Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sei das mediale Interesse an ihrer Arbeit stark gestiegen, berichtet Natalie Pawlik – auch wenn es aus ihrer Sicht noch Nachholbedarf gibt: „In der breiten Öffentlichkeit wird Aussiedler- und Minderheitenpolitik oft als Nischenthema von untergeordneter Bedeutung wahrgenommen.“ Dabei würden die rund eine Million Angehörigen der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion eine wichtige Mittlerfunktion zwischen den Gesellschaften einnehmen.
Die 30-Jährige sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag, im April 2022 berief sie das Bundeskabinett zur Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. In dem Amt, das seit 1988 existiert und 2002 um die Zuständigkeit für Minderheiten ergänzt wurde und im Innenministerium angesiedelt ist, ist Pawlik die erste Spätaussiedlerin: geboren in Russland geboren, in Deutschland seitdem sie sechs Jahre alt ist.
Ihr Vorgänger Bernd Fabritius, aufgewachsen in Rumänien und bis 2021 für die CSU im Bundestag, ist heute Präsident des Bundes der Vertriebenen. Der Vertriebenenbund sorgte in der Geschichte der Bundesrepublik – seit 1950 vertrat er mehr als viereinhalb Millionen (Spät-) Aussiedler samt Familienangehörigen, 2022 kamen noch gut 7000 hinzu – immer wieder für Diskussionen. Ganz besonders unter seiner 16 Jahre lang amtierenden Präsidentin Erika Steinbach, heute Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.
Pawlik ist die bisher jüngste Beauftragte und hat viel vor. Sie sagt, viele Menschen in Deutschland würden die Geschichte von Aussiedlern und Minderheiten nicht kennen und ihnen mit Vorurteilen begegnen. Das möchte sie ändern, etwa durch eine stärkere Thematisierung im Schulunterricht. Als wichtige Ziele nennt sie zudem den Kampf gegen russische Propaganda und die Unterstützung von Jugendverbänden. Pawlik sieht Minderheitenpolitik „als einen wesentlichen Teil von Friedenspolitik". Sie will mehr Sichtbarkeit und Teilhabe für ihre Gruppen erreichen. Ihre Betätigungsfelder im In- und Ausland sind dabei zahlreich: Die humanitäre Unterstützung für Angehörige der deutschen Minderheit in der Ukraine gehört genau so dazu wie der Kampf gegen die Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen.
In Deutschland gehört die Förderung von Sprache und Kultur der nationalen Minderheiten zu ihren Aufgaben. Es gibt vier gesetzlich anerkannte: die Sorben (rund 60.000), die Friesen (50.000 bis 60.000), die Sinti und Roma (zwischen 100.000 und 180.000) sowie die Dänen (rund 50.000). Nicht als Minderheitensprache, aber als Regionalsprache ist zudem das in einigen Bundesländern beheimatete Niederdeutsch anerkannt, vulgo: Plattdeutsch. Die dänische und friesische Minderheit ist mit dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) nicht nur im Landtag von Schleswig-Holstein, sondern auch im Bundestag vertreten.
Dort stehen demnächst einige Vorhaben aus Pawliks Zuständigkeitsbereich an – derzeit vor allem eine Reform des Bundesvertriebenengesetzes. Die Ampel-Fraktionen wollten diese noch vor der Sommerpause in den Bundestag einbringen, wegen des offenen Streits über andere Themen wurde das Ganze aber verschoben. Es geht vor allem um Erleichterungen im Aufnahmeverfahren für Spätaussiedler, die zuletzt häufiger Ablehnungen erhielten. Vorausgegangen war ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das die Abläufe weiter verkompliziert hat. Für Pawlik zählt jede Woche, weshalb sie die Regierungsfraktionen in einer öffentlichen Mitteilung rügte und an sie appellierte, „im Sinne der Betroffenen und im Bewusstsein der Bedeutung und der Dringlichkeit der Neuregelung zu handeln und die Änderungen (...) so zügig wie möglich umzusetzen".
Altersarmut ist ein weiteres Thema, das die Abgeordnete, die auch im Sozialausschuss sitzt, beschäftigt. Die Bundesregierung brachte Ende 2022 eine Stiftung „zur Abmilderung von Härtefällen aus der Ost-West-Rentenüberleitung“ auf den Weg. Hintergrund: Durch den Beitritt zur Bundesrepublik verloren viele Bürgerinnen und Bürger der DDR einen Teil ihrer Rentenansprüche. Die sogenannte Stiftung Härtefallfonds steht auch Spätaussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen offen, die nach 1991 nach Deutschland kamen.
Die Betroffenen haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf einmalig 2.500 Euro, wenn die Höhe ihrer Rente in der Nähe der Grundsicherung liegt. Das Bundesarbeitsministerium meldete Ende Juni, bisher seien knapp 130.000 Anträge eingegangen, davon gut 70.000 von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern. Wenn sie in einem der Bundesländer wohnen, die sich an der Stiftung beteiligen, sind sogar 5.000 Euro möglich. Zu diesen gehöre bisher Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Hamburg und Bremen – Berlin hat bisher lediglich eine Absichtserklärung hinterlegt.
Bund und Länder hatten sich zuvor – vor allem bei der Finanzierung – nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. Das sei ein wiederkehrendes Problem in ihrem Zuständigkeitsbereich, sagt Pawlik. Umso wichtiger sei es, dass beide Ebenen eng zusammenarbeiteten und gemeinsam versuchten, Probleme und Herausforderungen zu lösen, „statt sich gegenseitig die Verantwortung oder die Schuld zuzuschieben".