Frau Schulz-Asche, Sie haben in Ruanda gelebt und gearbeitet, als der Völkermord begann. Wie haben Sie den Gewaltausbruch erlebt?
Meine vierjährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als am 6. April um 20.20 Uhr in Kigali ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu hören war. Danach herrschte einen Moment lang tiefste Stille – und dann meldeten die Funkgeräte den mutmaßlichen Abschuss des Flugzeugs des damaligen ruandischen Präsidenten und die ersten Straßensperren in der Stadt. In dieser Nacht begann, wie wir heute wissen, der organisierte Völkermord an den Tutsi und die Ermordung von moderaten und oppositionellen Hutu.
Wie kam Ihre Familie davon?
Wir haben uns verbarrikadiert mit allem, was wir hatten, die Fenster mit Büchern und sogar mit Spielsachen meiner Tochter. Drei Tage später gelangten wir im ersten Evakuierungskonvoi der Amerikaner nach Burundi. Unsere Mitarbeiter hatten dieses Glück nicht – nur ein Beispiel: Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines Arbeitskollegen, beide Tutsi. Sie bat verzweifelt um Hilfe, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzudringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund; dann brach das Gespräch ab. Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die gesamte Familie ermordet worden war.
Geschah der Völkermord aus dem Nichts, waren alle vorher ahnungslos?
Nein. Eine rassistisch begründete politische Radikalisierung war längst spürbar. Es gab auch vorher in einigen Gegenden Anschläge auf Tutsi, die man im Nachhinein zynisch als „Test-Genozide“ beschreiben könnte. Da wurden systematisch Menschen zusammengetrieben und ermordet. Da die Milizen aber noch nicht ihr Ziel erreichten, spitzte sich die Situation zu. Der Mob fuhr in bunten Uniformen drohend durch Kigali; Aussöhnung wurde immer unerreichbarer. Kurz: Wir wussten alle, dass das Land instabil ist und weiteres Morden droht, hatten aber nicht damit gerechnet, dass es so heftig und so umfassend durchorganisiert kommen würde.
Für wen haben Sie damals gearbeitet?
Für den Deutschen Entwicklungsdienst in einer NGO, die die Gesundheitsversorgung im Land für nichtstaatliche Einrichtungen organisierte. In dem Zusammenhang interessant: Oft arbeitete der DED mit staatlichen Organisationen zusammen. Doch da Beamte im Gesundheitsministerium bereits einen gewissen negativen Ruf hatten, arbeitete der DED bei der Gesundheitsversorgung mit einer kirchlichen Organisation zusammen. Meine direkte Chefin dort ist gemeinsam mit ihrem Mann während des Völkermords umgebracht worden. Ihre Kinder überlebten und wurden von deutschen Kollegen aufgenommen.
Deutschland war 1994 zweitgrößter Geberstaat für Ruanda; vor Ort gab es auch eine UN-Schutztruppe. Der Völkermord geschah also gewissermaßen vor den Augen der Welt. Welche Lehren ziehen Sie daraus?
Damals ist fast als erstes das belgische UN-Kontingent, das die Premierministerin schützen sollte, umgebracht worden; die UN hat sich nicht gewehrt und auch niemanden beschützt. Man muss also lernen, wie man robuste Mandate aufbaut, die tatsächlich Schutz bieten können und nicht selber Opfer schaffen. Sehr lange wurde ja über diese robusten Mandate diskutiert. Mittlerweile werden sie – robust oder nicht – eins nach dem anderen zugemacht, siehe Kongo und Mali. Inzwischen haben wir aber in Afrika kaum noch Regionen, wo solche neuen UN-Mandate nicht dringend notwendig wären. Im Sahel erlebt die Bevölkerungsgruppe der Peulh, überwiegend Viehzüchter, derzeit genozidale Attacken seitens der Armee und der Milizen, die vorgeben, die Interessen der Ackerbauern zu vertreten.
Welche Rolle spielt die Kolonialgeschichte für den Rassismus in Ruanda?
Die deutsche Präsenz bis zum ersten Weltkrieg in der Region hat die Bevölkerung nicht nachhaltig tangiert. Aber die rassische Trennung der vermeintlich europäisch aussehenden Tutsi und der agrarisch geprägten Hutu begann tatsächlich während dieser kurzen Periode. Die anschließende Herrschaft der Belgier war teilweise sehr brutal. Sie bediente sich der ethnischen Trennung nach der Devise: „Teile und herrsche“. Angesichts dieser historischen Verantwortung hätte Deutschland vor 1994 eine stärkere Rolle spielen müssen bei der Eindämmung der Gefahr eines Massenmordes, denn unser Land war nicht so aktuell als Konfliktpartei belastet wie Belgien und Frankreich.
Eine Lehre aus Ruanda war ja die UN-Doktrin „Responsibility to protect“. Nach der R2P muss die internationale Gemeinschaft eine Bevölkerung schützen, wenn der eigene Staat versagt. Viele NGOs fordern dies für Gaza ein – wie sehen Sie das?
Es gibt eine Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, Bevölkerungen in Not zu schützen und Friedensprozesse zu unterstützen. Die R2P hat das Ziel, Völkermorde im Vorfeld zu verhindern. Die Situation der Bevölkerung in Gaza – so schlimm sie ist – ist nicht vergleichbar mit der Situation der Tutsi in Ruanda oder der Jüdinnen und Juden in Nazi-Deutschland. Zum Völkermord gehört, dass eine bestimmte ethnische Gruppe systematisch ausgerottet werden soll. Wir sollten deshalb mit dem Begriff selbst sehr vorsichtig umgehen.
In Ruanda gehört Paul Kagame seit dem Ende der Massaker der Regierung an, seit 2000 als Präsident. Er gilt als Politiker, der das Land nach dem Völkermord vereint hat, aber auch als autoritär. Guckt der Westen über Menschenrechtsverletzungen im heutigen Ruanda hinweg?
Ruanda ist eines der wenigen stabilen Länder in Ostafrika, und das ist auch Kagame zu verdanken. Sicher ist er eher ein Diktator denn ein Demokrat. Trotzdem glaube ich, dass er 1994 der einzige war und eventuell immer noch ist, der die zerbrechliche Situation im Lande stabil hält. Heute geht es wirtschaftlich rasch voran und es steht nicht mehr im Ausweis, welcher ethnischen Gruppe eine Ruanderin oder ein Ruander angehört. Ich war mehrfach wieder dort, direkt nach dem Genozid und auch später; ich bin Vorsitzende der Parlamentariergruppe Östliches Afrika und kann daher sagen: Das ist ein Fortschritt, auch wenn Ruanda keine Demokratie ist.
Was sagen Sie zur Kritik, dass Ruanda in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo eingreift und dort die M23-Rebellen, überwiegend Tutsis, unterstützt?
Der Ostkongo könnte der nächste Sprengstoffgürtel sein, der explodiert. Die M23 ist eine Rebellenarmee, die von Ruanda unterstützt wird und Menschenrechtsverletzungen begeht. Aber man muss sehr vorsichtig bei der Beurteilung der Gesamtlage sein. In der DR Kongo haben Militärs und Hutu-Bürgermeister aus Ruanda eine auf den alten rassistischen Strukturen basierende Streitmacht und Verwaltung aufgebaut. Die ehemaligen Völkermörder sind im Prinzip samt ihrer Bevölkerung in den Ostkongo gegangen, das darf man nicht vergessen. Mit ihnen ist die M23 im Konflikt, auch weil die kongolesische Armee und Regierung es nicht geschafft oder gewollt haben, die Rebellen zu integrieren. Nun gibt es Meldungen, dass sich ein neues, brandgefährliches Narrativ ausbreitet: Ruanda jetzt zurückerobern und die Tutsi endgültig auslöschen. Gleichzeitig erleben wir gerade eine neue Welle der Leugnung des Genozids im Jahr 1994.
Erklären Sie das bitte.
Die Nachkommen der ehemaligen Ruanda-Flüchtlinge sagen, es gab gar keinen Völkermord, sondern die Tutsis haben uns bedroht so wie heute die M23-Rebellen. Deswegen mussten wir uns wehren und deswegen sind wir geflohen. Das ist die neue, alte Geschichte, die eine starke Hutu-Gruppe im Ostkongo entwickelt, mit dem Ziel, nach Ruanda zurückzukehren.
Könnte mit Ihnen der Konflikt in Ruanda wieder aufleben?
Ja, zumal immer noch neue Massengräber gefunden werden in Ruanda, gerade jetzt auch bei Bürgermeistern, bei denen man bisher davon ausgegangen war, dass sie unschuldig waren. Ich kann mir vorstellen, dass die starken Gruppierungen, die sich gerade im Ostkongo bilden – die Zugang zu Geld und Waffen haben – für Ruanda bedrohlich werden können. Die M23-Rebellen befeuern diesen Konflikt ihrerseits. Den kann man nicht militärisch lösen. Es wäre eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, für die Lage im Ostkongo zusammen mit Ruanda und anderen Staaten in der Region der Großen Seen eine Lösung zu finden. Sonst kann es spätestens in fünf, sechs Jahren wieder losgehen. Zumal auch Kagame irgendwann als Stabilitätsanker ausfallen wird.
Großbritanniens Regierung möchte künftig alle Asylbewerber nach Ruanda bringen lassen, um dort Asylverfahren durchführen zu lassen. Auch die CDU fordert einen Drittstaat ein als Aufnahmeland für Asylbewerber. Wie stehen Sie zu solchen Vorschlägen?
Ganz ehrlich? Ich finde den britischen Vorschlag aberwitzig. Wir haben in der Region der Großen Seen, gerade auch in Ruanda, eine der größten Bevölkerungsdichten, die man sich überhaupt vorstellen kann. Der Kampf um knappste Ressourcen war eine weitere Ursache des Genozids. In ein solches Land Menschen zu schicken, die nicht aus dem Land kommen, die keine wirtschaftlichen Beziehungen dahin haben, in eine Region, die unter ethnischen Konflikten leidet: Das halte ich für eine der inhumansten Ideen, auf die eine demokratisch gewählte Regierung kommen kann.
Glauben Sie denn, dass überhaupt ein sicherer Drittstaat gefunden werden kann?
Ich würde an ganz Afrika große Fragezeichen machen. Und zwar deswegen, weil es der einzige Kontinent ist, wo die Bevölkerung nach wie vor enorm wächst. Alle anderen Kontinente haben Nachwuchssorgen und damit ein Problem des Fachkräftemangels. Meiner Meinung nach sollte man schauen, wie man die Menschen, die jetzt in Afrika geboren werden, gut ausbildet für Berufe, für die wir hier dringend Menschen brauchen. Die Hochschule Koblenz bildet zum Beispiel kenianische Abiturienten zu Pflegefachkräften aus. Das halte ich für eine großartige Idee.
Am Donnerstag steht ja eine Debatte im Bundestag über den Völkermord in Ruanda auf der Agenda. Welche Erwartungen haben Sie?
Wir müssen die Themen Friedenssicherung, Krisenprävention- und -bearbeitung aufarbeiten. Wir haben ja im Prinzip die Frühwarnsysteme, die uns einen Hinweis darauf geben, ob sich ein Genozid oder der Kollaps eines Staates abzeichnet, aber warum wird immer aufs Neue nicht auf sie gehört? Das ist ja nichts, was vom Himmel fällt! Die demokratischen, ehemals kolonialen Mächte – dazu zählen für mich auch die USA – müssen mit ihrer Verantwortung neu und anders umgehen lernen. Was Afrika angeht, habe ich den Eindruck, dass man im Moment Gefahr läuft, den Kontinent auf zentralen Konfliktfeldern sich selbst zu überlassen – oder China und Russland.