Der Schmerz über das bittere Aus im Viertelfinale tut Fußball-Deutschland gut. Er tut auch der Nationalmannschaft gut. Der Schmerz, den das Tor der Spanier zum 1:2 in der letzten Minute der Verlängerung erzeugte, ist aus Verbundenheit entstanden. Ein Gefühl, das sich in den vergangenen Jahren gegenüber der Nationalelf weitgehend aufgelöst hatte. Das Scheitern bei den Weltmeisterschaften in Katar und Russland sowie bei der Europameisterschaft 2021 hat bei den Deutschen irgendwann nur noch Schulterzucken hervorgerufen. Oder Häme.
Eine Niederlage kann auch ein großer Gewinn sein. Das gilt in diesem Fall sportlich und gesellschaftlich. Der Bundestrainer hatte am Tag nach der Niederlage die wohl bemerkenswertesten Momenten seiner vergleichsweise jungen Karriere. Er nahm mit feuchten Augen auf emotional, aber auch intellektuell überzeugende Weise das große Ganze bei dieser Europameisterschaft für dieses Land in den Blick, wie das vor ihm nicht vielen Bundestrainern vergönnt gewesen ist. Sein Wunsch, dass von der Energie und dem Wir-Gefühl, die die Nationalelf in diesem Sommer erzeugt hat, nun jeder auch etwas mit in seinen Alltag nehmen kann, um nach Gemeinsamkeiten und Lösungen zu suchen, um die Dinge zusammen ein bisschen besser zu machen in einem Land, das ansonsten mit sich hadert und kaum mehr zusammenfindet, war ein Appell, wie man ihn sich von einem Toprepräsentanten des deutschen Sports nur wünschen kann. Mit seinen gerade 36 Jahren scheint auch Nagelsmann – der junge Aufsteiger, der aus den kühlen Erfolgsunternehmen Hoffenheim und RB Leipzig sowie dem Erfolgsproduzenten FC Bayern München zur Nationalmannschaft kam – ausgerechnet als Bundestrainer seine Rolle gefunden zu haben.
Um es eher soziologisch als sportlich zu sagen: Die Europameisterschaft hat ganz im Sinne von Nagelsmann gezeigt, dass es in einer Gesellschaft der Singularitäten immer noch möglich, und vor allem dringend nötig ist, Momente des Wir-Gefühls zu erzeugen, in denen gemeinsame Ziele, Wünsche und vielleicht sogar Träume spürbar werden. Dass es sich lohnen kann, gemeinsam zu kämpfen. Diese Bindefähigkeit hat der Fußball wie kein andere gesellschaftliche Kraft. Auch – oder vielleicht gerade – nach einem verlorenen Spiel. Es gibt jedenfalls nicht viele Niederlagen in der langen Geschichte der Fußball-Nationalmannschaft, die es geschafft haben, diese Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, wie dies mit dem Aus im Viertelfinale gelungen. Und vermutlich keinen aus dem Fußball, der es so ausgesprochen hat.
Dass man bei der Europameisterschaft gleichzeitig auch jene Seite des Wir-Gefühls gesehen hat, dass auf Spaltung und Abgrenzung setzt, ist dabei nur die andere gesellschaftliche Wahrheit dieser Tage: Der Wolfsgruß und Erdogan lassen in Berlin grüßen.
Der türkische Staatspräsident hatte nach der Sperre für Torschütze Demiral, der mit dem Erkennungszeichen der rechtsextremen „Ülkücü“-Bewegung (Graue Wölfe) den Sieg im Achtelfinale gegen Österreich auf dem Spielfeld gefeiert hatte, seine Reise nach Aserbaidschan abgesagt und war stattdessen zum Viertelfinale der Türkei gegen die Niederlande (1:2) in die deutsche Hauptstadt eingeflogen. Mit im Gepäck der belasteten und in diesem Fall auch gescheiterten Beziehung: der deutsche Weltmeister Mesut Özil, der im Olympiastadion vor vierzehn Jahren von Bundeskanzlerin Angela Merkel noch zum Symbol für gelungene Integration in Deutschland gemacht worden ist. Und sich dazu machen ließ.
Die gellenden Pfiffe der türkischen Fans beim Viertelfinale im Olympiastadion, bei jedem Ballbesitz der Niederländer, werden in Deutschland noch länger nachhallen. Noch stärker nachwirken als die scheußliche Stimmung im Stadion dürfte allerdings der in Berlin an diesem Tag geradezu omnipräsente Wolfsgruß zahlreicher Anhänger während des Abspielens der türkischen Nationalhymne – und auf dem Fanmarsch dorthin, der von der Polizei vorzeitig aufgelöst wurde, weil sie nicht duldete, dass er für politische Botschaften genutzt wird. Die politische Botschaft – das Trennende – war in diesem Moment aber längst angekommen in Berlin.
Im Schatten der Politik ein letztes sportliches Wort zu dieser Europameisterschaft aus deutscher Sicht – und damit zur sportlichen Zukunft: Auch wenn Toni Kroos, der wohl größte deutsche Spieler seit Franz Beckenbauer, an diesem Abend seine unvergleichliche Karriere beendet hat, wird die Nationalelf an den Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monaten wachsen. Das muss und wird vermutlich nicht gleich zum WM-Titel 2026 führen, den Nagelsmann am Wochenende schon ins Auge gefasst hat. Aber aus der Niederlage gegen Spanien werden die Spieler und auch der Bundestrainer lernen (müssen).
Aus dem Nichts, aus dem die Nationalelf und Nagelsmann bei dieser Europameisterschaft gekommen sind, gewinnt keine Mannschaft ein großes Turnier. Aber ganz sicher hat der deutsche Fußball wieder gute Voraussetzungen, um in die Weltspitze zurückzukehren. Nicht zuletzt wegen des neuen Geists und den offensiven Ausnahmespieler Musiala und Wirtz, aber vor allem wegen des Bundestrainers. Auch wenn Nagelsmann mit seiner Startaufstellung gegen Frankreich zu viel wollte: die Nationalelf hat endlich wieder einen Trainer, der coachen kann. Und selbst eigene Fehler (wie in diesem Fall mit Can und Sané statt Andrich und Wirtz) notfalls schnell korrigiert.
Der Bundestrainer hat der gesamten Mannschaft Struktur, Hierarchie und seinen Spielern entsprechende Rollen vermittelt – und ihr mit widerbelebten und fälschlicherweise als überholt angesehenen deutschen Tugenden wieder eine eigene Identität verschafft: Wettkampfhärte und Widerstandskraft, mit erzwungenen Toren in letzter Minute. Alle hauen sich wieder rein im Nationaltrikot. Darauf lässt sich viel aufbauen. Auf mittlere Sicht dürfte zudem das große Talent Pavlovic auf dem neuen Weg helfen, der mit 20 Jahren jetzt aber noch nicht die Lücke füllen kann, die Kroos im defensiven Mittelfeld hinterlässt. Aber auch dort, in der Zentrale des deutschen Spiels, gibt es in einem in seinem Selbstverständnis runderneuerten Team wieder Perspektiven. Man kann es auch so sagen: Das vorzeitige Ende bei der Europameisterschaft ist ein guter Anfang, ein sehr guter Anfang.