Interview
Erscheinungsdatum: 04. Juli 2024

EVG-Chef Burkert: „Dem Vollbluteisenbahner tut das in der Seele weh"

EVG-Chef Martin Burkert, ehemaliger Eisenbahner und SPD-Bundestagsabgeordneter, über Pünktlichkeitsquoten, den Zustand der Bahn, die Performance während der Fußball-Europameisterschaft und die Zukunft des 49€-Ticket.

Herr Burkert, wir haben die Fußball-Europameisterschaft im Land, der ganze Kontinent schaut auf Deutschland – und die Bahn als wichtigster Transporteur produziert Negativschlagzeilen. Was ist da los?

Das Wichtigste für uns sind zunächst einmal die Beschäftigten – und die werden gelobt. Die sind freundlich, die tun in den Zügen alles, damit sich die Gäste wohlfühlen. Es ist überwiegend eine richtig gute Stimmung. Aber Fakt ist auch, dass es Einzelfälle gibt, die dramatisch sind: Wenn österreichische Fans erst in der 70. Minute in Düsseldorf im Stadion ankommen, weil die Strecke zwischen Nürnberg und Passau gesperrt war, ist das nicht gut.

Was war passiert?

Die Stopfmaschine einer österreichischen Firma – eine Maschine, die den Untergrund befestigt – ging kaputt und das Gleis war blockiert. Das passiert vielleicht alle 50 Jahre, aber es ist passiert, und das ist schlecht.

Jetzt weiß man ja in etwa, wann und wo Turnierdirektor, DFB-Spitzen und die Mannschaften unterwegs sind und mit welchem Fanaufkommen zu rechnen ist. Muss eine Strecke gerade an einem solchen Tag oder am Tag davor repariert werden?

Man hat das das grundsätzlich natürlich berücksichtigt und Baumaßnahmen im EM-Zeitraum erheblich reduziert. Die Mannschaften haben ihr Ziel aber immer erreicht.

Nicht ganz, die Niederländer mussten von Berlin nach Wolfsburg den Bus nehmen, weil der letzte Zug Berlin um 21.26 Uhr verlässt. Auch sie haben sich öffentlich beschwert.

Also einen festen Fahrplan, der lange vorbereitet und geplant wird, kann man kaum verändern. Man hätte das aber besser abstimmen und in solchen Fällen Sonderzüge einsetzen können. Aber grundsätzlich wurde darauf schon geachtet, dass die Teams ihre Ziele erreichen. Dass es nicht in jedem Einzelfall geklappt hat, etwa bei Philipp Lahm, ist nicht schön.

Das Ausland berichtet überrascht und ziemlich hämisch, dass es Deutschland als Organisationsweltmeister und Land der Ingenieure nicht hinbekommt. Von Mai auf Juni ist die Pünktlichkeitsquote noch einmal von 63 auf 55 Prozent gefallen. Was läuft da schief?

Dem Vollbluteisenbahner tut es in der Seele weh, wenn Qualität und Pünktlichkeit so im Keller sind wie momentan. Brücken sind marode, es fehlen Weichen, und es fehlt im operativen Bereich an Personal. Wenn nur noch gut jeder zweite Zug pünktlich ist, dann ist was faul.

Wie kommt die Bahn raus aus der Misere?

Wir sind in Europa auf Platz zehn bei den Investitionen pro Kopf. In Luxemburg, Österreich oder in der Schweiz sind die Investitionen viel, viel höher. Wir haben es über Jahrzehnte versäumt, das Bestandsnetz, immerhin noch 36.000 Kilometer, angemessen zu sanieren. Über Neubau will ich gar nicht reden. Und es fahren immer mehr Züge und immer mehr Unternehmen auf dem deutschen Netz. Das werden wir wohl nur über Jahre und langsam aufholen können.

Abhelfen könnten der Verkehrs- und der Finanzminister, beide von der FDP. Was erwarten Sie von Ihnen in den aktuellen Haushaltsverhandlungen?

Bei Volker Wissing habe ich den Eindruck, dass er zumindest kein Straßenverkehrsminister ist wie seine Vorgänger. Ich sehe schon, dass die Schiene wesentlich mehr Geld bekommt, als unter drei CSU-Ministern. Das muss man anerkennen. Beim Finanzminister wiederum fehlt mir jegliches Verständnis: Die Klimaziele werden nicht erreicht, und wer das 49€-Ticket gegen eine Sanierung der Infrastruktur ausspielt, der ist weder an einer Verkehrswende interessiert noch an einer Einhaltung der Klimaziele.

Und trotzdem verschieben sich die Investitionen wieder weg von der Schiene hin zum Straßenbau.

Fakt ist, dass für die Infrastruktur insgesamt Geld fehlt. Ich befürworte ja einen Fonds für Schiene, Straße, Brücken und die Wasserstraßen. Wir bräuchten ähnlich wie die Bundeswehr einen 100-Milliarden-Fonds für die Verkehrsinfrastruktur. Und dazu gehört natürlich die Schiene, und dann hätten wir auch die 45 Milliarden Euro bis spätestens 2030, die dringend allein für die Bestandsnetzsanierung benötigt werden. Eigentlich bräuchten wir ja 150 Milliarden Euro, aber das ist nicht vermittelbar. Umso dringender sind die 45 Milliarden.

Und damit kommen Sie aus bis 2030?

Nein, wir müssen trotzdem priorisieren, und da beginnt natürlich der Streit: Ob damit der Fehmarn-Tunnel finanziert wird oder die Strecke Regensburg-Nürnberg saniert, oder die Kölner Brücke am Hauptbahnhof. Sicher ist: Alles das müsste sein, aber alles ist damit nicht machbar.

Die Bundesregierung verhandelt gerade den Haushalt 2025. Wieviel Geld braucht die Bahn für das Schienennetz?

Das Minimum wäre der gleiche Betrag wie im vergangenen Jahr, das waren sieben Milliarden Euro für den Erhalt, plus drei Milliarden für den Aus- und Neubau. Immerhin haben wir die Zusage, dass das langfristig so bleiben soll.

Das reicht Ihnen nicht?

Die Bahnindustrie braucht nun mal verlässliche Zusagen. Wir haben Maschinen, etwa für den Gleisbau, die sind mehrere hundert Meter lang, und die gehen dahin, wo die Aufträge sind – und wo diese sicher sind. Italien investiert demnächst 100 Milliarden Euro in die Schiene. Auch in Dänemark ist die Finanzierung gesichert. Die internationalen Firmen gehen dahin, wo sie nicht jährlich neu disponieren müssen wie in Deutschland.

Und Sie fürchten, diese Firmen wandern ab?

Die Gefahr besteht. Die Österreicher waren vor zehn Jahren auf dem Stand wie wir, die haben seither massiv investiert. Die Schweizer haben sich per Volksentscheid für die Schiene entschieden. Luxemburg investierte 2022 pro Kopf über 575 Euro, die Schweiz 450 Euro und Österreich 319 Euro, bei uns waren es 114 Euro. Das größte Problem aus unserer Sicht wäre die Trennung von Fahrweg und Betrieb, wie von der Wettbewerbslobby, Union und FDP gefordert. Spanien hat das gemacht. Aber da fahren zwölf Unternehmen auf dem Netz, bei uns sind es über 350. Das funktioniert nur, wenn alle Zahnräder ineinander greifen. Sonst herrscht noch mehr Chaos und Unzuverlässigkeit, die Güter wandern wieder auf den LKW und Reisende nehmen wieder das Auto.

Was die Investitionen angeht, haben Sie SPD-Parteiführung und -Fraktion auf Ihrer Seite. Gilt das auch für den Kanzler?

Da bitte ich um Verständnis. Wir sind im Gespräch, er kennt meine Themen und weiß, wie es um die Schiene bestellt ist. Den Kanzler zu kritisieren, ist einfach. Sich mit konstruktiven Vorschlägen in Anbetracht der Haushaltslage einzubringen – das ist schon schwieriger.

Wie erklären Sie den nochmaligen dramatischen Rückgang der Pünktlichkeitsquote?

Natürlich sind Wetterbeeinträchtigungen wie zuletzt in Süddeutschland oder Suizide Gründe – aber nicht allein.

Suizide, die den Bahnverkehr ausbremsen, gab es immer, im Schnitt bundesweit etwa zwei pro Tag. Das erklärt die schlechte Quote nicht.

Stimmt. Aber es gibt keine Ersatzzüge mehr und kein Ersatzpersonal. Beispiel Bayern: Früher saß Springer-Personal in München, Nürnberg oder Regensburg. Heute sitzt das Ersatzpersonal hunderte Kilometer entfernt. Wenn in Nürnberg der Zugbegleiter für den Zug nach Wien ausfällt, muss der Ersatz aus München kommen. Das sind hausgemachte Dinge. Außerdem fehlen die neuen ICE-Züge. Talgo aus Spanien, aber auch Siemens liefern verspätet aus. Die alten ICE-Züge fahren auf Kante. Und dass man dem ICE1 nach 30 Jahren ein Re-Design gegeben hat, so dass er noch mal 15 Jahre fahren kann, bevor die Betriebserlaubnis erlischt, spricht auch für sich. Also: Es liegt zum Teil an der Industrie, teils sind es hausgemachte Probleme. Und dazu kommen immer mehr Problem mit dem über Jahrzehnte kaputtgesparten Schienennetz.

Überzeugt Sie, wenn der Vorstandsvorsitzende Richard Lutz sagt, minus acht Prozent, das hat vor allem mit dem Wetter und den Regenfällen im Mai zu tun?

Das Wetter kann man nicht wegdiskutieren. Das hat rund 300 Millionen Euro gekostet, aber auch 63 Prozent sind ja eine Quote weit weg von den 75 Prozent, die wir haben wollten. Dabei stellt sich die Frage, was den Reisenden wichtiger ist: Die Pünktlichkeit oder ob ich – wenn alles rund läuft – zehn Minuten schneller am Ziel bin. Verlässlichkeit und Service sind für die Kunden wichtig. Und von dieser Verlässlichkeit ist man weggekommen. Das muss man hinterfragen und in der Strategie womöglich auch ändern.

Ist der Vorstand noch in der Lage, diese Ziele zu erreichen?

Wir stehen ja vor einer neuen Mittelfristplanung. Die letzten Mittelfristplanungen wurden alle nicht eingehalten. Dafür gibt es Gründe. Einen Plan fürs Jahr 2029 zu machen, ist ja fast nicht möglich.

Die Unternehmen brauchen doch solche Pläne.

Richtig. Aber es gibt nur Sicherheit bis ins Jahr 2026, und danach steht alles in Frage.

Genau das ist doch Teil des Problems.

Es liegt einerseits am Geld, aber auch am Willen, vernünftige Schienenpolitik in Deutschland zu machen. Diesen politischen Willen gibt es in anderen Ländern, bei uns nicht.

Sie sind Mitglied des Bahn-Aufsichtsrats und gehen sehr gnädig mit dem Vorstand um. Der genehmigt sich Boni, während die Leistung immer mehr nachlässt.

Ich spreche den Vorstand nicht frei. Wir kritisieren das ja auch massiv. Man hat den Fachkräftemangel doch kommen sehen. Das ist die größte Herausforderung für alle. KI und Digitalisierung werden das nicht ausgleichen können. Wir haben den Vorstand fast zwingen müssen, in diesem Jahr über 6.000 Auszubildende einzustellen. Nein, es ist nicht alles gut gelaufen, und wir brauchen eine strategische Neuorientierung.

Inzwischen gibt es Forderungen nach einem Rücktritt von Bahnchef Richard Lutz. Auch von SPD-Politikern. Schließen Sie sich dem an?

Den Bahnchef oder Vorstand auszutauschen löst die Probleme nicht. Es würde rein gar nichts am Zustand unserer Bahn ändern. Dass vor allem CSU-Politiker die Ablösung des Bahnchefs fordern, lenkt ab von den Versäumnissen der drei CSU-Verkehrsminister.

Auch die hohe Fluktuation beim Personal spricht nicht unbedingt fürs Betriebsklima und eine gute Unternehmensführung.

Ja, die Fluktuation ist hoch und sie steigt. Mittlerweile sind es acht bis zwölf Prozent pro Jahr. Junge Menschen schauen schon beim Praktikum, ob sie Schichtdienst, Wechseldienst arbeiten oder am Wochenende arbeiten müssen – und treffen dann eine Entscheidung. Andererseits: Es gibt bei der Bahn immer noch alle Möglichkeiten der Qualifizierung, ich selbst habe dort die Qualifikation für die Beamtenlaufbahn erworben und die Beamtenlaufbahn eingeschlagen.

Es gab eine Zeit, aber da war man stolz, bei der Bahn zu arbeiten.

Ich bin immer noch überzeugter und stolzer Eisenbahner. Die Deutsche Bahn ist ein spannender Ort, sich zu entwickeln und Dank EVG-Tarifverträgen wie unserem Wahlmodell mit bis zu 12 Tagen mehr Urlaub genießen die Beschäftigten auch Vorteile, die es in anderen Branchen nicht gibt. Trotzdem schafft es das Unternehmen nicht, unter die Top Ten der Arbeitgeber in Deutschland zu kommen. Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner leisten ja viel: Sie waren während der Pandemie da, sie haben Flüchtlinge aus der Ukraine geholt, sie haben während Corona die Nudeln aus Italien gefahren, als die LKW nicht mehr gefahren sind, alles immer auf dem Rücken der Beschäftigten. Unsere Leute waren immer da.

Der Finanzminister hat am vergangenen Wochenende das 49€-Ticket in Frage gestellt. Steht es auf der Kippe?

Da wird der Streit zwischen Bund und Ländern auf dem Rücken der Reisenden ausgetragen. Das Ticket ist ein ganz wichtiges Instrument, wenn man eine Verkehrswende haben und die Klimaziele erreichen will. Das 9-Euro-Ticket war nicht gut, unsere Leute waren überlastet, in den Zügen herrschte Chaos, die Sicherheit war nicht mehr gewährleistet. Jetzt haben wir so viel Reisende wie nie, der ÖPNV wird angenommen; aber wir brauchen den Ausbau im ländlichen Raum.

Aber hat der Finanzminister nicht Recht, wenn er sagt, den weiteren Ausbau kann der Staat nicht leisten, und fordert, dass sich auch der Kunde an einem besseren Angebot beteiligen muss?

Natürlich kann es sich der Staat leisten. Seine ideologische Schuldenpolitik ist doch verantwortlich dafür, dass wir der Schiene nicht eine verlässliche Zukunft geben können. Lindner beklagt Probleme, die er selbst geschaffen hat. Wir lassen uns nicht auf das Spiel ein, die verkehrspolitischen Maßnahmen gegeneinander auszuspielen. Wenn der Ausbau da ist, kommen die Reisenden, das zeigen alle Erfahrungen. Wir schauen uns gerade sehr genau Estland und Luxemburg an, wo der ÖPNV kostenfrei ist. Wir wollen ja auch dahin kommen. Wir brauchen die Verkehrswende, denn wir haben nur diesen einen Planeten .

Wo ist für den Kunden für das Deutschlandticket die Schmerzgrenze – bei 49, 59 oder 69€?

Das ist schwer zu sagen. Alle, die man fragt, hätten gerne wieder das 9€-Ticket. Für junge Menschen ist das 49€-Ticket ideal. Und einen Preisaufschlag hat niemand gerne. Aber die Leute steigen um, wenn das Angebot stimmt – und insbesondere auf dem Land stimmt es noch nicht.

Ist das ein Appell an den Bund oder an die Länder?

Es ist ein Appell an die Vernunft. Dieses Angebot wieder wegzunehmen würde den ÖPNV mit den Füßen treten. Über fünf oder zehn Euro mehr kann man reden, wenn auch das Angebot besser wird, wofür es mehr Personal und Züge braucht. Aber der Finanzminister stellt das Ticket ja generell in Frage und sagt: Entweder Sanierung oder 49€-Ticket, beides geht nicht – und das ist ein Skandal.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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