Es gibt Fälle, in denen man für zwölf verschiedene Leistungen zu acht verschiedenen Stellen muss: Wird der Sozialstaat nach dem vernichtenden NKR-Gutachten jetzt effizienter?
Ich bin zu lange im politischen Berlin unterwegs, als dass ich jetzt glauben würde, dass die Vorlage eines einzelnen Gutachtens die Erneuerung des Sozialstaats bringen würde. Unser Gutachten kommt allerdings zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt. Die Zukunftsfestigkeit unseres Landes hat heute einen viel höheren Stellenwert als noch vor ein, zwei Jahren.
Wie lange dauert es, bis sich was ändert?
Mein Wunsch wäre, dass man jetzt schon einzelne Impulse aufnimmt, sich aber vor allem Gedanken über größere Umbauschritte macht. Die sollten im Bundestagswahlkampf 2025 und in den anschließenden Koalitionsverhandlungen diskutiert werden. Einer unserer Vorschläge ist ja eine stärkere Bündelung der Sozialleistungen in einem Ministerium. Das wird man nicht während einer laufenden Legislatur, sondern nur zu Beginn einer neuen Wahlperiode umsetzen.
Bisher sind vier Ministerien zuständig. Ist es nicht unrealistisch, dass drei davon freiwillig Macht aufgeben?
Der Staat hat absehbar weder genug Geld noch genug Personal für ein Weiter-so. Ich glaube, dass der Druck so stark zunehmen wird, dass man sich in die Augen schaut und sagt: Es wird aufwendig und schmerzhaft, aber wir brauchen für die Erneuerung des Sozialstaats eine effiziente Steuerung und bessere Koordinierung.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben zuletzt bei der Ausweitung des Wohngelds gesehen, welche Folgen Reformen haben, die gerade den Vollzug auf kommunaler Ebene nicht ausreichend berücksichtigen. Das kann man sich als Bund nicht noch mal leisten.
Steht ein großer Umbau nicht dem kurzfristigen Denken in Legislaturperioden entgegen? Die nächste Regierung könnte den Zuschnitt wieder ändern.
Es muss ja nicht gleich die Vollzentralisierung in einem Ministerium sein. Das System ließe sich schon deutlich vereinfachen, wenn man das Wohngeld integrieren würde, um die Wechselwirkungen mit anderen Leistungen aufzulösen. Bei der Kindergrundsicherung gab es mit der interministeriellen Arbeitsgruppe ja zuletzt schon den Ansatz, einen Schritt weiter zu gehen.
Scheint nicht so gut geklappt zu haben.
Das Gesetz ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir viel Nachholbedarf haben. Man könnte ganz viel vereinfachen, aber die Grundlagen fehlen. Die Behörden haben nicht die Einkommensdaten von allen Bürgern, die man mal eben so nutzen kann, um automatisiert zu sagen: „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein Kind bekommen und kriegen ab dem nächsten Monat x Euro.“
Warum gibt es die Daten nicht?
Entweder haben wir sie gar nicht oder nur in Teilen, die nicht kombinierbar sind. Weil sie etwa an verschiedenen Stellen mit vielen unterschiedlichen Definitionen des Begriffs „Einkommen“ vorliegen. Mal ist das Einzeleinkommen maßgeblich, mal ist es das Haushaltseinkommen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Aber uns fehlt einfach eine Gesamtstrategie, da haben wir in den letzten 20 Jahren viel Zeit verloren. Weil wir nicht bereit waren, ernsthafte strukturelle Änderungen anzugehen.
Was fordern Sie?
Es braucht eine wirksame Steuerung und ein klügeres Zusammenspiel zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Nötig ist ein gemeinsames Ziel, auch von Regierung und Opposition: Wo will man hin? Wo nimmt man strukturelle Veränderungen vor, die im Zweifel auch eine Grundgesetz-Änderung bedeuten können? Ob das dann eine Föderalismuskommission, ein Konvent oder ein anderes Gremium diskutiert, ist zweitrangig. Hauptsache, man ist sich einig: Wir wollen unser Land fit machen.
Was ist mit dem Klimageld – dauert es wirklich so lang, IBAN und Steuer-ID zu verknüpfen?
Es gibt die Schwierigkeit, dass noch nicht von jeder Bürgerin und jedem Bürger eine IBAN vorliegt. Dafür sollen die technischen Grundlagen immerhin bald stehen. Bisher ist allerdings nur die Speicherung der Daten gesetzlich geregelt, aber noch nicht die konkrete Verwendung. Da gibt es noch offene Fragen.
Welche wären das beispielsweise?
Wenn jeder das Klimageld bekommen soll, also auch Kinder, stellt sich die Frage: Wer kriegt das ausgezahlt, wenn die Eltern getrennt leben? Das alles ist also nicht ganz so leicht.
Was wären denn konkrete Schritte, um die Verwaltung zu digitalisieren und zu automatisieren?
Ein Schritt wäre die Harmonisierung des Einkommensbegriffes, weil der sich je nach Leistung anders zusammensetzt. Damit könnte man den Datenaustausch über Ressortgrenzen und Ebenen ermöglichen. Zudem sollte man die Sozialplattform bundesweit ausbauen, über die man in manchen Kommunen schon Onlineanträge stellen kann. Ein dritter Punkt wäre, noch stärker mit Pauschalierungen zu arbeiten – das würde eine Automatisierung überhaupt erst möglich machen.
Was heißt das genau?
Bei den sogenannten Leistungen für Bildung und Teilhabe für Schulkinder geht es beispielsweise um kleine Beträge, für die man umständlich Anträge stellen muss. Statt dass individuell je nach Kommune ausgerechnet wird, wie viel zum Beispiel eine Klassenfahrt kosten darf, könnte man einfach sagen: Das Kind bekommt alle zwei Jahre einen Gutschein für eine Klassenfahrt.
Die kosten doch nicht alle gleich viel.
Selbst wenn manche dann etwas mehr kosten – das hängt ja auch von der Region ab –, könnte man das problemlos finanzieren. Und zwar durch den Aufwand, den man aufseiten der Verwaltung einspart, wenn man auf personalintensive Einzelfallprüfungen verzichtet. Es geht uns nicht um weniger Leistung, sondern um einfachere Strukturen.
Die Kindergrundsicherung sieht vor, dass die Kostenübernahme für Klassenfahrten weiter einzeln beantragt werden muss.
Ja, das kritisieren wir auch. Aber der Grundgedanke, unterschiedliche Leistungen zusammenzuführen, bleibt richtig. Daher wäre es falsch, den Versuch aufzugeben, nur weil man Angst vor der Komplexität der Aufgabe hat. Daher hoffe ich, dass man bei dem Gesetz noch zu einem Konsens kommt. Denn das Ganze ist nur ein Baustein für noch größere Schritte, die angegangen werden müssen, um einen leistungsfähigen Sozialstaat zu garantieren.