den letzten 20 Monaten garantiert haben. Nur eines fehlte: Sicherheit. Insofern ist der latente Vorwurf, die bisher aktiven Hilfsorganisationen empfänden die GHF als Konkurrenz, fehlgeleitet. Entscheidend ist: Hilfe muss den humanitären Prinzipien entsprechen, muss sinnvoll strukturiert und bedarfsorientiert sein. Nach den ersten Arbeitstagen der GHF ist klar: Es handelt sich nicht nur um die holprige Einführung eines neuen Ansatzes, der auf Kosten einer hungernden Bevölkerung geschieht. Es ist das Versagen einer überforderten Organisation.

Mehrfach mussten die Aktivitäten in den ersten beiden Wochen ausgesetzt werden – mit der Begründung angeblicher „Wartungs- und Effizienzverbesserungen“. Diese Pause folgte auf drei aufeinanderfolgende Tage tödlicher Vorfälle an Verteilzentren in Rafah und Deir al-Balah. Dort hatten sich tausende Palästinenser:innen versammelt, um Lebensmittel zu erhalten, stattdessen gerieten sie unter Beschuss. Viele Menschen kamen um, Hunderte wurden verletzt beim Versuch, Hilfsgüter für ihre hungernden Familien und Kinder zu erhalten.

Schließlich ist der Ansatz der GHF weder kostengünstiger noch effizienter als etablierte, von den Vereinten Nationen koordinierte Maßnahmen. Die Leistungen der GHF sind nicht nur extrem teuer, sie zielen auch lediglich auf die Hälfte der betroffenen Bevölkerung ab – und das mit einer einzigen Mahlzeit, die nicht einmal den empfohlenen Kalorienbedarf deckt. Für über eine Million Palästinenser:innen bleibt damit völlig unklar, wie ihr Überleben gesichert werden soll. Werden sie dem Hungertod überlassen?

Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, wie grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Gesundheitsversorgung, Zugang zu Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen und Schutzdienste gedeckt werden sollen. Wie sind sauberes Wasser für Babynahrung oder Basishygienemaßnahmen zum Schutz vor Infektionskrankheiten bei einer ohnehin durch Hunger geschwächten Bevölkerung zu gewährleisten? Und all das in einem Gebiet, in dem bereits Tausende von Menschen Gliedmaßen verloren haben? All das scheint im Rahmen dieses Ansatzes als verzichtbarer Luxus betrachtet zu werden.

Es besteht kein Zweifel: Die Verzweiflung der Bevölkerung und der Mangel an Hilfsgütern haben das Leisten von Hilfe in Gaza schier unmöglich gemacht. Die schiere Verzweiflung, irgendwie an die nächste Mahlzeit für ihre Kinder zu kommen, treibt die Menschen zum Äußersten, und auch für Helfende ist es in dieser Situation schwierig, Plünderungen zu verhindern. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), mit dem auch CARE eng zusammenarbeitet, musste die Menschen kürzlich aufrufen, nicht zu den von ihnen betriebenen Bäckereien zu kommen: Eine sichere Verteilung war nicht mehr zu gewährleisten. Eine professionelle Methode, in dieser Situation Hilfe zu leisten, wäre durch Verteilungen von Haus zu Haus – in Gaza wäre das, bei laut UN 92 Prozent zerstörter oder beschädigter Wohnstruktur, derzeit allerdings eher von Unterschlag zu Unterschlag. Dafür verweigert Israel nach wie vor die Genehmigung.

Quasi alle Bewohner:innen des Gazastreifens leiden Hunger. Mehr als die Hälfte sind Kinder. Die Lebensmittel, die die Menschen erreichen, sind oft nicht geeignet, die geschwächte Bevölkerung zu ernähren. Denn: Für Babymilch braucht es sauberes Wasser und bei extremer Unterernährung von Kindern therapeutische Spezialnahrung sowie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen. Derzeit erreichen aber vor allem Mehl und Bomben den Gazastreifen. Die Zahl der funktionierenden Krankenhäuser ist seit dem 11. Mai von 23 auf 17 gesunken – keines mehr davon ist vollständig betriebsfähig.

Wie breit muss also die rote Linie noch sein, dass sie als überschritten gilt? Diese Krise ist menschengemacht, ihre Beendigung hängt ebenfalls von Menschen ab.

Die in Gaza tätigen humanitären Organisationen haben sich – aus guten Gründen – weltweit den humanitären Prinzipien Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit verpflichtet und sind strengsten Rechenschaftspflichten unterworfen. Sollen die Erfolge humanitärer Hilfe also wirklich so bereitwillig geopfert werden, um die jahrzehntelang hart gerungen wurde? Was man verloren hat, weiß man oft erst, wenn es weg ist. Dies ist hier wohl der Fall. Und der Preis, den die Menschen in Konflikten weltweit zahlen werden, wird hoch sein. Wer dann später behauptet, es nicht besser gewusst zu haben, dem muss schon jetzt vehement widersprochen werden. Humanitäre Organisationen warnen seit fast 20 Monaten vor diesen Konsequenzen – bislang ohne nennenswerten Erfolg.

Anica Heinlein ist Co-Abteilungsleiterin Kommunikation Advocacy der Hilfsorganisation CARE Deutschland

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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