Herr Klingbeil, Sie reisen demnächst in die Türkei. Sie waren schon in China, Südafrika, Namibia. Es gibt einfachere Reisen. Was treibt Sie an?
Die Zeitenwende und die Frage, wie sich die Welt neu ordnet und welche Rolle wir dabei spielen. Und mich treiben die internationale Verankerung und Tradition der SPD an. Und ja, ich suche das Gespräch auch in Ländern und mit Partnern, die nicht zu 100 Prozent unserer Meinung sind. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass der Dialog wichtig ist und deswegen die Reisen nach Südafrika, die Kontakte mit China, mit Lula in Brasilien und auch mit unserer Schwesterpartei in der Türkei. Ich bin überzeugt, dass man die Welt nur besser machen kann, wenn man im Gespräch bleibt und Gemeinsamkeiten sucht.
Nur hat sich die Welt in den letzten zehn Jahren dramatisch verändert. Hat sich unsere Außenpolitik darauf eingestellt?
Wir müssten eigentlich noch schneller und konsequenter sein. Die angesprochenen Länder sind durchweg Länder des Globalen Südens. Dazu eine selbstbewusste Türkei, die außenpolitisch zunehmend an Bedeutung gewinnt. Man muss sich klar machen, dass die Mehrheit der Länder nicht automatisch auf unserer Seite steht. Aber ob im Ukrainekonflikt oder in anderen globalen Fragen: Man kann durch Dialog Verbündete gewinnen. Und man kann überzeugen. In internationalen Beziehungen sind persönliche Bindungen und Vertrauen enorm wichtig. Ich tue das auf Parteiebene, und der Kanzler und die Außenministerin tun das auch.
Nur folgt der globale Süden nicht mehr unserer Erzählung, sondern hält immer häufiger dagegen. Wie konnte es dazu kommen?
Die Interessen der Welt haben sich unterschiedlich entwickelt. Der Westen war über einen langen Zeitraum dominant und hat das auch ausgelebt. Die Kolonialzeit und die Verbrechen des Westens sind im Globalen Süden bis heute ein prägendes Kapitel. Aber auch jüngere Beispiele wie unser Umgang mit der Pandemie und der Verteilung der Impfstoffe wird kritisch gesehen. Wir haben auch die Auswirkungen des Ukrainekrieges und die daraus resultierende Nahrungsmittelknappheit unterschätzt. Viele Fragen haben wir gar nicht gesehen, es sind Verletzungen entstanden, und da müssen wir größere Sensibilitäten entwickeln. Das spielt in den Gesprächen, die ich führe, eine große Rolle. Und ich sehe es auch als meine Aufgabe als Vorsitzender der SPD, hier neues Vertrauen aufzubauen.
Nun nimmt die Zahl der autoritär regierten Länder weltweit nicht unbedingt ab. Wie sollten wir damit umgehen?
Wir brauchen erst mal eine klare Haltung, um in Gespräche zu gehen. Und die muss man auch vortragen, ohne Dinge unter den Teppich zu kehren.
Man könnte solche Gesprächspartner auch möglichst meiden.
Das teile ich überhaupt nicht. Genauso wenig teile ich, dass man sich devot vor diese Länder wirft, weil man ökonomische Interessen hat. Ich merke immer wieder, dass man nach mehreren Aufeinandertreffen Sachen viel deutlicher aussprechen kann. Aber man kann in diese Gespräche nicht ohne Haltung gehen. Vertrauensräume ermöglichen dann, Dinge gemeinsam voranzubringen. In der Russlandpolitik, auch die der Sozialdemokratie, war der Fehler nicht, dass wir mit Russland geredet haben, sondern dass wir irgendwann die ökonomischen Interessen komplett in den Vordergrund gerückt und die politische Haltung zurückgestellt haben.
Wie legitim ist es, eigene nationale, ökonomische oder geostrategische Interessen zu formulieren? Wir waren als Deutsche in diesem Punkt lange sehr zurückhaltend.
Ich finde, es ist total legitim und man kann dann auch Win-Win-Situationen schaffen. Als ich in Chile, Brasilien oder Südafrika war, gab es von deren Seite jeweils das klare Signal: Wir wollen kooperieren, etwa bei Energiepartnerschaften. Wir haben grüne Energie, ihr braucht sie. Also warum nicht eine Win-Win-Situation schaffen?
Sind wir die einzigen Kooperationspartner?
Nein, Russen und Chinesen sind längst da. Aus meiner Sicht sollten wir da viel selbstbewusster vorgehen. Wir brauchen eher mehr Aktivitäten als weniger. Ich will ja andere Länder an uns binden. Ich will, dass Partnerschaften entstehen, die beide Seiten weiterbringen, immer verbunden mit einer klaren politischen Haltung. Denn wir haben vieles zu bieten und müssen uns nicht verstecken.
Im Globalen Süden wird immer wieder der Vorwurf der doppelten Standards erhoben. Wie begegnen Sie ihm?
Ja, der Vorwurf kommt. Und ich merke, dass es dann immer ums Erklären geht und an manchen Stellen lässt es sich nicht wegwischen. Und ja, wir haben Fehler gemacht, etwa bei den Impfstoffen. Das muss man aus heutiger Sicht einfach bekennen.
Ein Punkt, der uns regelmäßig vorgehalten wird, ist unsere Solidarität zu den USA. Dass wir sehr zurückhaltend sind, wenn die Amerikaner das Völkerrecht dehnen, bei den Russen aber ganz genau hinschauen. Ist der Vorwurf berechtigt?
Ich kenne den Vorwurf. Wir hatten allerdings auch Phasen, wo es sehr harte Auseinandersetzungen mit den USA gab. Ich erinnere nur an die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder und das Nein zum Irak Krieg. Aber natürlich gilt auch hier: Wir haben den Amerikanern wahnsinnig viel zu verdanken. Wenn ich auf die Zeit nach 1945 schaue, dann gibt es eine sehr enge transatlantische Verbindung. Aber auch hier gilt: Wo Vertrauen da ist, ist Raum für kritische Gespräche. Die finden vertraulich statt.
…..sagt der Transatlantiker Lars Klingbeil.
Natürlich haben die Lateinamerikaner andere Erfahrungen mit den USA. Vieles ergibt sich aus der eigenen historischen Perspektive. Aber darüber in den Dialog zu treten, ermöglicht doch erst, den anderen zu verstehen. Und dann findet man auch Möglichkeiten, nach vorne zu schauen. Ich kann mich nicht davon freimachen, dass wir anders auf die Welt blicken, als das die Lateinamerikaner tun.
Die haben ja ihre ganz speziellen Erfahrungen mit den USA.
Wenn du in Chile an dem Ort stehst, wo Salvador Allende ums Leben gekommen ist, und natürlich hat das mit der CIA zu tun, ist doch klar, dass das einen anderen historischen Blick auf die USA ergibt. Es gibt nicht die eine Schablone, die auf alles passt.
Auch der brasilianische Präsident Lula hat Deutschland immer wieder kritisiert.
Stimmt. Er sagt mir, das ist euer europäischer Krieg in der Ukraine, aber ich habe hier die Toten, weil kein Getreide mehr kommt. Das kann ich nachvollziehen, ohne aber die Solidarität mit der Ukraine aufzugeben.
Und was folgt daraus?
Ich muss mich fragen, wie können wir Initiativen für eine globale Lebensmittelsicherheit ergreifen? Und wie kommen wir zu diplomatischen Gesprächen mit Russland und der Ukraine, damit das Getreide aus der Ukraine herauskommt und nicht Tausende Menschen in Brasilien oder anderswo verhungern? Ich muss begreifen, was diese Länder und Staatschefs antreibt, um dann zu fragen: Gibt es Schnittmengen und Möglichkeiten, Dinge zusammenzubringen?
Ein anderer Vorwurf lautet, wir würden im Gaza-Konflikt einseitig zu Israel halten.
Als ich im Frühjahr als SPD-Vorsitzender in Johannesburg war, habe ich mit der damaligen südafrikanischen Außenministerin gesprochen. Das Gespräch war anfangs sehr konfrontativ aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf die Situation in Nahost, aber ich habe unsere Position erklärt und gleichzeitig deutlich gemacht, dass wir das israelische Vorgehen durchaus kritisieren. Die Außenministerin hat mir ihre Position erläutert: Es hat einen historischen Grund, warum die Südafrikaner auf der Seite der Palästinenser stehen. Am Ende konnten wir uns, obwohl das Gespräch sehr konfrontativ begonnen hatte, auf Vieles einigen: Wir wollten beide die Waffenruhe, die Geiselbefreiung und waren uns auch einig, dass es eine Zweistaatenlösung für einen dauerhaften Frieden braucht.
Aber von der israelischen Verhältnismäßigkeit, die auch die Bundesregierung wiederholt angemahnt hat, ist bisher nicht viel zu erkennen. Können wir als Deutsche überhaupt dazu beitragen, dieses Dilemma aufzulösen?
Wir haben eine Verantwortung, als Freund und Verbündeter immer wieder zu mahnen. Für mich ist der Ausgangspunkt immer der 7. Oktober. Es war absolut gerechtfertigt, dass Israel auf diesen brutalen Terroranschlag reagiert hat. Aber richtig ist auch: Die Verhältnismäßigkeit wurde und wird an vielen Stellen überschritten. Das hat die Bundesregierung wiederholt deutlich gemacht, in enger Abstimmung übrigens mit der US-Regierung.
Die Reaktion erfolgte spät.
Es gab sehr klare Signale von Bundeskanzler Olaf Scholz an Benjamin Netanjahu, etwa die Offensive in Rafah zu unterlassen. Ich habe immer gesagt, meine Solidarität gilt dem Staat Israel, aber nicht der Regierung Netanjahu. Es ist wichtig, da deutlich zu unterscheiden.
Haben diese Bemühungen etwas bewirkt?
Ich glaube durchaus. Natürlich sagen einige, das reicht nicht. Die Bundesregierung war aber im Hintergrund sehr aktiv – übrigens auch um die humanitäre Versorgung in Gaza deutlich auszuweiten.
Auch im Westjordanland gibt es permanent Völkerrechtsverletzungen – auch schon vor dem 7. Oktober.
Das treibt mich auch um. Bei meinem Antrittsbesuch als Parteivorsitzender in Israel war ich in der Westbank und habe gesehen, wie rigoros manche israelischen Siedler agieren. Das hat mich sehr bewegt, auch weil es durch nichts gerechtfertigt ist. Und ja, auch da können wir noch deutlicher sein. Auch eine Freundschaft zum Staat Israel muss aushalten, dass man deutlich sagt, was geht und was nicht.
Haben wir zu lange zugeschaut?
Der Nahostkonflikt dauert viele Jahrzehnte an, und es gab Momente, wo man einer friedlichen Lösung viel näher war als in den letzten Jahren. Da tragen beide Seiten eine Verantwortung. Aber nichts, absolut gar nichts rechtfertigt den brutalen Terrorangriff am 7. Oktober.
Sollte im November in den USA Donald Trump gewinnen, werden Berlin und Brüssel vollkommen neu über Resilienz, über Verteidigung, Wirtschaftskraft und eigene Autonomie nachdenken müssen. Haben wir die Kraft dazu?
Erst einmal bin ich optimistisch, dass Kamala Harris gewinnt, nachdem ich auf dem Parteitag gesehen habe, wie viel Kraft die Demokraten gerade sammeln. Aber wenn Donald Trump dennoch wiedergewählt wird, kann das ein radikaler Umbruchpunkt für Europa werden. Wir müssen uns auf alle Szenarien vorbereiten. Die Trump-Regierung würde innerhalb kürzester Zeit die Solidarität mit der Ukraine aufkündigen. Das bedeutet auch enorme sicherheitspolitische und ökonomische Herausforderungen für Europa. Aber klar ist auch: Eine Regierung von Kamala Harris wird auch von Europa deutlich mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit abverlangen. Dem müssen wir uns stellen.
Was heißt das für uns, etwa für die Schuldenbremse?
Das kann man heute nicht sagen, aber dann werden wir sehr groß denken müssen und die Schuldenbremse ist sicher keine goldene Kuh mehr. Dann geht es um die Frage, wie wir alles unternehmen, um industriepolitisch und sicherheitspolitisch stark zu bleiben. Wenn sich die Trump-Regierung zurückzieht, sind wir sehr viel schneller noch stärker in der Verantwortung, und die müssen wir wahrnehmen. Arbeitsplätze, Sicherheit und eine gute Infrastruktur sind mir wichtiger als die Schuldenbremse.