Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 05. September 2024

Medialer Populismus: Kulturelle Hegemonie in der Aufmerksamkeitsökonomie

In seinem zweiten Beitrag zur Serie „Hacking Populism“ widmet sich Stephan Russ-Mohl dem medialen Populismus. Journalismus könne bei zahlungsunwilligem Publikum nur überleben, wenn er einerseits billig produziert und andererseits Aufmerksamkeit generiert, argumentiert der Medienwissenschaftler. Deshalb werde PR übernommen, insbesondere Zuspitzungen und Übertreibungen. Der Kampf um Aufmerksamkeit in der Sphäre der Ökonomie konkurriert mit dem Streben nach Vorherrschaft im politisch-kulturellen Raum. Russ-Mohl fordert eine bessere Aufklärung über die Eigenheiten des Medienbetriebs. Mit der Serie „Hacking Populism“ zeigt Table.Briefings Wege auf, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Table.Briefings-Herausgeber Sebastian Turner fokussiert bei seiner Suche nach den tieferen Ursachen des Populismus auf einen blinden Fleck in unserer Wahrnehmung: die dominante Rolle, die Akademiker und inzwischen erwachsene Akademikerkinder in der Welt der Entscheidungsträger spielen.

Während Turner diesen Bereich sozusagen mit dem Teleobjektiv ausleuchtet, möchte ich selbst in meinem zweiten Beitrag zu dieser Serie die Perspektive wechseln und mit der Weitwinkel-Kamera dem „medialen Populismus“ nachspüren. Es geht um zwei große Trends, die das Mediengeschehen und den Journalismus zunehmend prägen, vermutlich ohne, dass die meisten Journalistinnen und Journalisten sich dessen bewusst sind und das so wirklich wollen.

Wer nach den Ursachen des Niedergangs von Journalismus sucht, stößt auf Erklärungsversuche, die meist alternativ angeboten werden: Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit in der Sphäre der Ökonomie und der Kampf um kulturelle Hegemonie in der Arena der Politik. Was sich tatsächlich in der Öffentlichkeit abspielt, wird aber erst begreifbar, wenn man versucht, beide zusammenzudenken: Die Aufmerksamkeitsökonomie konkurriert und korrespondiert mit dem Streben nach Vorherrschaft im politisch-kulturellen Raum. Wissenschaftler spüren indes je nach der Brille, die sie tragen, meist entweder dem einen oder dem anderen Phänomen nach.

Beginnen wir mit der Aufmerksamkeitsökonomie. Es war der Wiener Sozialforscher Georg Franck, der sie kurz vor der Jahrtausendwende „entdeckte“. Die Aufmerksamkeitsökonomie liefert die zentralen Erklärungen für den Niedergang des Journalismus: Weil die werbetreibende Wirtschaft die Aufmerksamkeit ihrer Kundschaft treffsicherer über Suchmaschinen und soziale Netzwerke erreichen kann, sind die Erlöse der herkömmlichen Medienhäuser versiegt – und die Redaktionen schrumpften von Sparrunde zu Sparrunde immer weiter. Weil andererseits öffentliche Aufmerksamkeit für Politiker, Unternehmen und Kulturschaffende viel mehr wert ist als kritischer Journalismus, der für die Öffentlichkeit und die Demokratie unentbehrlich ist, wurde noch und noch in Public Relations statt in Redaktionen investiert. Und weil der Journalismus bei zahlungsunwilligem Publikum nur überleben kann, wenn er einerseits billig produziert und andererseits Aufmerksamkeit generiert, wird PR gerne übernommen – insbesondere dann, wenn sie zuspitzt, übertreibt und möglichst den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang verkündet.

Diesen „Grundgesetzen“ der Aufmerksamkeitsökonomie ist kaum zu entkommen. Aber für Otto und Liese Normalbürger wird alles noch fataler, weil im öffentlichen Raum der Kampf um kulturelle Hegemonie tobt – und zwar nicht nur im Politik- und Kulturbetrieb sowie in den PR- und Werbeagenturen, sondern längst auch in den Redaktionen der Medienunternehmen. All diejenigen, die diesen Kampf austragen, kennen die Funktionsweise der Aufmerksamkeitsökonomie. Sie nutzen sie nicht, um die Staatsbürger so ausgewogen und wahrheitsgemäß wie möglich zu informieren, sondern wollen sie beeinflussen und auf ihre Seite ziehen.

Geprägt hat den Begriff der „kulturellen Hegemonie“ der italienische Philosoph und Kommunist Antonio Gramsci. Wie nahezu alle Revolutionäre und Sozialistenführer hat ihn die Frage beschäftigt, wie sich die Macht im Staate und im Gemeinwesen erringen lasse – und er hat früher als andere erkannt, welche Rolle im Kampf um Vorherrschaft der kulturelle Unter- und Überbau und damit die Zivilgesellschaft spielt, in die Politik eingebettet ist.

Im Kampf um Hegemonie geht es also um Vorherrschaft im Vorfeld der Politik. Ohne diese Dominanz lässt sich politische Macht nicht dauerhaft stabilisieren. Gramsci zufolge besteht bei der Ausübung von politischer Macht ein Dualismus aus Zwang und Konsens. Er differenziert zwischen der politischen Gesellschaft und der zivilen Gesellschaft. In der einen Sphäre werde Macht durch Zwang ausgeübt – also mit Gesetzen, die umgesetzt werden. Dazu brauche es aber in der anderen Sphäre, der Zivilgesellschaft, Konsens, der die Machtausübung unterfüttert.

Hegemonie bildet und erhält sich selbst durch die Hegemonieapparate des Staates und der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel durch Schulen, Kirchen, Universitäten, Vereine und Massenmedien. Damit wirkt sich die Hegemonie nicht nur auf die unmittelbar politischen Bereiche des Lebens aus, sondern als kulturelle Macht auch auf die Sitten, die Sprache, die Traditionen, die Werte – und sogar das, was man als gesunden Menschenverstand bezeichnet.

Politische Gruppen, die nach Macht und somit nach kultureller Hegemonie streben, neigen oftmals zu Schwarz-Weiß-Denken: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns – ein Faktor, der im Diskurs um die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft unterbelichtet geblieben ist. Linke und grüne Aktivisten sehen in der westlichen Kultur eine Ausprägung der kulturellen Hegemonie des Kapitalismus, den sie bekämpfen. Sie sind deshalb darauf fokussiert, Geschlechterrollen, die westliche Kultur, die Religionen und sogar die Sprache zu dekonstruieren und zu hinterfragen. Womit wir bei Dagmar Rosenfeld angelangt wären. Sie geht als neue Mit-Herausgeberin des „Pioneer“ mit der eigenen Zunft ins Gericht: „Schreibst du noch, oder missionierst du schon?“, lautet ihre Frage an Kolleginnen und Kollegen. Teile der Branche praktizierten einen „Haltungsjournalismus, der das Publikum entmündigt“, einen „Journalismus, der belehrt, anstatt zu berichten. Der Debatten dominieren will, anstatt sie zu bereichern. Der Recht haben will, anstatt zuzuhören.“

Vielfach wird die rot-grüne Diskurshoheit im öffentlichen Raum beklagt. Jüngst hat sie auch die Untersuchung einer Forschergruppe um Marcus Maurer (Universität Mainz) bestätigt. Die Forscher konnten mit ihren Inhaltsanalysen zwar nicht den Verdacht belegen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk repräsentiere in besonderem Masse eine rot-grün eingefärbte kulturelle Hegemonie. Indes verorteten sie nahezu alle 47 deutschen Leitmedien, die sie untersucht haben, in jenem Quadranten, in dem liberal-progressive und sozialstaatliche Orientierung aufeinandertreffen. Die restlichen drei Quadranten (liberal-progressiv und marktliberal, konservativ-autoritär und sozialstaatlich, konservativ-autoritär und marktliberal) sind dagegen medial nur dünn besiedelt.

Den tatsächlichen Einfluss der Leitmedien zu bestimmen, ist eine Herausforderung, welche die empirische Medienforschung überfordern dürfte: Einerseits können sie dem Diktat der Aufmerksamkeitsökonomie nicht entrinnen, andererseits sind sie als Faktoren im Kampf um Hegemonie nicht zu unterschätzen. Allerdings ist, ohne Google, YouTube, Facebook, X bzw. Twitter, Instagram und TikTok einzubeziehen, weder Aufmerksamkeitsökonomie noch kulturelle Hegemonie mehr analysierbar. Deren globaler Einfluss, sprich: ihre undurchschaubaren Algorithmen, prägen wiederum auch die nationalen, regionalen und lokalen Kämpfe um Dominanz. Diese Algorithmen sowie die künstliche Intelligenz sind womöglich eine dritte prägende Komponente im Spiel des medialen Populismus um Geld und Macht. Sie sind allerdings auch den beiden skizzierten Triebkräften zuzuordnen, weil sie sich sowohl im Kampf um Aufmerksamkeit als auch um kulturelle Hegemonie instrumentalisieren lassen – von Konzerngiganten ebenso wie von Staatsführungen und ihren Geheimdiensten.

Auf allen Ebenen ist zudem Herdentrieb im Spiel. Nicht nur der Tanz ums goldene Kalb der Aufmerksamkeitsmaximierung erzeugt ihn. Auch kulturelle Hegemonie kann nur dort entstehen, wo sich Menschen wie Schafe zusammenscharen – darunter leider auch immer wieder Journalisten.

Was lässt sich tun im Kampf um medialen Populismus? Brandmauern werden sich nicht aufrichten lassen, und sie werden im Übrigen auch im Politikbetrieb keinen Bestand haben. Was helfen könnte, ist Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung – und zwar über die Eigenheiten des Medienbetriebs, von denen die meisten Mediennutzerinnen und -nutzer wenig Ahnung haben. Weil die meisten Journalistinnen und Journalisten den Medienbetrieb ebenfalls nur sehr selektiv aus der Perspektive ihres jeweiligen Arbeitsverhältnisses wahrnehmen, wäre an dieser Stelle die Medienforschung gefragt – und ein Medienjournalismus, der deren Erkenntnisse in die Öffentlichkeit trägt. Es gibt viel zu tun im Kampf gegen Populismus, der nicht zuletzt zunehmend medialer Populismus ist. Packen wir es an!

Professor Stephan Russ-Mohl war von 1985 bis 2001 Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Freien Universität Berlin und anschließend bis zur Emeritierung 2018 an der Universität in Lugano. Zusammen mit Sebastian Turner hat er 2023 das Buch „Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller Erfolgsfaktor“ herausgegeben.

Lesen Sie hier alle bisher erschienen Beiträge der Serie „Hacking Populism“.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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