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Erscheinungsdatum: 21. März 2024

Die doppelte Schieflage der Diplomiertendemokratie

Ein Drittel der Bevölkerung hat den Glauben an die Demokratie verloren. Sie fühlen sich nicht mehr repräsentiert – und sie sind auch nicht repräsentiert. In den Parlamenten sitzen heute mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrationsgeschichte, aber kaum Absolventen von Real- und Hauptschulen und schon gar keine Globalisierungsverlierer. Dazu kommt: Die Entscheidungsmacht der Parlamente sinkt zugunsten von Expertengremien, also reinen Akademikerrunden. Darüber schreibt Professor Michael Zürn in seinem Standpunkt für die Serie „Hacking Populism“.

Die Akademisierung der politischen Klasse bringt Probleme mit sich. Darauf hat Sebastian Turner in seinem Beitrag zurecht aufmerksam gemacht, aber auch er unterschätzt noch ihre Folgen. Mit der Akademisierung verbindet sich nicht nur die Neigung zur Überbürokratisierung. Sie führt auch zu inhaltlichen Schieflagen und im Ergebnis zur „Zwei-Drittel-Demokratie.“ Das dritte Drittel fühlt sich nicht mehr der Demokratie verbunden, was sich als fatal erweisen könnte. Das zeigt nicht zuletzt ein Vergleich der Generationen.

Der Fehler des pluralistischen Himmels ist, dass der himmlische Chor mit einem starken Oberklassenakzent singt. Das schrieb der amerikanische Politologe Elmer E. Schattschneider 1960. Parlamente waren nämlich noch nie ein getreues Abbild der Bevölkerung: In den meisten Ländern sind Männer seit jeher überrepräsentiert, die Abgeordneten älter als der Bevölkerungsdurchschnitt und Menschen mit Migrationsgeschichte stark unterrepräsentiert. Diese Repräsentationsdefizite haben sich in den letzten Jahrzehnten etwas abgemildert. An anderer Stelle hat sich die Unwucht jedoch verstärkt: Akademikerinnen und Akademiker, deren Anteil schon immer über dem Durchschnitt der Bevölkerung lag, sind heute besonders stark überrepräsentiert, weshalb manche von einer „Diplomiertendemokratie“ sprechen. Damit hat sich der Akzent des himmlischen Chors, verglichen mit Schattschneiders Zeiten, etwas verändert, aber er ist noch viel deutlicher vernehmbar.

Den Gegenpol zur bürgerlichen Oberklasse stellte 1960 in der damaligen Industriegesellschaft die Arbeiterklasse dar. Sie war zwar in der politischen Elite unterrepräsentiert, aber doch deutlich sichtbar. Der Blick auf die Biografie der Abgeordneten, die 1961 für die SPD gewählt wurden, zeigt das. Auch in der SPD waren die Akademikerkinder schon gut vertreten. Aber es gab auch andere, von denen sich die Arbeiterklasse nicht nur inhaltlich, sondern auch symbolisch-kulturell repräsentiert fühlte. Die alphabetische Liste beginnt mit Luise Albertz, die erste deutsche Bürgermeisterin in einer Großstadt (Oberhausen) und „Mutter Courage des Ruhrgebiets“ (Heinz Kühn). Ihr Vater starb als überzeugter Sozialdemokrat im KZ und sie durchlief eine typisch sozialdemokratische Sozialisation. Mit 14 Jahren trat sie der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) bei und mit 18 Jahren der SPD. Sie besuchte die Volksschule, die Handelsschule und absolvierte eine Buchhalterlehre.

Kurz darauf in der Liste folgt der spätere Minister Walter Arendt, dessen Vater an Staublunge starb und der selbst im Bergbau tätig war. Hans Bals absolvierte eine Schreinerlehre und Willy Bartsch begann seine Berufslaufbahn als Lackierer. Mit dem Buchstaben A gibt es auch noch den Realschulabsolventen, Journalisten und homosexuellen Widerstandskämpfer Jakob Altmeier, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Selbst die, die von ihrer Berufstätigkeit kaum der Arbeiterklasse zugerechnet werden konnten, besaßen noch deren symbolisch-kulturellen Stallgeruch.

Inzwischen ist eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie zur alten Klassenfrage hinzugetreten. Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer geschaffen. Die kosmopolitischen Gewinner sind weltoffen, für offene Grenzen, für starke internationale Institutionen, für Toleranz und Vielfalt. Die heimatgebundenen Verlierer sind gegen die Denationalisierung. Das zentrale sozialstrukturelle Merkmal der Verlierer sind niedrige Bildungsabschlüsse. Diejenigen, die nur einen Volksschul- oder Realabschluss haben, sind aber im Parlament dramatisch unterpräsentiert und unsichtbar. In den Biografien findet man dagegen nicht selten den Dreischritt „Schule-Uni-Politik“. Das führt zu der von Sebastian Turner beobachteten Ferne zum Alltag vieler Menschen. Dazu kommt, dass fast alle Abgeordneten studiert haben, mehrere Sprachen sprechen und Globalisierungsgewinner sind. Fangen wir wieder vorne bei der SPD an. Sanae Abdi, geboren in Marokko, Jurastudium an drei Universitäten und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der GIZ; Adis Ahmetović, in Hannover geboren, mit Staatsexamen und angesichts des geringen Alters enorm viel Erfahrung in der niedersächsischen Politik; Reem Alabali-Radovan, geboren in Moskau, später wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Orient Institut. Um die Diversität des deutschen Parlaments ist es in der Summe tatsächlich nicht so gut bestellt, wie es diese ersten drei Namen der SPD suggerieren. Sie verweisen aber deutlich auf ein anderes Repräsentationsdefizit.

Solche Biografien mögen einerseits zur Unkenntnis über die Mühen des betrieblichen und manuellen Alltags beitragen. Das ist Turners Punkt. Sie übersetzen sich aber auch in politische Positionen und Interessenlagen. Martin Gilens konnte das für die USA in einer einflussreichen Studie zeigen. Er überprüfte für fast 2.000 Sachfragen in den USA, wer in der Bevölkerung welche Politiken unterstützte und wie anschließend politisch entschieden wurde. Gilens glich Umfrageergebnisse mit Politiken ab, und konnte so zeigen, wessen Präferenzen umgesetzt werden. Als Ergebnis stellt er eine deutliche Schieflage zugunsten der Gebildeten und Reichen fest. Nun ist es nicht so, dass die politischen Anliegen schlechter gestellter Gruppen nie umgesetzt würden, doch ob dies geschieht, ist davon abhängig, ob sie ähnliches wie die Bessergestellten anstreben. In den USA führten dies viele auf das verkommene System der Wahlkampffinanzierung zurück. Aber der Politikwissenschaftler Armin Schäfer replizierte das Forschungsdesign für Deutschland – und kam zu mehr oder weniger identischen Ergebnissen.

Nicht genug damit. Demokratie ist laut Winston Churchill der Vorgang, bei dem der kleine Mann in einer kleinen Kabine auf einem kleinen Zettel (da lag er mit Blick auf Deutschland falsch) ein kleines Kreuz macht. Damit bestimmte der kleine Mann (und natürlich auch die kleine Frau) die Zusammensetzung der Parlamente. Nun bieten diese Parlamente heute nicht nur keine hinreichende Repräsentation der Interessen der Globalisierungsverliererinnen, sie haben auch immer weniger zu sagen. Das Kreuz wird entwertet. In jeder Krise der letzten 15 Jahre hat sich der zunehmende Macht- und Bedeutungsrückgang der Parlamente gezeigt. Entscheidend sind Expertinnen, Ministerpräsidentenrunden, Zentralbanken und europäische Institutionen. Dafür stehen die Namen Draghi und Drosten. Expertengremien, nicht-majoritäre sowie europäische und internationale Institutionen, also jene, an die die nationalen Parlamente Macht abgegeben haben, treffen aber auch systematisch eher solche Entscheidungen, die im Interesse der gebildeten Kosmopoliten liegen.

Das Ergebnis dieser doppelten Schieflage besteht darin, dass inzwischen ein Drittel den Glauben an die Demokratie verloren haben. Sie fühlen sich in der Diplomiertendemokratie nicht mehr repräsentiert. Unter den Motivlagen dominiert laut Umfragen sowohl bei den Nichtwählerinnen als auch bei den AfD-Wählern die eine: „Es hat keinen Sinn zu wählen, weil die Parteien und Politiker doch machen, was sie wollen.“ Das ist dann die böse politische Klasse, die durch die sogenannten Systemparteien vertreten wird. Wenn man Umfragen genau anschaut, so ist es teilweise überraschend, wie groß die Mehrheit ist, die mehr Geschlechtergerechtigkeit, mehr Umweltschutz wollen und auch mehr Toleranz begrüßen. Das ist der Mehrheitskonsens in manchen Sachfragen, der den Soziologen Steffen Mau zu der Einschätzung führt, es gebe keine Polarisierungen in unserer Gesellschaft. Eindeutig gespalten sind allerdings die Menschen bei der Frage nach der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Ähnliches zeigt eine Untersuchung der Politologen Bernhard Wessels und Hans-Dieter Klingemann: 16 Prozent der Bevölkerung finden die „etablierten“ Parteien unsympathisch; 28 Prozent zweifeln an ihrer Lösungskompetenz; aber satte 45 Prozent fühlen sich von keiner der „etablierten“ Parteien vertreten. Statt „no tax without representation“ gilt heute „no support for democracy without representation“. Davon profitiert die AfD und auch andere Neugründungen. Die demokratischen Parteien treibt diese Entwicklung in die Enge und führt zu Notkoalitionen, die sich mit Kompromissen und gemeinsamen Beschlüssen schwertun. Das tut dann sein Übriges.

Im Zuge dieser Entwicklungen steht ein Lehrsatz der internationalen Umfrageforschung auf der Kippe, wonach junge Menschen progressiver, liberaler und demokratischer eingestellt sind als Ältere. Zwar haben die Brexit-Abstimmung und auch die Wahl von Donald Tusk gezeigt, dass − wenn es Spitz auf Knopf steht − die Jungen sich in der Mehrheit nach stärker pro-europäisch verhalten als die Alten. Die erweiterten Optionsräume einer offenen Gesellschaft möchten sie mehrheitlich nicht missen. Wenn es aber um die Frage nach der Demokratiezufriedenheit geht, so sind es in Westeuropa inzwischen die 50- bis 65-Jährigen, die sich hinter die Demokratie stellen. Und weltweit spricht sich diese Generation inzwischen mehr für liberale Einstellungen aus als die jüngeren Generationen, wie der PALS-Survey zum liberalen Skript zeigt. Die Jungen haben aktuell geringere Durchschnittswerte, die sich aber, das zeigt dann der zweite Blick, vor allem durch die Abwendung von denjenigen innerhalb der jungen Generation zustande kommt, die keine gute Ausbildung genossen haben, die sich nicht repräsentiert und ausgeschlossen fühlen. Auch in der Gruppe der Nichtwählerinnen in Deutschland nimmt diese Generationenschere deutlich zu. Bei den gut Gebildeten gehen knapp 90 Prozent der Jungen zur Wahl, bei den Jungen mit niedriger Bildung sind es nur 35 Prozent. Die Schere schließt sich mit dem Alter. Und bei den Jungen nimmt die Abwendung von der Demokratie zu. Das scheint mir die ganz große Generationenfrage unserer Zeit zu sein.

Prof. Dr. Michael Zürn ist Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin

Alle Beiträge der Serie „Hacking Populism“ finden Sie hier.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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