Michael Kretschmer forderte am vergangenen Wochenende eine Beweislastumkehr beim Bürgergeld. Wer Bürgergeld wolle, müsse nachweisen, dass er nicht in der Lage sei, zu arbeiten. Wäre das juristisch möglich?
Joachim Wolff: Es gibt ein Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2019, das die Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz klarstellt. Kretschmers Vorschlag betrifft Personen, die arbeiten könnten. Ihnen sollen dann keine Leistungen zustehen. Das wäre eine hundertprozentige Leistungsminderung, die laut Bundesverfassungsgericht nicht beziehungsweise nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig ist. In dem Urteil gibt es eine klare Aussage dazu, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum im Grundgesetz gewährleistet werden muss: „[…] Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“
Es gibt zwar Einzelfälle, in denen laut dem Urteil alle Leistungen gestrichen werden könnten, aber das ist selten. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass damit eine dauerhafte Kürzung gemeint ist. Kretschmers Aussage impliziert jedoch eine dauerhafte Streichung, wenn man nicht nachweist, dass man nicht arbeiten kann. Das widerspricht dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, da das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist, und ist rechtlich kaum umsetzbar.
Könnte eine Beweislastumkehr das Sozialhilfe-System verbessern?
Ich halte das für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Wir haben eine soziale Absicherung für erwerbsfähige Personen, die keine Arbeit finden, um ihr Existenzminimum zu sichern. Es geht nicht nur darum, ob man arbeiten will, sondern auch darum, ob man Arbeit findet. Rezessionen, regionale wirtschaftliche Schwierigkeiten und große Transformationen, etwa wie in den 1990er Jahren in der ostdeutschen Wirtschaft, führen dazu, dass viele Menschen keine Arbeit finden können. Wir wollen, dass Menschen, die kein Arbeitslosengeld erhalten, auch Unterstützung bekommen. Ein Auffangsystem muss für diejenigen da sein, die arbeiten können, aber keine Arbeit finden. Kretschmers Aussage ist daher nicht durchdacht.
Was würde passieren, wenn es kein Auffangsystem mehr gäbe?
Damit würden wir die soziale Absicherung jener Personen aufgeben, mit allen Folgen, die das hätte. Was passiert dann? Sie rutschen unter das Existenzminimum und es folgen die Probleme, die wir von hohen Leistungsminderungen kennen: Man kann keine Rechnungen mehr zahlen, die Energieversorgung wird gesperrt. Wenn kein Strom und Warmwasser da ist, kann ich viel schlechter Arbeit suchen. Es kann auch zu Wohnungslosigkeit führen. Es würde also zu sehr großen sozialen Schieflagen führen, die nicht gewollt sein können.
Können Androhungen von härteren Sanktionen oder Leistungsminderungen sich positiv auf die Vermittlungsrate auswirken?
Es ist wirklich nur eine Minderheit, die zumutbare Arbeit oder Maßnahmen ablehnt oder versäumt, sich rechtzeitig zu melden. Leistungsminderungen sollen hier ein Umdenken bewirken, was nicht immer gelingt, aber hilfreich sein kann. Unsere Studien zeigen, dass sanktionierte Personen schneller Arbeit finden als nicht sanktionierte. Das ist aber auch ein zweischneidiges Schwert. Denn es kann eben dazu kommen, dass Personen Arbeit aufnehmen, die weniger gut bezahlt ist, als das, was sie vielleicht gefunden hätten, wenn sie ohne die Sanktion weitergesucht hätten. Doch wir wünschen uns Jobs mit höheren Einkommen, damit Menschen langfristig auf eigenen Beinen stehen und keine Transferleistungen mehr benötigen. Es sollte daher mit moderaten Leistungsminderungen gearbeitet werden.
Die Arbeitsagenturen müssen umsetzen, was die Politik beschließt. Wie nehmen Sie wiederkehrenden Debatten über das Bürgergeld wahr?
Wir wünschen uns eine sachlichere Diskussion. Die Politik hat oft eine Art es Herangehens, die ich nicht für zielführend halte, da Menschen in eine bestimmte Ecke gestellt werden. Begriffe wie „Totalverweigerer“ sind diffamierend. Die Situation in den Jobcentern ist vielschichtig, und es gibt eine breite Gruppe von Bürgergeldbeziehenden mit unterschiedlichen Problemlagen.