Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 23. Mai 2024

Die Hochschulen sind immer noch ein Schmelztiegel

Mehr als die Hälfte aller 18-Jährigen beginnt heute ein Hochschulstudium, aber sie kommen längst nicht alle aus Akademikerhaushalten. Das Studium stellt noch immer einen Bildungsaufstieg dar. Oliver Günther, Präsident der Universität Potsdam, und Christina Wolff, Gleichstellungsbeauftragte, sehen es als entscheidende Aufgabe der Hochschulen, den jungen Menschen einen Weg aus ihren jeweiligen Blasen aufzuzeigen. Mit ihrem Standpunkt antworten sie auf Sebastian Turners Beitrag „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Sebastian Turner nimmt mit seinem Text einen neuen, innovativen Blickwinkel auf die aktuellen Strukturprobleme unserer bundesdeutschen Gesellschaft ein. Insbesondere die Problematik der Zusammensetzung unserer Parlamentarier ist so nicht allgemein bekannt. Aber nicht nur die Abgeordneten des Bundestags leben in einer „Akademikerbubble“, einer Blase von akademisch Sozialisierten. In vielen Familien der Ober- und Mittelschicht sterben die nicht-akademischen Verwandten allmählich aus, die Kinder haben kaum noch Verwandte und Bekannte ohne Hochschulbildung. Das stellt eine durchaus signifikante Veränderung gegenüber der Nachkriegszeit dar.

Angesichts der Tatsache, dass heute mehr als 50 Prozent aller 18-Jährigen ein Hochschulstudium beginnen (und die meisten davon auch eines abschließen, wenngleich nicht immer das zunächst gewählte), ist dies nicht allzu überraschend. Das ändert zwar nichts an der von Turner beschriebenen Problemlage, gleichwohl ist es wichtig zu verstehen, dass wir uns noch mitten in einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation befinden. Vor hundert Jahren studierten zwei bis drei Prozent eines Jahrgangs an der Universität. In den 1980er-Jahren haben in der alten Bundesrepublik 14 Prozent ein Hochschulstudium absolviert, in der DDR waren es elf Prozent. Heute liegen wir deutschlandweit wie gesagt bei deutlich über 50 Prozent.

Nun aber Achtung: Von den 2,8 Millionen Menschen, die derzeit in Deutschland studieren – so viele wie noch nie zuvor –, kommen laut der 22. Sozialerhebung der Deutschen Studierendenwerke „nur“ 56 Prozent aus einer Akademikerfamilie, das heißt, einer Familie, in der mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat. Auch dieser Anteil hat natürlich über die Jahre hinweg zugenommen, von 36 Prozent im Jahr 1991 auf die besagten 56 Prozent im Sommersemester 2021. Somit kommen immerhin 44 Prozent der aktuell Studierenden aus einer Familie ohne akademischen Hintergrund. Das Hochschulstudium stellt also immer noch für fast die Hälfte aller Studierenden einen Bildungsaufstieg dar. Die Hochschulen taugen demnach durchaus noch als „Melting Pot“, als Schmelztiegel von „Akademikerbubble“ und Bildungsaufsteigern. Ganz so schlimm wie in den Parlamenten ist es an den Hochschulen also nicht.

Gleichwohl stellt sich die Frage, was wir Hochschulen den über 50 Prozent eines Jahrgangs, die bei uns anlanden, nun mitgeben möchten. Wichtig ist, den (meist) jungen Menschen einen Weg aus ihren jeweiligen Blasen aufzuzeigen, sie mit Ungewohntem, auch Unerfreulichem zu konfrontieren und sie erst gar nicht in Versuchung zu bringen, sich mit dem zu Schulzeiten vielleicht erfahrenen „Klassismus“ abzufinden. Wir müssen sie darin schulen, in diversen Zusammensetzungen – divers hinsichtlich Religion, Ethnie und eben auch sozialer Herkunft – an gemeinsamen Zielen zu arbeiten, dabei andere Perspektiven zu verstehen und kontroverse Diskussionen zu führen. Wir wollen diverse Personengruppen in unsere Hochschulen inkludieren, in noch stärkerem Maße als bisher, und bei den Studienbedingungen, im Studienalltag und in der Kommunikation Hürden abbauen. Diversität darf nicht nur ein Marketing-Aushängeschild sein.

Aber sind wir Hochschulen wirklich dafür bereit? Als bis vor kurzem doch eher homogene Orte, die bezüglich echter Strukturveränderungen ein recht hohes Beharrungsvermögen aufweisen? Seit knapp 120 Jahren dürfen Frauen studieren, aber wir haben immer noch Frauenförderprogramme. Programme zur Förderung von Erstakademikerinnen und Erstakademikern wie „Arbeiterkind“ fassen nur langsam Fuß. Daher die Frage: Sind wir Hochschulen vorbereitet auf all die „Diversität“, die jetzt gefordert wird?

Diese Frage stellt sich umgekehrt auch für die Menschen im System. So werden etwa internationale Studierende oder Angehörige der ersten Akademikergeneration andere Bedürfnisse haben als Studierende, die in deutschen Akademikerhaushalten aufgewachsen sind. Nicht alles im Hochschulalltag leuchtet sofort ein, so zum Beispiel die Redekultur auf dem Campus, die Begriffe und Abkürzungen, die genutzt werden. Das Konzept des Tokenism der US-amerikanische Soziologin Rosabeth Moss Kanter aus den 1970er-Jahren beschreibt gut, wie mit marginalisierten Gruppen umgegangen wird. Bis zu einer bestimmten Grenze passen sie sich an und fallen nicht auf. Überschreiten sie diese Grenze, werden ihre Unterschiede zum Rest als überbetont wahrgenommen. So haben Studierende aus Nicht-Akademikerhaushalten mit ihrem Wissen oft keine mächtige Position. Als Strategie wählen sie dann das Nicht-Auffallen, oder aber das Überbetonen der Unterschiede. Ihre Perspektiven finden damit weniger Gehör, andere Personengruppen haben Schwierigkeiten, ihre Perspektive zu verstehen.

Was also können wir Hochschulen besser machen, um Studierenden ihre „blinden Flecke“ aufzuzeigen und so auch die von Sebastian Turner angesprochene Blasenbildung zu vermeiden oder wenigstens zu reduzieren? Wir sehen die positiven Seiten von Turners Idee eines Praktikums für alle. Wobei ein Tag pro Jahr in der Praxis das Problem nicht lösen wird. Ein paar Wochen pro Jahr müssten es schon sein. Das muss kein zusätzliches Semester sein, sondern kann auf die Semesterferien geschoben werden, so ist es ja auch in vielen Ingenieurstudiengängen schon (bzw. immer noch) geregelt. Bei den Lehramtsstudierenden bieten sich in verstärktem Umfang Praktika in Schulen an. Und auch für Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften wäre ein solches Praktikum sicherlich hilfreich. Das könnte einen Beitrag leisten, die Nachteile der von Turner beklagten Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht (wobei sie bisher ja nur Männer betraf), aber auch den Boom der Privatschulen teilweise auszugleichen.

Entscheidend ist aber die gestiegene Pluralität und Diversität in den Hochschulen selbst und wie damit umgegangen wird. Es gilt, vielfältige Stimmen zu hören, Generationskonflikte anzuerkennen und divergierende Meinungen, die auf unterschiedlichen Lebenserfahrungen beruhen, nicht nur zu tolerieren, sondern zu reflektieren. So wollen wir dazu beitragen, dass unsere Absolventinnen und Absolventen eben nicht in einer dann noch größeren Akademikerblase versinken, die dann zwar über 50 Prozent der Bevölkerung ausmacht, gleichwohl aber die anderen außen vor lässt und für populistische Parteien anfällig macht.

Professor Dr. Oliver Günther ist Wirtschaftsingenieur und Wirtschaftsinformatiker, von 1993 bis 2011 war er Professor für Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2012 ist er Präsident der Universität Potsdam. Christina Wolff ist Soziologin und die Gleichstellungsbeauftragte und Leiterin des Koordinationsbüros für Chancengleichheit der Universität Potsdam.

Alle bislang erschienen Beiträge der Serie lesen Sie hier.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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