Sein letzter Auftritt gehört der Fraktion. Auf Bitten von Friedrich Merz, seinem einstigen Ziehsohn, ergreift Wolfgang Schäuble in einem historischen Moment zum letzten Mal das Wort. So erzählt er es Stunden später am Telefon. Es ist der Tag, als das Bundesverfassungsgericht die Haushaltstechnik der Ampel für verfassungswidrig erklärt; es ist ein Augenblick, in dem die ganze Politik von der Wucht dieser Entscheidung überrascht wird.
Schäubles Botschaft ist eine Doppelte: Zum einen sagt er voraus, dass die Regierungszeit der Ampel endlich sein wird, weil das Urteil so vernichtend ist und die nachfolgende Haushaltsnot für die Dreier-Koalition kaum noch zu schultern sein wird. Zugleich redet Schäuble auch der eigenen Truppe ins Gewissen. Freut euch nicht zu früh und vor allem nicht zu lange. Denn: Was da passiert ist, wird auch euch vor schwierigste Aufgaben stellen.
Es ist, so kann man das wohl sagen: ein typischer letzter Schäuble-Auftritt. Es ist ein Sowohl-als-auch-Signal. Es schwingt die Zufriedenheit des Christdemokraten mit, der an diesem Tag der festen Überzeugung ist, dass seine Partei dem Regieren wieder näher rückt. Und es schwingt der Reflektierende mit, der binnen kürzester Zeit verstanden hat, dass Jubel fehl am Platze ist. Keiner weiß so genau wie der ehemalige Kanzleramts- und Finanzminister, was es heißt, wenn das Gericht derart einschneidend eingreift.
Offen bleibt, ob Schäuble damit auch eine Reform der Schuldenbremse anmahnt, weil er längst ahnt, was da auf Deutschland zukommt. Wenn also Deutschland weltweit ökonomisch so sehr unter Druck gerät wie derzeit – und ebendieses Deutschland der Ukraine womöglich alsbald ganz anders zur Seite stehen muss, sollte Donald Trump noch einmal US-Präsident werden.
Keiner hätte Partei und Fraktion an diesem Tag des scheinbaren Triumphs so unanfechtbar ins Gewissen reden können; von keinem könnte Merz das so ungeschminkt annehmen. Umso spannender dürfte werden, ob sich der heutige Partei- und Fraktionschef diese Botschaft seines Ziehvaters noch zu Herzen nehmen wird. Schäuble, der CDU-Mann, und Schäuble, der Staatsmann, das war nur selten zu trennen. Und es macht gerade im Rückblick die Balance und den großen Unterschied aus, den Merz bislang nicht geschafft hat.
Mehr als 50 Jahre saß Schäuble im Bundestag, er war zweimal Innenminister, er leitete Kohls Kanzleramt, führte später Partei und Fraktion, stürzte über den CDU-Spendenskandal, kehrte mithilfe von Angela Merkel als Bundesminister zurück und war von 2017 bis 2021 Bundestagspräsident. Eine Karriere, wie sie keiner vor ihm hatte und wahrscheinlich kaum einer nach ihm je haben wird. Ein Leben für die Politik – das klingt bei Schäubles Geschichte viel zu lapidar, um zu beschreiben, wie sehr er in allem über Jahrzehnte involviert war.
Und es bekommt eine sehr schmerzvolle Note, wenn man sich an den Mordanschlag 1990 erinnert. Es traf ihn im bis dahin schönsten politischen Augenblick, es nahm ihm über Wochen die Lebensfreude, es zwang ihn anschließend zu einer Disziplin, die fast übermenschlich schien für einen, der Fußball und Tennis geliebt hatte. Ja, Politik war für Schäuble fortan noch mehr Lebenselixier, weil sie ihn ausfüllte. Aber der Schmerz über seine Verwundung hat ihn trotzdem immer begleitet. Stolz und selbstbewusst bis zur Botschaft, dass er sich auch das Kanzleramt zugetraut hatte. Und doch – es war natürlich immer dabei.
Lesen Sie hier die wichtigsten Etappen seines politischen Lebens und erste Reaktionen.
Das Kanzleramt – dieses eine Ziel ist ihm immer verwehrt geblieben. 1998, weil Kohl nicht zur Seite gehen wollte; wenige Jahre später, weil ihn eine 100.000 Mark-Spende politisch zum Rücktritt zwang; zum einen, weil er sie im Parlament verschwiegen hatte; zum anderen, weil man bis heute nicht weiß, wo diese Spende im Gewirr der Aussagen von Schäuble und der damaligen CDU-Schatzmeisterin Brigitte Baumeister tatsächlich landete. Vielleicht hätte er 2005 trotzdem Bundespräsident werden können, ein Teil des eigenen CDU-Präsidiums wollte das unbedingt, aber der damaligen CDU-Chefin Angela Merkel war es zu gefährlich, mit ihm ins Rennen zu gehen. Auch das gehört zu diesem Politikerleben.
Ein später Nachmittag im Herbst 2021. Schäuble hat in sein Büro geladen. Zum Abschied sozusagen. Die Ampel wird bald regieren, und Schäuble will endgültig zurück ins Glied rücken. Die Novemberabendsonne scheint durchs Fenster. Er schaut nochmal lächelnd zum Kanzleramt rüber, das hatte er von hier oben immer im Blick. Nein, er meine es ernst, jetzt sei’s gut, sagt Schäuble. Er schmunzelt verschmitzt, man könnte denken, dass er dahinter schon wieder was im Schilde führt. Dann aber sagt er: „Glauben Sie mir, jetzt ist Schluss.“ Er reicht seine Hand, wir verabschieden uns. Er ist guter Dinge. Etwas mehr als zwei Jahre ist das her, trotzdem wirkt es in der Erinnerung wie vorgestern.
Jetzt ist Schäuble im Alter von 81 Jahren gestorben, am zweiten Weihnachtsfeiertag 2023. Er schlief zu Hause im Kreise seiner Familie friedlich ein, teilten seine Angehörigen mit.