Die geopolitischen Machtverschiebungen und der internationale Wettbewerb um Wertschöpfung prägen diese neue Epoche und stellen Europa vor große Herausforderungen. Sie erfordern eine strategische Herangehensweise, um die Energie- und Technologiesouveränität zu sichern und die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz des Industriestandorts zu stärken. Wasserstoff spielt dabei als Schlüsseltechnologie eine entscheidende Rolle für die Transformation des Wirtschafts- und Energiesystems und ist unabdingbar, um klimaneutral zu werden.
Dennoch unterstützt der lang erwartete Clean Industrial Deal der EU-Kommission den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft nicht ausreichend. Dies verdeutlicht, dass wir anstelle eines klassischen EU-27-Ansatzes eine strategischer ausgerichtete europäische Wasserstoffagenda benötigen. Die Gründung einer europäischen Wasserstoffallianz ist hierfür der richtige Schritt, aus dreierlei Gründen:
Der Energiemix ist eine nationale Entscheidung der Mitgliedstaaten. Wasserstoff bietet jedoch eine gemeinsame Grundlage für Deutschland, andere Nord- und Ostseeanrainer, aber auch die sonnenreichen Länder der iberischen Halbinsel und Italien, um das Potenzial erneuerbarer Energien auszuschöpfen. Die Diskussion um die Nutzung der Nord-Stream Pipeline als Importkorridor von grünem Wasserstoff aus Finnland verdeutlicht das strategische Kooperationspotenzial. Zudem braucht es Elektrolyseure und Speicher, um die Energie- und Technologiesouveränität zu stärken.
Während Wasserstoff für manche europäische Länder eine wichtige Rolle spielt, ist er für andere von untergeordneter Bedeutung. Frankreich setzt stärker auf Kernkraft und hat sich mit der Gründung der Nuklearallianz an die Spitze der mittlerweile elf Mitgliedsstaaten gestellt, die unter diesem Dach ähnliche Interessen verfolgen. Das ist legitim und sollte als Blaupause für die nächste Bundesregierung dienen, um die Führungslücke beim Wasserstoff zu schließen und eine vergleichbare europäische Allianz aufzubauen.
Während weltweit der Wasserstoffhochlauf läuft und bereits 434 Projekte eine endgültige Investitionsentscheidung getroffen haben, bleibt Europa hinter seinen eigenen Ambitionen zurück, trotz des hohen Innovationspotenzials europäischer Hersteller. Strenge EU-Vorgaben für grünen Wasserstoff erschweren den Markthochlauf. Eine überkomplexe Regulierung führt zu deutlichen Produktionsmehrkosten und verhindert eine schnelle Skalierung und Nutzung des Binnenmarktpotenzials. Eine Wasserstoffallianz kann mehr Flexibilität schaffen, um Investitionen zu erleichtern und einen technologieoffeneren Rahmen zu etablieren, der auf realen Emissionswerten statt auf spezifischen Produktionsmethoden basiert. So wie die Nuklearallianz für eine EU-weite Anerkennung der Kernenergie als nachhaltige Energiequelle eintritt, sollte sich die Wasserstoffallianz für eine praxisnahe Regulierung und für die Berücksichtigung unterschiedlicher Produktionsrouten beim Wasserstoffhochlauf einsetzen.
Der europäische Wasserstoffmarkt sollte sich nicht auf die EU-27 beschränken, sondern ganz Europa umfassen. Großbritannien und Norwegen spielen eine essenzielle Rolle. Eine Wasserstoffallianz könnte als Integrationsprojekt fungieren und strategische Brücken bauen. Insbesondere Norwegen mit seinen Kapazitäten für blauen Wasserstoff hat eine hohe Relevanz für den Hochlauf in Europa und kann einen entscheidenden Beitrag zur Erhöhung unserer Energiesicherheit leisten. Und auch wenn verschiedene Länder unterschiedliche Wasserstoffstrategien verfolgen, sollte der pragmatische Konsens lauten: „Blauer Wasserstoff als Brücke, grüner Wasserstoff als Ziel“.
Deutschland wird bis 2030 gemäß der Nationalen Wasserstoffstrategie mit einer geschätzten Nachfrage von 95-130 TWh den höchsten Wasserstoffbedarf in Europa haben. Dadurch wird Deutschland eine Schlüsselrolle bei der Infrastruktur- und Marktentwicklung spielen. Das Wasserstoffkernnetz stellt einen Meilenstein dar und bietet eine tragfähige Basis für den Wasserstofftransport in Europa. Die geplante Ausweitung und Anbindung an Nachbarn zeigt, wie Deutschland vorangehen kann.
Auch auf der Nachfrageseite, hat die nächste Bundesregierung die Chance voranzugehen und grenzüberschreitende Leitmärkte für klimafreundliche wasserstoffbasierte Produkte zu etablieren. Die öffentliche Beschaffung kann dabei effektiv genutzt werden, zum Beispiel, um langfristige Nachfrage nach wasserstoffbasiertem Stahl zu sichern.
Die nächste Legislaturperiode ist das entscheidende Zeitfenster, um den Wasserstoffhochlauf in Europa neu zu starten. Die Koalitionäre haben es sich auf die Fahnen geschrieben, die Industrie zu stärken und die Energieversorgung von morgen zu sichern. Mit einer Initiierung und Führung einer europäischen Wasserstoffallianz können sie die Hebel, die sie in der Hand haben, an effektivsten ausspielen und bei beiden Zielsetzungen einen großen Schritt vorankommen.
Kerstin Andreae ist Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Bernd Weber ist Gründer und Geschäftsführer des Think Tanks Energy and Climate Policy and Innovation Council (Epico)