Interview
Erscheinungsdatum: 22. Juni 2025

Christine Fuchsloch: „Die Sozialversicherungen sind viel besser als ihr Ruf“

Die Präsidentin des Bundessozialgerichts spricht über die Zukunft von Sozialstaat und Gesundheitswesen und sagt, an welchen Stellen es Reformen bräuchte.

Wie steht es um die Sozialversicherungen? Überall ist von einer „Kostenexplosion“ die Rede.

Die Sozialversicherungen sind viel besser als ihr Ruf in der Öffentlichkeit. Dass das Ganze als Drama dargestellt wird, wonach die Lohnnebenkosten viel zu hoch seien und alles schlecht funktioniert – das halte ich nicht für legitim.

Mehr als 40 Prozent halten Sie für keine Belastung?

In der Zeit, in der die Beiträge erhoben werden, spricht man immer nur über die Belastung. Wenn aber der Versicherungsfall eintritt oder man älter ist, möchte man gerne gut versichert gewesen sein. Das ist eben der jeweilige Blickwinkel, den man hat. Was die Rentenversicherung zum Beispiel leistet in Sachen Hinterbliebenenrente, Reha und so weiter, das ist schon eine ganze Menge. Aber wir brauchen eine Vereinfachung. Wir haben 1.200 Reha-Träger – allein zu klären, welcher zuständig ist, ist schon zu kompliziert.

Sie sehen also keinen grundlegenden Änderungsbedarf im System?

Selbstverständlich gibt es Stellschrauben, an denen man weiterarbeiten kann und muss. Aber etwa die umlagefinanzierte Rentenversicherung hat alle Kapitalmarkt-Wirren gut überstanden. Riester- und Rürup-Rente haben dagegen gezeigt, dass sie als Systeme nicht geeignet waren für eine gute und solide Altersvorsorge. Klar ist aber auch: Wir haben eine demografische Veränderung, die Anzahl der Beitragszahler sinkt. Deshalb sollte man zum Beispiel die Selbstständigen in die Rentenversicherung einbeziehen.

Die Bundesregierung plant, nur die neuen Selbstständigen einzubeziehen. Reicht das?

Nein. Das Problem wird größer, je länger man wartet, und man wartet schon viel zu lange. Natürlich muss man eine gewisse Grenze einhalten bei den Leuten, die ihr Erwerbsleben schon weitgehend abgeschlossen haben. Aber nur die Neuen aufzunehmen, würde bedeuten, dass wir das Problem noch einmal um 50 Jahre verschieben. Denn Selbstständige, die nicht ausreichend vorgesorgt haben, bekommen später Grundsicherung im Alter und müssen dann von allen Steuerzahlern finanziert werden.

Warum traut sich niemand an größere Schritte wie die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze? Mehrere Länder wie Frankreich haben keine.

Ich denke nicht, dass man das Modell eines anderen Staates einfach so übertragen kann. Man muss versuchen, das bestehende System weiterzuentwickeln.

Was bräuchte es dafür noch?

Mittelfristig muss man bei steigender Lebenserwartung das Renteneintrittsalter anpacken. Außerdem: Die eigenständige Alterssicherung von Frauen könnte dadurch gestärkt werden, dass das Rentensplitting, also die Aufteilung der während der Ehe erworbenen Rentenpunkte zwischen den Ehepartnern, attraktiver gestaltet wird. Damit würde zugleich die Hinterbliebenenrente als nur abgeleiteter Anspruch überflüssig. Und man kann systemgerechte Umverteilungselemente einbauen.

Zum Beispiel?

Mindestentgeltpunkte oder Sockelrenten bei langen Beitragszeiten. Die Grundrente hat den klugen Ansatz, lange Zugehörigkeitszeiten aufzuwerten. Aber die Bedürftigkeitsprüfung passt nicht in das System Sozialversicherung.

Die Krankenhausreform ist von der Ampel-Koalition auf den letzten Metern noch verabschiedet worden. Welche Probleme können damit gelöst werden?

Die Reform hat wirklich drängende Probleme angepackt und in einen geordneten Prozess geleitet. Bisher haben wir vor allem kleine Krankenhäuser durch eine zu schlechte Finanzierung „verhungern“ lassen. Die waren dann gezwungen, ihr wirtschaftliches Überleben unter anderem durch viele Operationen zu sichern.

Und?

Diese waren medizinisch nicht immer erforderlich und dafür wären andere Krankenhäuser besser qualifiziert gewesen. Daher ist es richtig, dass jetzt eine Krankenhausplanung auch nach fachlichen Gesichtspunkten erfolgt. Und es wird klar gesagt, dass größere und spezialisierte Krankenhäuser die Versorgung in vielen Bereichen besser gewährleisten können. Dazu hatten wir einen jahrzehntelangen Investitionsstau, der jetzt aufgelöst wird. Daher würde ich sagen, dass die Reform insgesamt ein großer Wurf ist.

Dennoch gibt es in den Ländern den Wunsch, noch Änderungen an der Reform vorzunehmen. Wo sehen Sie Nachbesserungsbedarf?

Der Rechtsweg ist sehr kompliziert geregelt. Wir haben eine Verschränkung zwischen der Sozial- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die zum Teil über die gleichen Themen entscheiden.

Inwiefern?

Schauen wir uns die neu eingeführten Leistungsgruppen an: Da greifen Qualität, Vergütung und Krankenhausplanung ineinander und für alles gibt es unterschiedliche Rechtswege. Für die Krankenhausplanung und die Zuweisung der Leistungsgruppen sind die Länder zuständig und im Streitfall die Verwaltungsgerichte. Bei der Krankenhausvergütung gibt es zwei Ebenen: Für das Gesamtbudget, das die Krankenhäuser jedes Jahr zugewiesen bekommen, sind ebenfalls die Verwaltungsgerichte zuständig.

Und wofür nicht?

Alle Fragen zu den einzelnen Krankenhausvergütungen und den Qualitätsvorgaben sind dagegen im Sozialgesetzbuch geregelt. Dafür sind die Sozialgerichte zuständig. Die einzelnen Bereiche sind eng miteinander verzahnt und es ist zum Teil über dieselben Rechtsfragen zu entscheiden. Und wenn zwei Gerichtsbarkeiten für dieselbe Materie zuständig sind, wird es immer kompliziert. Hinzu kommt, dass in den Grenzbereichen der Rechtsweg teilweise nicht klar geregelt ist und zunächst einmal höchstrichterlich geklärt werden müsste.

Für große Diskussionen sorgt weiterhin das Bürgergeld. Was halten Sie von Komplettstreichungen des Regelsatzes?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auf die man sich zur Rechtfertigung einer sogenannten Vollsanktionierung beruft, ist sehr komplex. Im Prinzip ist es verfassungswidrig, um mehr als 30 oder gar 100 Prozent zu sanktionieren. Es gibt allerdings eine Randnummer in dem Urteil, die hierzu eine Ausnahme zulässt, deren Verständnis aber auch Auslegungssache ist.

Das heißt?

Wer denkt, dass es viele Einsparungen gibt, wenn man pauschal sagt „Wer nicht arbeiten will, bekommt kein Bürgergeld mehr“, der macht es sich zu einfach. Ob jemand nicht kann oder nicht will, ist eine in der Realität schwierige Frage, die im Einzelfall geprüft werden muss. Und meine Erfahrung als Sozialrichterin zeigt auch, dass es ganz wenige „Totalverweigerer“ gibt.

Wie groß ist das Problem Leistungsmissbrauch? Bärbel Bas sprach von „mafiösen Strukturen“.

Dass es einzelne Leute gibt, die das System ausnutzen, gab es schon zu Zeiten der Sozialhilfe – das muss der Staat bekämpfen, auch um die Akzeptanz zu erhalten. Intensive Kontrollen, auch mit Hausbesuchen, können dabei helfen, Missbrauch aufzudecken. Wenn man über Missbrauch spricht, müssen aber auch Dritte, wie zum Beispiel bestimmte Vermieter oder Arbeitgeber in den Blick genommen werden.

Inwiefern?

Die einen nutzen die Situation auf dem Wohnungsmarkt aus und verlangen für grenzwertige Wohnverhältnisse ein Maximum an Miete. Die anderen sehen das Bürgergeld als Kombilohn, um selbst ein möglichst niedriges Gehalt zu zahlen.

Die soziale Pflegeversicherung steht vor dem Kollaps. Eine Bund-Länder-AG soll nun Reformvorschläge erarbeiten. Welche Probleme müssen darin gelöst werden?

Die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung. Sie ist ein Zuschuss für das Risiko von Pflegebedürftigkeit und sie soll die Pflege durch Angehörige erleichtern. Eine Pflegevollversicherung, die einige Verbände anstreben, entspricht nicht dem Ziel der sozialen Pflegeversicherung und ist aus meiner Sicht auch nicht richtig. Es geht auch nicht darum, dass zugunsten der Angehörigen das Erbe unbegrenzt geschont wird.

Werden Pflegebedürftige und Angehörige nicht schon stark genug belastet?

Durch das 2021 in Kraft getretene Angehörigenentlastungsgesetz können erwachsene Kinder, wenn ihre Eltern die Pflegekosten nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen zahlen können, nur noch dann für die entstehenden Kosten der Sozialhilfe herangezogen werden, wenn sie über 100.000 Euro im Jahr verdienen. Das ist schon eine extreme Entlastung zu Lasten der Allgemeinheit.

Was ist mit den Eigenanteilen für dir stationären Pflegekosten?

Auch da ist der Gesetzgeber tätig geworden. Selbst wenn man ein sehr großes Vermögen hat, werden ab dem vierten Jahr, in dem man im Heim lebt, 75 Prozent der Kosten durch die Pflegeversicherung bezuschusst. Über diese Stellschrauben sollte man meines Erachtens nachdenken.

Nachdenken will die Koalition über viele Themen auch in Kommissionen, obwohl die Probleme schon lange bekannt sind und viele Vorschläge existieren. Muss das sein?

Die Reform des Sozialstaats ist sehr komplex. Eine gute Lösung muss berücksichtigen, dass die verschiedenen föderalen Ebenen unterschiedliche Vorstellungen haben. Die Kommunen präferieren andere Vorschläge als die Bundesagentur für Arbeit, die als Bundesinstitution zentral organisiert ist. Daher halte ich es für richtig, in der Kommission die unterschiedlichen Vorschläge noch einmal auszuwerten und ein schlüssiges Gesamtsystem zu suchen. Man sollte sich aber nicht unter einen solchen Zeitdruck setzen.

Die Kommission soll im vierten Quartal 2025 ein Ergebnis vorlegen.

Das ist völlig unrealistisch.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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