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Erscheinungsdatum: 24. Juni 2024

Auch ein Toni Kroos verwandelt die deutsche Elf nicht über Nacht in Real Madrid

Die Grenzen von Toni Kroos´ Einfluss sind im gestrigen Spiel deutlich geworden: Wenn es gut läuft, kann sein Selbstbewusstsein und seine Ruhe sich auf die Nationalmannschaft übertragen. Wenn nicht, kann es so aussehen wie gegen die Schweiz.

Michael Horeni

Der Unterschied zwischen Toni Kroos und der Nationalmannschaft? Er wurde sichtbar in dem Moment, als alle deutschen Feld- und ungezählte Ersatzspieler im Jubel über das Ausgleichstor von Niklas Füllkrug in der Nachspielzeit übereinander herfielen und sich zusammen mit den Fans im Frankfurter Stadion dem Moment hingaben. Kroos jedoch stand äußerlich vollkommen ungerührt alleine im menschenleeren Mittelfeld, keine Spur von Begeisterung, kein Hauch von Emotion. Kroos befand sich rund 40, 50 Meter entfernt von der Jubeltraube in der Nähe der Eckfahne – und er hatte kein Bedürfnis, an dieser Jubelparty teilzunehmen.

Er ging stattdessen gemessenen Schrittes in Richtung Trainerbank und ließ sich eine Flasche Wasser reichen. Ein Ausgleichstor im letzten Gruppenspiel einer Europameisterschaft, das rein formal nur über den Unterschied zwischen Platz eins und zwei in Gruppe A entschieden hat, ist für den mit 34 Titeln erfolgreichsten deutschen Fußballprofi kein Grund, um auch nur für eine Sekunde die Kontrolle über sich und seine Emotionen abzugeben. Das ist vermutlich die beste Nachricht, die das Ausgleichstor zum 1:1 gegen die Schweiz für die Nationalmannschaft auf ihrem weiteren Weg bei dieser Europameisterschaft an diesem Abend geliefert hat. Da ist einer, der die Nerven behält.

Seit seiner Rückkehr und den beiden Auftaktsiegen gegen Schottland (5:1) und Ungarn (2:0) schien es manchen schon so, als habe Toni Kroos aus einer orientierungslosen Nationalmannschaft im Handumdrehen Real Madrid gemacht. Aber das ist nicht so. Schon vor dem Führungstor der Schweizer zeigte sich, dass auch Kroos auf Hilfe angewiesen ist. Dass es auch für einen der größten Mittelfeldstrategen seiner Zeit notwendig ist, dass seine Mitspieler gegen einen starken und organisierten Gegner in schwierigen Momenten ebenfalls die Nerven behalten, dass sie selbst Stärke und Souveränität ausstrahlen. So wie das einem gestählten Team wie Real Madrid seit Jahren in Fleisch und Blut übergegangen ist. Von dieser außergewöhnlichen Qualität ist die neu formierte Nationalmannschaft noch ein ganzes Stück entfernt. Das kann nach ein paar gemeinsamen Spielen auch kaum anders sein.

Das Spiel gegen die Schweiz war das erste, in dem Kroos erfolgreich und empfindlich im Spielaufbau gestört worden ist, zumindest zeitweilig. Der Führungstreffer der Schweizer war symptomatisch. In Bedrängnis spielte Kroos einen Pass auf den wiederum von zwei Gegnern bedrängten Jamal Musiala, der umgehend den Ball verlor – mit schnellem Umschaltspiel hebelten die Schweizer daraufhin die deutsche Defensive aus, die nicht mehr (gedanken-) schnell reagieren konnte. Danach war es um das Selbstbewusstsein der meisten deutschen Spieler nicht mehr gut bestellt – obwohl es mit dem bereits gesicherten Einzug ins Achtelfinale ein Sicherheitsnetz in dieser Partie gegeben hat.

In der zweiten Halbzeit verlor das deutsche Team seine spielerische Linie, auch die notwendige Geduld. Gute Torchancen erspielten sie sich nicht mehr. Und konnten von Glück sprechen, nicht 0:2 in Rückstand geraten zu sein. Auch die Grenzen von Kroos´ unschätzbaren Einfluss sind in dieser Phase deutlich geworden: Von seinem Selbstbewusstsein und seiner Ruhe kann der große Taktgeber vor allem dann etwas auf die Nationalmannschaft übertragen, wenn das Spiel im deutschen Sinne läuft. Wenn nicht, kann es dann so aussehen wie gegen die Schweiz.

Keine Frage: Das Ausgleichstor von Füllkrug in der 92. Minute ist für die Nationalelf in dieser Hinsicht ein erster Schritt, um mit Rückschlägen in der K.o.-Phase besser umgehen zu können, als ihr dies gegen die Schweiz gelungen ist. Am Willen dazu hat es dem Team von Bundestrainer Nagelsmann dabei nicht gemangelt, wohl aber an Erfahrung. Und die muss jeder Spieler selbst machen, da kann selbst Toni Kroos bei aller Coolness nicht helfen. Da hilft, so ist zu hoffen, dem gesamten Team ein Spiel wie gegen die Schweiz.

Und einer wie Füllkrug. Einer, der absolut unglamourös, aber in bestechender Einfachheit und Klarheit sein Ziel nicht aus den Augen verliert. Und der im Finale der Champions League sogar Real Madrid ins Wanken gebracht hat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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