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Erscheinungsdatum: 09. Juni 2024

Ein neues Sommermärchen, bitte!

Noch fünf Tage bis zum Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft, Deutschland gegen Schottland in München. Nach dem holprigen 2:1 Sieg gegen Griechenland am vergangenen Wochenende haben die Zweifler zwar wieder Oberwasser, doch unser EM Kolumnist Michael Horeni rückt in seinem neuen Text die Erwartungen ins rechte Licht. Ein neues Sommermärchen sei ohnehin nicht zu erwarten, zu unterschiedlich sind die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Vergleich zu 2006. Spielerisch sei aber sogar mehr drin, nämlich der Titel. Warum, das lesen Sie hier.

Es ist bemerkenswert, wie sehr in Deutschland in diesen Tagen die Neuauflage eines Ereignisses herbeigesehnt wird, deren maßgeblichen Organisatoren noch immer der Prozess gemacht wird. Doch das ist ein anderes Thema. Die zentrale gesellschaftspolitische Frage vor der Europameisterschaft lautet: Ist ein zweites Märchen möglich – und wenn ja, wofür?

Zunächst einmal: Was ist der große Unterschied zwischen dem Sommermärchen 2006 und seinem Möchtegern-Nachfolger 2024? Die EM ist mit gesellschaftlichen und politischen Hoffnungen und Erwartungen so überfrachtet wie kaum ein anderes Sport-Event in Deutschland zuvor, weit stärker als die WM vor knapp zwanzig Jahren.

Was soll dieses Fußballturnier, das am Freitag mit dem deutschen Auftaktspiel gegen Schottland beginnt, nicht alles leisten: Ein Zeichen für Vielfalt setzen, für Nachhaltigkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Es soll den deutschen Fußball stärken, die Wirtschaft, gleich die ganze Demokratie, in Deutschland und in Europa. So klingt es seit Woche und Monaten aus Verbänden, Politik und Medien. Darf’s noch ein bisschen mehr sein? Natürlich: Der EM-Titel. Das hat dazu geführt, dass der EM, vor dem Anpfiff alles Spielerische abhandengekommen ist: das Lässige, das Coole.

Wenn man die beschwörenden Stimmen zusammennimmt, die sich nun dieses und jenes von der EM erhoffen, geht es bei diesem Fußball-Wunschkonzert im Kern offenbar um eins: Um Deutschland und sein Selbstverständnis; um ein Land, dass sich seiner selbst nicht mehr sicher ist und sich nun ein bisschen von sich selbst erholen will. Dass Deutschland in diesem Sommer eine Pause von Deutschland bekommt. Das Sommermärchen 2024 als vierwöchiges Deutschland-Genesungswerk – das wäre vermutlich tatsächlich ein Erfolg.

Auf der WM 2006 hat für das deutsche Nationalteam kein gesellschaftlicher Erwartungsdruck gelastet, nur sportlicher. Dem ist der damalige Bundestrainer Klinsmann – an dessen Name heute kaum erinnert wird, als wollten viele vergessen, wie toll sie ihn damals fanden – mit seinem Team auf junge, fröhliche und spielerische Weise begegnet. Dazu der Kaiser. Eine ansteckende Leichtigkeit, von der das Land heute unendlich weit entfernt scheint.

Die Überidentifikation der Deutschen seit dem Sommermärchen mit ihrer Nationalmannschaft, und deren schwerer Absturz der vergangenen Jahre, lässt diese längst verflogene Leichtigkeit vielleicht nicht mehr zu. Da ist über die Jahre durch ökonomische und gesellschaftspolitische Instrumentalisierung auch sportliche Unschuld verloren gegangen. Am Spielfeldrand spiegeln sich im jungen Gesicht von Bundestrainer Nagelsmann immer wieder die neuen Realitäten und Erwartungen: Härte. Druck. Kämpfen. Siegen. Müssen.

In aufreibenden Zeiten ist bei der EM die politische Fallhöhe groß, weit größer als bei der WM 2006. Die Außenministerin eines Landes, das seit einiger Zeit mit wachsendem Unbehagen und immer größerer Sorge spürt, wie es von den Rändern im Innern in die Polarisierung getrieben werden soll und sich im Äußeren gegen lange verdrängten Bedrohungen rüsten muss, hat die neuen Erwartungen an das Turnier im ARD-Beitrag „Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024?“ entsprechend formuliert: Die EM solle zeige, wofür Deutschland stehe, so Annalena Baerbock. Das EM-Motto – „Vereint im Herzen Europas“ – stehe für das, was Europa starkmache, das Turnier könne daher nicht nur ein „richtiges Sommermärchen“ werden, sogar ein „Friedenszeichen“.

Keine Frage: Mehr geht nicht. Über das größte anzunehmende Unglück für die EM – gegen das sich die Sicherheitskräfte seit vielen Monaten wappnen – muss man nicht viele Worte verlieren. Die Bedrohungen sind real, jeder weiß davon.

Die Unterschiede im Selbstverständnis der Macher und Promotoren von 2006 und 2024 sind evident. Das WM-Motto lautete damals: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“ Damit wurde keine übermäßige gesellschaftliche Erwartung geweckt. Es war eine Einladung, dass jeder Gast so sein kann, wie er ist – und in Deutschland willkommen geheißen wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Anspruch war bescheiden. Auch das führte dazu, dass Deutschland der Welt ein neues, freundliches Bild von sich selbst präsentieren konnte, dass seinem Ansehen gutgetan hat – und vielen Menschen in diesem Land. Vor der EM 2024 ist in Deutschland jetzt viel von Deutschland die Rede. Und wenig von seinen Gästen.

Zu den Gästen zählt Russland heute wieder nicht. Doch im Jahr 2006 hatte das rein sportliche Gründe. China, Südkorea, Brasilien, Saudi-Arabien, Iran und die Vereinigten Staaten waren hingegen dabei, die Welt in ihrer ganzen Verschiedenheit. Wenn nun in Deutschland Fußball-Europa zusammenkommt, dann ist das ein Treffen, dass über Europas Grenzen und Begrenzungen kaum hinausweisen wird. Der Blick auf die damaligen WM-Teilnehmer und die heutige Weltlage ist auch ein Hinweis auf den politischen und ökonomischen Bedeutungsverlust Europas in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

Was bleibt in veränderten Zeiten vor der EM? Vielleicht ein Fröhliches: „Geht’s raus und schaut’s Fußball.“ Das wäre zumindest ein schöner Doppelpass mit der deutschen Fußball-Vergangenheit, vielleicht auch ein Anfang.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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