Interview
Erscheinungsdatum: 29. August 2024

Alexander Schweitzer: „Die Zukunft der Pflege braucht eine große Debatte"

Seit dem 10. Juli ist Alexander Schweitzer (50) Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Im Interview erklärt er, welche Rolle Boris Pistorius im Bundestagswahlkampf spielen sollte und warum Frieden und Pflege zentrale Themen sein sollten.

Herr Schweitzer, zur Berliner Ampel ist das meiste gesagt. Aber was sind die Themen, die in Berlin aus dem Blick geraten sind und die die Leute wirklich bewegen?

Sie geraten nicht aus dem Blick der Berliner Ampel, denn die Bundesregierung hat ja eine Menge erreicht. Sie hat uns gut durch die Zeit nach Kriegsbeginn und durch die letzten Momente der Pandemie gebracht. Der Arbeitsmarkt ist robust, der Mindestlohn gestiegen. Beim Thema Tariftreue ist sicher noch Luft nach oben. Das Problem ist, dass der Dauerdisput den Blick auf die vielfach gute Arbeit verstellt.

Es ist unstrittig sehr viel liegen geblieben, bei Themen wie Digitalisierung, Infrastruktur, Bahn, Bildung, Wohnungsbau und anderen mehr.

Zur Ehrlichkeit gehört: Nicht für alle Themen ist die Bundesregierung allein zuständig. Da will ich die Länder nicht ganz aus der Verantwortung nehmen. Und ja, Digitalisierung ist ein großes Thema, das als Brett aber inzwischen so dick ist, dass die Ampel-Regierung nicht alles in vier Jahren lösen kann, was Vorgängerregierungen in 16 Jahren nicht angepackt haben. .

Gilt das nicht auch für die Bahn, für die Pflege und Rente?

Das gilt auch für die Bahn oder die Pflege. Die Alltagsthemen der Menschen, das was am Küchentisch besprochen wird, alle Themen rund um die Arbeitnehmerhaushalte und wie es den Menschen in der Mitte des Lebens geht, sind hochpolitische Themen und sollten im Mittelpunkt stehen. .

Berlin hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Programmen aufgelegt, etwa für Digitalisierung, Ganztagsschulen, Kitas, deren Kosten die Länder nach Ende der Anschubfinanzierung überfordert haben. Machen solche Programme noch Sinn?

Wir haben mit dem Geld des Bundes und des Landes einen großen Digital-Boost an unseren Schulen erreicht. Die Ganztagsschule ist bei uns seit 2001 auf der Tagesordnung; aber es brauchte damals auch die Unterstützung aus dem Bund. Das sind gute Beispiele für eigene föderale Verantwortung und Bundesunterstützung.

Erfahrungsgemäß sagt kein Bundesland Nein, wenn der Bund Programme anschiebt und erst einmal großzügig bezuschusst.

Die letzten Bund-Länder-Verhandlungen waren sehr davon geprägt, dass wir Länder auch langfristig mit solchen Programmen klar kommen. Die Länder jubeln nicht immer, wenn aus Berlin solche Ideen kommen.

Sie sitzen im Präsidium der Bundes-SPD. Womit will die SPD die Bundestagswahl 2025 gewinnen? Olaf Scholz noch einmal als Klima- oder Friedenskanzler zu präsentieren, dürfte schwierig werden. Auch beim Thema Wohnraum hapert es. Welche Themen aber dann?

Ich bin nicht so vermessen, dass ich den Masterplan habe. In jedem Fall werden Fragen, wie wir uns noch Pflege leisten können, und Frieden und Sicherheit weiter eine Rolle spielen.

Insbesondere im Osten ist der Frieden nicht unbedingt ein Gewinnerthema….

Keiner will Krieg. Es geht doch darum, wie können wir die Ukrainer vor dem völkerrechtwidrigen Angriff schützen und wie schützen wir uns selbst. Russland versucht massiv, die Diskussion in Deutschland zu manipulieren und ich höre auch oft, wie nicht faktenbasiert sondern populistisch irgendwelche Behauptungen aufgestellt werden. Das bedient sicher das emotionale Bedürfnis, sich möglichst nicht in solche Konflikte verstricken zu lassen. Aber als Bundesregierung hast du eine Gesamtverantwortung.

Umso mehr die Frage: Lassen sich damit Wahlen gewinnen?

Man sollte die Menschen nicht unterschätzen. Viele nehmen doch sehr genau wahr, dass sich die Welt verändert hat. Und wenn ich Frau Wagenknecht sehe, die sich noch vor Kurzem nicht geniert hat, in Talkshows aus voller Überzeugung zu behaupten, natürlich werde Putin die Ukraine nicht angreifen, und sich danach nie für ihren großen Irrtum entschuldigt hat, sondern damit weiter Kampagne macht, ist das Populismus pur.

Das macht Olaf Scholz noch nicht zu einem Friedenskanzler.

Es gibt viele Menschen, die sehr wohl wahrnehmen, was in Osteuropa passiert, was in China passiert. Da wollen wir eine Resilienz aufbauen, nicht aggressiv werden, aber in der Lage sein, uns zu verteidigen. Ich will nur darauf hinweisen, dass Boris Pistorius der beliebteste Politiker in Deutschland ist. Und dass er einen Kurs verfolgt, für den auch der Kanzler steht. Offenbar wollen doch eine Menge Leute eine Politik, die auf die Welt reagiert, wie sie leider ist.

Soll Boris Pistorius im Wahlkampf eine besondere Rolle spielen?

Natürlich.

Als Kanzlerkandidat?

Auch wenn ich Sie zu der Frage eingeladen habe – nein. Aber es ist doch bemerkenswert, dass Boris Pistorius auch in Ostdeutschland der beliebteste Bundespolitiker ist. Er wird eine starke Rolle spielen, wie die anderen SPD-Kollegen übrigens auch.

Wie kann es sein, dass in einem Land wie Deutschland Schulen jahrelang auf die überfällige Sanierung warten müssen, dass die Digitalisierung, die Bahn, die Infrastruktur, dass alles hinterherhinkt?

Sie haben in der Analyse völlig recht. Und es ist kein Hexenwerk. Diese Themen schaffen vielmehr Anschlussfähigkeit und die muss die SPD erreichen. Wir wollen für die Bundestagswahl einen Prozess genau entlang dieser Fragen organisieren. Je überzeugender wir Mehrheitsthemen adressieren, umso mehr sind wir in der Lage, auch randständigere Themen anzusprechen. Du kannst nicht durch die Addition von Minderheitenthemen Mehrheiten organisieren. Das muss sich die Sozialdemokratie wieder auf die Fahnen schreiben.

Was werden weitere Themen sein?

Es müssen Küchentisch-Themen sein. Themen, über die die Leute beim Abendessen sprechen. Die Pflege zum Beispiel wie schon gesagt ist ein hoch relevantes Thema…

Ein Thema, das mit Wucht auf diese Gesellschaft zukommt, aber sehr zurückhaltend diskutiert wird…

Richtig. Aber bevor die geburtenstarken Jahrgänge ins Pflegealter kommen, werden sie selbst noch ihre Eltern pflegen müssen. Es ist ja jetzt schon oft so, dass die 65-Jährigen die 90-Jährigen pflegen. Weil die demographische Entwicklung aber absehbar ist, werden wir nicht nur kleinteilig, sondern eine große Debatte über die Zukunft der Pflege führen müssen, die dann auch mit politischen Schritten unterlegt wird.

Die Pflegeversicherung ist, so wie sie besteht, schon jetzt überfordert.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir die Pflegeversicherung derzeit, die ja wie eine Teilkaskoversicherung wirkt, zu einer Pflegevollversicherung umbauen müssen. Das heißt, die großen Risiken der Pflege müssten abgefedert werden durch die soziale Pflegeversicherung, was heute nicht der Fall ist. Es geht aber nicht nur darum. Wir müssen die ambulante Pflege stärken, um die stationäre Zeit nach hinten zu verschieben. Wir müssen die Menschen aktivieren, sie aus der Einsamkeit holen, sie so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden lassen. Wir brauchen einen Ansatz, der nicht nur an die Finanzierung denkt, sondern das Umfeld einbezieht.

Trotzdem kommen wir um die Frage der Finanzierung nicht herum.

Die Frage der Finanzierung muss mit der Frage des Angebots mitwachsen. Wir brauchen dafür einen großen Konsens und müssen dazu das ganze Land mitnehmen. Das ist keine Frage, die man mit knapper Mehrheit im Bundestag abstimmen sollte. Nicht zuletzt was den Steuerzuschuss angeht, werden wir wie bei anderen sozialen Sicherungssystemen einen Ausgleich aus dem Bundeshaushalt brauchen. Wir hatten 2023 zum ersten Mal in der Geschichte der Pflegeversicherung einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt, rund eine Milliarde Euro, das war dringend nötig. Das wurde für 2024 zurückgenommen, aber wir werden uns an solche Zuschüsse gewöhnen müssen.

Bisher zahlen nur abhängig Beschäftigte und ihre Arbeitgeber in die Pflegeversicherung ein. Muss man den Kreis der Beitragszahler erweitern?

Mir geht es nicht primär um die Finanzierungsfrage. Ich will zuerst einmal gesellschaftlich klären, was wir wollen und wer wie von wem gepflegt werden soll. Und dann wird sich die Frage der Finanzierung stellen – und ja, darauf müssen wir Antworten geben. Und da wird sich schnell herausstellen, dass das bisherige Finanzierungssystem nicht ausreicht.

Auch Investmentfonds investieren bereits in die stationäre Altenpflege. Offensichtlich lässt sich gutes Geld damit verdienen.

Noch tut sich der Bundesgesetzgeber schwer, den Zugang von Hedgefonds oder Private-Equity-Unternehmen zu verhindern. Aber wir werden da regulatorische Schritte brauchen.

Wie könnten die aussehen?

Es braucht zunächst mehr Transparenz über die Trägerstrukturen, damit pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Daneben braucht es schärfere Instrumente, mit denen die Pflegekassen auf Verstöße gegen vertragliche Vereinbarungen reagieren können. Die gelbe Karte ist leider manchmal zu wenig. Eine entsprechende Initiative der Länder habe ich noch als Sozialminister im vergangenen Jahr im Bundesrat eingebracht.

Warum ist der Markt für Investmentfonds interessant?

Weil es bei der stationären Altenpflege eine hohe Bereitschaft von Nocheigentümern gibt, häufig Einzelunternehmer, ihr Haus zu veräußern. Die Fonds sind in der Lage, mit einer höheren Schwungmasse logistische Fragen, Einkauf und Personal anders zu lösen. Die trennen die Immobilie vom Betrieb und schlagen auch daraus Kapital. Sie haben teilweise abenteuerliche Renditeerwartungen, die man eigentlich in der Pflege nicht erwarten kann, die sich dann aber durch das Filetieren des Geschäfts doch erreichen lassen.

Und was machen Sie in Rheinland-Pfalz anders?

Wir konzentrieren uns erst einmal auf die häusliche Altenpflege. In Rheinland-Pfalz werden 80 Prozent der Pflegefälle zuhause betreut, von den Angehörigen, von Partnern, unterstützt von ambulanten Pflegediensten. Je länger die Menschen zuhause bleiben können, desto später beginnt die stationäre Pflege. Wir haben ein Modell aufgelegt – die Gemeindeschwester plus – bei dem wir die Menschen unterstützen, bevor sie einen offiziellen Pflegegrad haben. Das verlängert die Phase der Selbständigkeit. Und ich wünsche mir, dass ein Reformschritt der Bundesregierung Vorsorge so stärkt, dass der Eintritt in die stationäre Altenhilfe nach hinten verschoben wird – und wenn es nur um Monate geht. Was übrigens der Pflegeversicherung und ihrer Finanzierung hilft, was dem Thema Fachkräfte Brisanz nimmt und natürlich auch der Lebensvorstellung älterer Menschen sehr viel mehr entspricht.

Wer soll das in der Bundesregierung in die Hand nehmen, der Gesundheits- oder der Sozialminister?

Zunächst sieht sich wohl der Gesundheitsminister in der Verantwortung. Ich bin mir auch sicher, dass Vorschläge kommen werden – weil es ein hochrelevantes Thema ist. Die sind auch notwendig. Man wird solche Themen im Wahlkampf aufrufen können, wenn man schon vorher gezeigt hat, dass man sich damit beschäftigt. Ich glaube auch, dass das Thema Arbeit und Demografie eine Rolle spielen wird. Wir müssen schauen, dass wir die Jungen wieder besser in den Arbeitsmarkt bekommen, als uns das zur Zeit gelingt. Und dass wir für die Älteren, die nicht mehr können, Möglichkeiten finden, sozial gut abgefedert aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.

Wie? Noch komfortabler als die Rente mit 63?

Die Rente mit 63 gibt es nicht mehr und die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen wächst. In Rheinland-Pfalz hatten wir nie ältere Arbeitnehmer als momentan. Das öffentliche Bild, dass die Menschen immer jünger aus dem Erwerbsleben ausscheiden, ist nachweislich falsch.

Konkret: Wer soll früher aussteigen können?

Ich denke, dass wir das über Tarifverträge regeln müssen. Dazu müssen wir die Tariflandschaft verbreitern, Möglichkeiten schaffen, dass die Menschen mit Erreichen des Renteneintrittsalters flexibler arbeiten können. Vielleicht nicht fünf oder sechs Tage pro Woche und keine Nachtschicht mehr, aber dass sie sich doch noch einbringen und ein bisschen was dazu verdienen können.

Aber die vorzeitige Rente wäre nach wie vor mit Abschlägen verbunden?

Natürlich. Aber diese Abschläge müssen künftig nicht mehr ausschließlich über die Rentenversicherung ausgeglichen werden, sondern über Tarifverträge. Das setzt voraus, dass mehr Arbeitnehmer tariflich gebunden sind. Diese Modelle findet man in der Industrie durchaus; aber wir bräuchten sie im Handwerk und in handwerksnahen Dienstleistungen, auch bei kleinen und mittleren Unternehmen, die oft keinen Branchentarifverträgen unterliegen. Das ist vielleicht nicht talkshowtauglich, aber die Sozialdemokratie hat eine hohe Glaubwürdigkeit, da Angebote zu machen.

Was ist mit dem Thema Gerechtigkeit, mit dem sich die SPD de facto sehr schwer tut?

Rente, Pflege und Arbeitsmarkt sind doch in hohem Maße Gerechtigkeitsthemen. Es geht doch darum, welche gesellschaftlichen Ressourcen wir mobilisieren, um Menschen ohne Kapitalvermögen, die abhängig von Lohnleistungen sind, eine hohe Teilhabe zu ermöglichen.

Aber die gefühlte Gerechtigkeit geht zurück. Die Vermögen gehen auseinander, in der Bildungsgerechtigkeit tut sich nichts, und die SPD regiert seit 26 Jahren fast ausnahmslos mit. Wie konnte das passieren?

Das ist tatsächlich eine Riesenherausforderung und beschäftigt viele Menschen. Guck mal, sagen sie, andere fahren vom ersten Tag ihres Lebens an auf der Überholspur. Die hatten Glück, ich hatte das nicht. Eine Analyse, die ich komplett teile. Es hat was zu tun mit Vermögen, Kapital und Erbschaften und auch damit, dass wir es nicht mehr schaffen, Menschen in ein erfolgreiches Arbeitsleben zu bringen. Das muss immer unser Anspruch sein.

Hat die SPD an diesem Punkt etwas versäumt?

Wir haben immer noch zu viele Menschen, die ohne Abschluss von der Schule gehen oder unterbrochene Erwerbsbiografien haben. Da müssen wir als SPD bei Themen wie Anschlussqualifikation und Weiterbildung eine Schippe drauf legen. Das ist keine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, aber die Menschen stellen sich natürlich die Frage: Gibt es eine Politik und eine Partei, die uns noch mal eine Chance gibt?

Und was antworten Sie?

Denen helfe ich nicht, indem wir Geld von den Milliardären nehmen und großzügig verteilen. Die spüren doch, dass das mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat. Aber wenn wir ihnen noch mal eine Ausbildung ermöglichen, sie sich eine Wohnung leisten können, dann haben alle gewonnen. Gerechtigkeit hat nicht nur mit Zahlen zu tun, sondern auch mit der Frage, helfen die mir, mein Leben einigermaßen stressfrei zu organisieren?

Dieses Milieu hat aber mit denen, die jeden Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen, wenig zu tun.

Das Thema Rente und Pflege reicht weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Die Herausforderung, das Leben zu organisieren, obwohl man fleißig ist, ist ein total sozialdemokratisches Thema. Deshalb müssen wir auch mal wieder mit der FDP über das Thema Abgaben und Steuern streiten, bevor man darüber streitet, wie man die letzten zehn Prozent der Steuerzahler vom Soli befreit. Deren persönlicher Lebensstil so ist, dass für die Binnenkonjunktur nicht so viel übrig bliebe, wenn man sie auch noch befreit. Wir müssen versuchen, die Mitte der Gesellschaft zu entlasten, etwa diejenigen, die zwei Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen.

Das heißt, Steuern, Erbschaft, Vermögen, Einkommen, werden auch eine Rolle spielen im SPD-Wahlkampf?

Ich bin in der Frage der Steuerpolitik extrem zurückhaltend. Mir geht es zunächst mal darum: Was wollen wir erreichen? Ziel muss doch sein, dass wir die Menschen in der rush hour des Lebens entlasten. Durch Angebote, die sie tatsächlich im Geldbeutel spüren. Das ist vielleicht nicht spektakulär, aber die Menschen registrieren sehr wohl, wer an sie denkt und wer ihre Bedürfnisse im Blick hat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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