Herr El Zaher, wie verfolgt die syrische Community die Debatte nach dem Terrorakt von Solingen?
Das ist schwer für mich zu sagen, da ich kein Bild der gesamten syrischen Community in Deutschland habe. Und natürlich ist die Community sehr vielfältig. Ich denke aber, viele Syrer und Syrerinnen sind besorgt und haben Angst, wie Gesellschaft und Politik in Zukunft mit ihnen umgehen werden. Denn die übergroße Mehrheit von ihnen sucht hier Frieden und ein normales Leben. Es gibt auch Stimmen, die es ungerecht finden, dass jetzt alle Syrer in Deutschland unter Verdacht geraten. Aber leider gibt es auch diejenigen, die versuchen, diesen schrecklichen Angriff für ihre eigenen Verschwörungstheorien oder ihre islamistische Propaganda zu nutzen. Diese Stimmen sind auf jeden Fall eine Minderheit, aber wir wissen doch, wie in den sozialen Medien die Algorithmen funktionieren.
Ist es richtig, wenn jetzt in Deutschland auch über Abschiebungen nach Syrien nachgedacht wird?
Viele von uns befürworten die Abschiebung von Straftätern. Das Problem ist, dass Deutschland für Abschiebungen mit dem Assad-Regime verhandeln müsste. Das würde eine Anerkennung seiner Macht bedeuten und hätte auch zur Folge, dass es keine politische Lösung mehr für Syriens Bürgerkrieg gibt. Es würde Assads Position stärken und er könnte weiterhin das Land als persönliches Drogenkartell benutzen. Die syrische Wirtschaft wird weiter leiden, mehr Menschen werden unterhalb der Armutsgrenze leben, und noch mehr Menschen werden sich fragen, ob sie noch ein Leben in Würde in Europa führen könnten. Ich finde es auch aus deutscher Perspektive nicht konsequent, jetzt mit Syrien wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen, ohne eine politische Lösung zu haben.
War Deutschland zu lange zu liberal?
Für wen zu liberal? Wäre Deutschland ohne diese liberalen Grundüberlegungen und Gesetze heute eines der wirtschaftlich und politisch stärksten Länder der Welt? Ich würde sagen, nein. Meiner Meinung nach brauchen wir mehr Balance in der Politik. Zwischen konservativen, liberalen, sozialen und auch linken Kräften. Es ist schade zu sehen, dass stattdessen der Populismus auf so fruchtbaren Boden fällt.
Wie kommen bei Ihnen die AfD-Erfolge in Thüringen und Sachsen an?
Das starke Ergebnis der AfD schlägt ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte auf. Besonders besorgniserregend finde ich, dass es sich ganz offensichtlich nicht mehr um eine reine Protestwahl handelt: Erste Umfragen haben gezeigt, dass 52 Prozent der AfD-Wählerinnen fest von dieser Partei überzeugt sind. Für mich ist das alarmierend, denn eigentlich habe ich in den letzten Jahren oft gehört, dass die Menschen die AfD vor allem wählen, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind. Aber die Ergebnisse in Thüringen und Sachsen zeigen: Nein, die Menschen dort glauben wirklich, dass die AfD für sie die richtigen Lösungen hat.
Was könnten die Auslöser für die AfD-Erfolge sein?
Inflation, der russische Krieg in der Ukraine, die mangelnde Infrastruktur, Wohnungsnot, Kriminalität, Bildungschancen. Es gibt viele Themen, die den Menschen wichtig sind. Leider sehe ich, dass sich die meisten Diskussionen seit der Wahl nur auf Migration und Asylpolitik konzentrieren. Es ist wie ein Wettbewerb geworden: Wer macht den krassesten Vorschlag? Finanzminister Christian Lindner hat in einem Instagram-Video angekündigt, die Regierung wolle das Grundgesetz und sogar das internationale Gesetz ändern.
Aber ist es nicht ein Faktum, dass die Themen Migration und Asyl viele Menschen beschäftigen?
Das stimmt. Ich verstehe auch, dass sich der Vorsitzende einer Partei, die in Sachsen auf 0,9 und in Thüringen auf 1,1 Prozent gefallen ist, große Sorgen macht. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum wir es bei diesem Thema zulassen, eine Diskussion ohne Fakten und ohne den Kontext der politischen Realitäten zu führen. Ein Minister hat doch die Verantwortung, den Wählern gegenüber ehrlich zu sagen, dass Deutschland nicht in Europa, und auf jeden Fall nicht international allein über Asylgesetze entscheiden kann. Wir brauchen eine Diskussion über dieses Thema, aber nicht eine Diskussion, die dem Populismus und Rechtsextremismus in die Arme läuft.
Nehmen Sie als Syrer einen Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands wahr?
Ich finde es wichtig, dass wir auch die unterschiedlichen Seiten der ostdeutschen Bundesländer anerkennen. Ich lebe noch nicht so lange in Deutschland, und trotzdem habe ich schnell das Vorurteil von dem rechten oder zurückgebliebenen Ossi kennengelernt. Aber es gibt so viel mehr zu sehen. Aus diesem Grund habe ich mit meinem Magazin kohero die aktuelle Printausgabe „Siehst Du uns?” den Perspektiven von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte in Ostdeutschland gewidmet. Wir könnten unsere Energie und Aufmerksamkeit auch neuen Narrativen widmen, die auch lösungsorientiert sind.
Was kann helfen, um die Integration für alle Seiten zu verbessern? Braucht es doch strengere Gesetze?
Ich muss mit einer Gegenfrage antworten: Was bedeutet Integration? Lange war doch damit gemeint, dass Geflüchtete die deutsche Sprache lernen, Arbeit finden, Steuern zahlen und sich den deutschen Gesetzen anpassen. Aber trotz guter Fortschritte, zum Beispiel bei der Erwerbstätigkeit von Geflüchteten von 2015, wird der Begriff Integration immer neu definiert. Und auch hier finde ich, dass die Diskussion nicht detailliert oder kontextualisiert genug ist. Arbeitsmarktintegration wird durch Spracherwerb erleichtert. Aber wer hat Zugang zu Sprachkursen? Hier gibt es Details und gesetzliche Hürden, über die meiner Meinung nach zu selten außerhalb der „Flucht-Bubble” diskutiert wird.
Was meinen Sie damit?
Zum Beispiel die geltende Wohnsitzauflage. Wir haben in Deutschland überall Hindernisse, die selbst errichtet wurden. Wir brauchen nicht strengere Gesetze, sondern bessere. Das Thema ist viel komplizierter als nur Gesetze oder Abschiebungen. Sprechen wir nur über Geflüchtete? Oder auch über Menschen, deren Eltern oder Großeltern schon geflüchtet oder zugewandert sind? Der Begriff Integration wird in der Öffentlichkeit doch auch noch für Menschen mit Migrationsgeschichte in der zweiten oder gar dritten Generation benutzt. Das Stichwort heißt Zugehörigkeit. Es geht doch auch für diese Menschen viel mehr um Zugehörigkeit als um Integration.
Hussam Al Zaher hat in Damaskus Politikwissenschaften studiert. Parallel dazu arbeitete er als Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero, einem gemeinnützigen Magazin für interkulturellen Zusammenhalt. (kohero ist ein Wort der Plan- und Kunstsprache Esperanto und bedeutet Zusammenhalt)