Interview
Erscheinungsdatum: 18. März 2024

Entwicklungsexperte Ralf Südhoff zur Humanitären Hilfe: „Es wird sehr viel Potenzial verschenkt"

Obwohl von zunehmend strategischer politischer Bedeutung gerät die Humanitäre Hilfe in die Defensive. Experte Ralf Südhoff bemängelt schrumpfende Mittel, mangelnde Koordination und plädiert für mehr Ehrlichkeit und eine höhere Fehlertoleranz.

Herr Südhoff, Deutschland hat zum zweiten Mal die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe gekürzt. Was bedeutet das in einer neu formatierten Welt?

Die Botschaft ist fatal, die Glaubwürdigkeit leidet. Das hören wir von verschiedensten Seiten. Es ist natürlich ein Widerspruch, wenn man zugleich betont, dass man Allianzen bilden möchte, sich diversifizieren will und Interessenspartnerschaften sucht. Wir bekommen die Rückmeldungen: Im Ukrainekonflikt habt ihr ständig betont, wie wichtig euch unsere Unterstützung ist trotz unserer Abhängigkeiten von russischem Getreide, von China. Und gleichzeitig seid ihr nicht bereit, selbst einen so kleinen Preis zu zahlen. Bei der Humanitären Hilfe geht es ja insgesamt nur um zwei bis drei Milliarden Euro im deutschen Haushalt. Deswegen ist die Entscheidung falsch – humanitär und sicherheitspolitisch.

Wie reagieren andere Geber darauf?

Im europäischen Umfeld ist man überrascht. Man sieht durchaus, dass Deutschland in den vergangenen Jahren viel geleistet hat. Man ist aber schon erstaunt, wie radikal die Umkehr ist. Seit 2022 wurde die Humanitäre Hilfe in Deutschland um fast ein Drittel gekürzt. Die Entwicklungszusammenarbeit etwas weniger, aber mit der klaren Ansage, den Etat in den nächsten Jahren weiter herunterzufahren. Das führte ja auch zu dem Appell bei der Münchner Sicherheitskonferenz von Christoph Heusgen, Horst Köhler, Sigmar Gabriel und anderen, dass ein solches Signal völlig falsch sei.

Sie haben sich in Ihrer jüngsten Studie mit der europäischen Geber-Koordination beschäftigt. Warum?

In Zeiten schwindender Ressourcen wäre eine gute Koordination der Ressourcen und der gemeinsamen Hilfe wichtiger denn je. Aber alles in allem werden mangels Koordination massiv Chancen verspielt. Und das, obwohl Europa der weltweit größte Geber ist und wir global fast die Hälfte der Humanitären Hilfe leisten. Theoretisch hätten wir also viel Einfluss.

Was verspielen wir?

Politische Chancen und eine wirksamere Hilfe. Eine ganz praktische Frage: Wer hilft wem in Zeiten multipler Krisen? Es gibt viele Krisen, große Krisen wie die Ukraine, wo viel Hilfe ankommt, aber auch seit Jahren vergessene Krisen, in denen die dringendsten Hilfsprogramme nur zu sieben bis acht Prozent finanziert werden. Sie werden beim Gipfel zur Humanitären Hilfe diese Woche in Brüssel ein dominierendes Thema sein, denn gerade in diesem Bereich sind die europäischen Staaten mit am schlechtesten koordiniert, weil eigene Interessen oder der Zwang zur Sichtbarkeit dagegen stehen. Da wird sehr viel Potenzial verschenkt.

Kommen wir aus der Falle einer unbedingten eigenen Sichtbarkeit wieder heraus?

Man kann raus kommen, aber es braucht eine gewisse Kreativität und Toleranz. Der Zwang, sich zu präsentieren, ist schon lange ein großes Thema. Wir plädieren dafür, dass die Geber die Mittel flexibler geben und den Hilfsorganisationen die Priorisierung überlassen. Das Problem ist, dass man dann Parlament und Öffentlichkeit schwerer vermitteln kann, was mit der deutschen Hilfe passiert ist.

Und das lässt sich nicht lösen?

Doch. Man könnte zum Beispiel klarmachen, dass der deutsche Anteil an diesem oder jenem Programm so groß war, dass man damit 20.000 Kinder in die Schule schicken oder 200.000 Menschen vor dem Hungertod retten konnte. Man muss nicht zwingend behaupten, das Geld sei exakt für diese Menschen aufgebracht worden, sondern wofür die Hilfe steht – und wieviel mehr Menschen man helfen konnte mit flexiblerer, effizienterer Hilfe.

Geld an die großen Hilfsorganisationen zu geben, insbesondere die der UN, ist in Deutschland nicht gut beleumundet.

Ich glaube tatsächlich, dass es nicht unproblematisch ist, wenn die Geberregierungen zu viel Geld an die großen Hilfsorganisationen geben. Ja, es ist für sie das Einfachste. Das kann auch in manchen Krisen richtig sein. Aber in dem Ausmaß und mit der Begründung, wie es geschieht, ist der minimale administrative Aufwand die Triebfeder und nicht die Frage, wer gerade im Sudan, im Jemen oder in Syrien am besten helfen kann. Und um solch großen Tanker zu monitoren und dazu zu bringen, endlich mehr mit lokalen Institutionen zusammenzuarbeiten, bräuchte es auf Geberseite eine bessere Koordination.

Im Gaza ging es nicht ohne das UN-Hilfswerk UNRWA.

Das ist ein besonderer Fall, weil dort kaum jemand sonst Zugang hat. In anderen Fällen ist es eher eine Frage der Größe. Diese kann ein Vorteil sein, weil es natürlich auch effizienter und wirksamer sein kann, ein großes Hilfsprogramm für Millionen syrische Flüchtlinge zu organisieren statt Hunderte kleine. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein. Was oft dazu führt, dass man die UN-Organisationen zu Ersatzgebern macht. Diese kriegen dann die Mittel, um sie weiter nach unten zu verteilen. Da ließen sich viele Umwege abkürzen.

In Europa haben konservative Regierungen gerade Rückenwind. Sie sind nicht unbedingt bekannt dafür, die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe zu steigern. Rücken wir international vom 0,7-Prozent-Ziel ab?

Das glaube ich nicht. Faktisch sind wir dort allerdings auch nie angekommen. Tatsächlich sind die zehn Staaten, die dem 0,7-Prozent-Ziel am nächsten kommen oder es übertreffen, durchweg Staaten in Europa. Länder wie Frankreich oder Spanien haben gerade einen Gegentrend gesetzt, indem sie per Gesetz festgelegt haben, bis wann ihre Budgets das 0,7-Prozent-Ziel erreichen müssen. .

Warum funktioniert die Koordination so unzureichend?

Es gibt Faktoren, die immer gelten: Zu wenig Zeit, zu wenig Ressourcen, zu viele Spieler. Was man in der Forschung „informative Koordination“ nennt, funktioniert teils ganz leidlich, also dass man sich erzählt, was man so macht. Auch die „thematische Koordination“ funktioniert punktuell, aber schon nicht mehr in den eigentlich dafür vorgesehenen EU-Gremien. Und es gibt überhaupt keine strategische Koordination, mit der man den wirklichen Herausforderungen begegnen würde, etwa dem Mangel an Ressourcen, dem ernsthaften Monitoring großer Organisationen oder humanitärer Diplomatie, die man in großen Krisen auch braucht.

Es gibt keine Ersatzformate?

Es gibt entweder sehr inklusive Foren, in denen alle sitzen, die dadurch zu divers und ineffektiv sind. Und es gibt informelle, kleine elitäre Zirkel, wie etwa die Stockholm-Gruppe der fünf großen Geber, Großbritannien, Schweden, ECHO, die USA und Deutschland. Die arbeiten durchaus effektiv und ad hoc, etwa wenn in Afghanistan plötzlich ein Arbeitsverbot für Frauen gilt oder in der Ukraine ein Krieg ausbricht. Aber auch sie schaffen es nicht, die grundlegenden Themen gemeinsam voranzubringen.

Und Ihr Vorschlag?

Weil große Gruppen nicht immer sinnvoll sind, viele EU-Staaten zudem kein Personal und keine Expertise haben, schlagen wir vor, diese Gruppe um Länder wie Frankreich, die Schweiz oder die Niederlande und Norwegen zu erweitern, so dass sie inklusiver, aber doch gesprächsfähig ist und Prioritäten setzen kann.

Katastrophen zeichnen sich per se durch Chaos aus. Das betrifft auch die Helfer, die sich in dem Durcheinander erst sortieren müssen. Ad-hoc-Handeln ist der Humanitären Hilfe also immanent.

Das stimmt. Aber Ad Hoc-Aktionen reichen auf Dauer nicht. Es gibt EU-Vertreter, die finden, dass die Koordination prima läuft. Aber sie verkennen, dass sich mit der Klimakrise, mit sinkenden Ressourcen und immer längeren Konflikten viel grundlegendere Fragen stellen. Diese Themen geht niemand an. In der Ukraine gab es zum Beispiel viele lokale Hilfen, die überrollt wurden von der internationalen Hilfsmaschinerie. Dieses Dilemma haben wir bei jeder größeren Krise aufs Neue. Da werden viele Ressourcen und viel Porzellan zerschlagen, aber keiner geht die Frage an, wie wir es mittelfristig besser machen.

In Europa gibt es kein Zentrum der Humanitären Hilfe, kein Ort, an dem Geber, Think Tanks und große Organisationen sich austauschen können. Warum nicht?

Wir waren auch überrascht, wie fragmentiert die Szene ist. In Berlin zum Beispiel, ein wachsender Hub, sind mehr Hilfsorganisationen vertreten als in Brüssel. Aber weder in Berlin noch in Brüssel gibt es organisierte Abstimmungsprozesse. Das ist alles fragmentiert zwischen Brüssel als Sitz von ECHO, einer der größten Geber weltweit, und allen anderen Gebern, die woanders sitzen.

Warum ist das so?

Ein Grund ist, dass die Botschaften in Brüssel überhaupt kein Fachpersonal für humanitäre Fragen haben. Das ist ein enormer Verlust, weil ein solches Netzwerk an einem Ort, wo man sich informell trifft, zum Abendessen oder zufällig auf einen Kaffee und sich austauscht, die sogenannte „soft power“ von Netzwerken, extrem hilfreich wäre.

Fehlt schlicht der politische Wille?

Auch das ist ein Grund. Es gibt eben den Wunsch nach eigener Profilierung, und auch die Bereitschaft, etwas für ein gemeinsames Ziel aufzugeben, ist nicht besonders ausgeprägt. Auch die neue Leitung im Auswärtigen Amt priorisiert keine humanitären Themen.

Wie koordinationswillig sind wir Deutschen?

Auf der Arbeitsebene im AA ist man sehr problembewusst, und versucht es etwa durch bilaterale Treffen anzugehen. Doch viel wird heute vor Ort in den Krisenregionen koordiniert. Dort sind aber gerade die Europäer nur bedingt präsent. Deutschland hat überhaupt keinen Mitarbeiter mit humanitärer Expertise an den Botschaften. Im Auswärtigen Amt arbeiten in der Abteilung für Humanitäre Hilfe 65 Diplomaten. Zum Vergleich: ECHO ist als Geber ähnlich groß, hat in Brüssel aber über 400 Personen und an den EU-Vertretungen in Krisenländern noch mal knapp 450, die dauerhaft vor Ort bleiben.

Das klingt auch nach fehlender Führung.

Unbedingt. Es geht gar nicht immer um mehr Geld. Es geht um eine konzeptionelle Weiterentwicklung der Hilfen, eine lokalere, strategischere Hilfe, die auch priorisiert. Großbritannien, und das ist ein großer Verlust, kann diese Rolle wegen des Brexit und massiver Einsparungen nicht mehr spielen. Man hat lange gehofft, die Deutschen würden in diese Rolle reinwachsen, sie sind damit aber schon personell überfordert. Umso wichtiger wäre es, wenn die Europäer, ECHO, die Deutschen, die Skandinavier und andere diese Lücke gemeinsam schließen.

Warum bleiben wir so passiv?

Im Auswärtigen Amt weiß man: Wir haben nicht das Knowhow und die Tradition anderer Geber, und wir haben im Auswärtigen Amt das ganz praktische Problem der permanenten Rotation. Alle drei bis vier Jahre wechselt an Botschaften und in den Referaten das Personal, dadurch gibt es keine Wissensakkumulation und kein Wissensmanagement. Das machen andere Geber wie ECHO, die USA, Kanada oder die Schweiz viel besser. Auch quantitativ, also was die Personalstärke angeht, gibt es ein krasses Missverhältnis zwischen dem Geld, das Deutschland ausgibt und dem Personal, das wir dafür bereit stellen. Deshalb reichen wir viel Geld an die UN-Organisationen durch, weil es am einfachsten ist, es so zu verausgaben. Dies hat unter der neuen Leitung im Amt gegenüber den Vorgängern sogar noch zugenommen.

Warum ist das so? Humanitäre Hilfe ist doch ein politisches Instrument.

Das ist schwer zu sagen, zumal die neue politische Leitung im AA quasi unsichtbar bleibt im Berliner humanitären Austausch. Es könnte sein, dass es zu einem blinden Fleck wurde, weil die neue Hausleitung nach 2021 erst mal massiv in der harten Politik von Krieg, Energiefragen und Allianzenbilden gefordert wurde. Vielleicht musste sie sich erst mal dadurch beweisen und hat vermeintliche Soft-Themen zurückgestellt. Dazu kommt: Das Thema gilt im AA nicht unbedingt als attraktiv und karrierefördernd. Es wird eher als eine Art Spendenverwaltung betrachtet. Dass es bei Humanitärer Hilfe um globale Sicherheit, um Allianzen und um internationale Glaubwürdigkeit geht, wird völlig unterschätzt.

Die NGOs klagen über zu viele bürokratische Anforderungen. Ist das berechtigt?

Sehr berechtigt. In Deutschland haben wir teilweise sehr bürokratische Prozesse, die kleinere Organisationen schnell überfordern und auch verhindern, dass kleine lokale Hilfsorganisationen zum Zuge kommen, weil die das überhaupt nicht leisten können. Und multipliziert sich das auch noch 27 mal in der EU, weil die NGOs gut beraten sind, ihre Programme von verschiedenen Gebern finanzieren zu lassen. Es gab lange Diskussionen, wie man Berichtspflichten und Monitoring vereinheitlichen kann und Deutschland hat hier sehr anerkannte Vorschläge gemacht – die setzt aber keiner um. Die Bürokratie ist ein riesiger Ressourcen- und Zeitverlust, weil man die Mittel wirklich für was anderes bräuchte.

Gleichzeitig braucht es ein enges Monitoring. Denn wenn Mittel unkontrolliert abfließen, ist der „Skandal“-Vorwurf sofort da. Wie löst man das Dilemma?

Bürokratie hilft dabei überhaupt nicht. Wenn der Bundesrechnungshof und Haushaltsreferate ehrlich wären, müssten sie sagen: Wir können nicht wirklich nachvollziehen, was vor Ort passiert. Und ob ein Empfänger womöglich doch etwas mit dem Islamischen Staat zu tun hat oder, wie gerade geschehen, mit der Hamas. Alle Angaben beruhen auf einem Papier-Reporting voller Alibi-Angaben. In dem Glauben, dass alles gemonitort, gender- und risikobewusst, nachhaltig und super pünktlich umgesetzt werden kann, und das oft mitten im Kriegsgebiet. Es ist eine Illusion zu glauben, das vorab kontrollieren zu können.

Was wäre die Alternative?

Es braucht eine höhere Bereitschaft zu Flexibilität und Vertrauen in geprüfte Organisationen, und dazu statt einer kleinstteiligen Ex-Ante-Berichterstattung sich auf eine aussagekräftige Post-Berichterstattung einzulassen, in welcher diese natürlich sehr klar berichten müssten, was sie mit den Mitteln gemacht und erreicht haben, und wo es Rückschläge gab. Da braucht es auch eine größere Fehlertoleranz und mehr Ehrlichkeit. Nichts ist absurder als Hilfswerke, die damit werben, jeder Euro kommt an. Das gibt es überhaupt nicht.

Ralf Südhoff war Vorstandsmitglied von Oxfam Deutschland, arbeitete danach längere Zeit für das Welternährungsprogramm (WFP) in Berlin und Amman, bevor er 2019 zum Gründungsdirektor des Think Tanks „Centre for Humanitarian Action" (CHA) in Berlin berufen wurde.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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