Schon im Vorwort kommt der beim Bundesjustizministerium angesiedelte Normenkontrollrat (NKR) auf den Punkt: Reformen seien nötig, um „die Handlungsfähigkeit der Sozialleistungsverwaltung sicherzustellen und das Vertrauen der Menschen in den Staat zu stärken“. Was der Vorsitzende Lutz Goebel auf zwei Seiten beschreibt, fasst die weiteren 118 Seiten des Gutachtens bereits zusammen: Intransparenz, überflüssige Doppelstrukturen, enormer Erneuerungsbedarf. Das Gremium – das sich als „Impulsgeber für ein modernes Deutschland“ sieht – macht klar, dass es aus seiner Sicht nicht so weitergehen kann wie bisher.
Stefan Graaf, Sprecher des Bundesnetzwerks Jobcenter, teilt die Einschätzung. Die rechtskreisübergreifenden Beziehungsgeflechte sind „ selbst von Fachleuten kaum noch beherrschbar“, so der Geschäftsführer des Jobcenters StädteRegion Aachen zu Table.Briefings. Mit Rechtskreisen sind die dreizehn Sozialgesetzbücher (SGB) gemeint. Das Bürgergeld, ehemals Arbeitslosengeld II, liegt etwa beim SGB II. Die Arbeitsvermittlung sowie das Arbeitslosengeld I hingegen beim SGB III.
Auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen (siehe Grafik) sieht Graaf als Teil des Problems. Die über Jahrzehnte gewachsene Vielfalt der Systeme produziere einen „ Sozialdschungel “. Die Folge: ein großer Aufwand nicht nur für Bedürftige, sondern auch Behörden. Das geben auch vom NKR befragte Fachleute aus der Praxis zu Protokoll: Die Komplexität führe zu „ gefühlter Intransparenz und Willkür“. Und zwar insbesondere dann, wenn mehrere Leistungen von unterschiedlichen Stellen bezogen werden und komplizierte Formulare das ihre beitragen.
Dazu kommen neben fehlendem Datenaustausch – Antragsteller müssen oft mehreren Stellen die gleichen Daten übermitteln – sogenannte Vor- und Nachrangverhältnisse. Bevor man zum Beispiel Bürgergeld bekommt, wird geprüft, ob man nicht mit Wohngeld und Kinderzuschlag auskommt. Wer Wohngeld bekommt, kann aber nicht gleichzeitig Bürgergeld beziehen. Je nachdem, wie sich die eigenen Einnahmen und Ausgaben entwickeln, kann es sogar sein, dass man mehrmals im Jahr zwischen den Leistungen hin- und herwechselt.
Beim Bürgergeld spielt dabei der Begriff der Bedarfsgemeinschaft (BG) eine zentrale Rolle. Wer mit einem Partner und/oder einem Kind unter 25 zusammenlebt, für den gilt: Man „wirtschaftet gemeinsam“, ist also aus Sicht des Staates finanziell füreinander verantwortlich – egal, wie gut oder schlecht man sich im Alltag versteht. Es wird kontinuierlich geprüft, wer wie viel Geld und welche Ansprüche hat – das verkompliziert die Berechnungen noch einmal.
Außerdem kommt es immer wieder vor, dass eine Behörde finanziell in Vorleistung geht und sich dann herausstellt, dass sie nicht zuständig ist. Dies führt zu Erstattungspflichten zwischen Ämtern, was eine permanente Abstimmung erfordert. Das bindet Ressourcen, was Normenkontrollrat und Jobcenter-Sprecher Graaf unter Verweis auf den Arbeits- und Fachkräftemangel kritisieren. Der NKR hält es für „ mehr als fraglich, ob die Handlungsfähigkeit der Sozialleistungsverwaltung langfristig sichergestellt werden kann“.
Der „Quell allen Übels“ ist laut Graaf ein wegen fehlender Harmonisierung nicht „digitaltaugliches“ Recht: Nicht nur die rechtlichen Grundlagen für Leistungen sind verschieden, sondern auch die Definition von Begriffen. Ein Beispiel: „Einkommen“. Allein im Sozialversicherungsrecht werden beispielsweise Arbeitseinkommen, steuerpflichtiges Einkommen und Gesamteinkommen unterschieden, wie der damalige Bundessozialgericht-Präsident Rainer Schlegel kürzlich im Interview mit Table.Briefings ausführte.
Im Koalitionsvertrag hatten sich die Ampel-Parteien deshalb vorgenommen, ihn zu vereinheitlichen. Bisher ist das nicht geschehen. Das wäre dem neuen Gutachten zufolge jedoch eine wesentliche Voraussetzung für die Automatisierung des Sozialstaats.
Dass Änderungen nicht einfach sind, liegt auch an der Politik: Vier Ministerien sind für Sozialleistungen zuständig. Arbeit und Soziales für das Bürgergeld, Bauen für das Wohngeld, Familie für das Elterngeld und Finanzen für das Kindergeld – und das sind nur die bekanntesten von mehr als 170. Nachdem sich bereits der Ökonom Holger Bonin im Interview mit Table.Briefings für ein zentrales Ministerium ausgesprochen hatte, tut das nun auch der NKR. Er hält eine Bündelung der federführenden Zuständigkeit für „ die logische Konsequenz “.
Auf die Frage hin, wie sie dessen Empfehlungen bewerten, betonen Arbeits- und Bauministerium, dass sie sich nur zu Anregungen innerhalb ihrer Zuständigkeit äußern. Das BMAS teilt mit, es prüfe das Gutachten noch, bemühe sich grundsätzlich aber laufend darum, „überflüssige Bürokratie abzubauen“. Zudem habe man Leitlinien für den KI-Einsatz in der Arbeits- und Sozialverwaltung entwickelt, um Verwaltungsabläufe effizienter zu gestalten.
Das BMWSB schreibt hinsichtlich der seit der Reform 2023 stark belasteten Wohngeldstellen: „Digitalisierung und eine pragmatische Verwaltungspraxis werden Abhilfe schaffen.“ Konkret nennt es die – noch nicht überall verfügbare – Möglichkeit, die Leistung digital zu beantragen und Behörden zur Verfügung gestellte Hinweise für eine vereinfachte Antragsbearbeitung.
Allgemein verfolge man die aktuelle Debatte in Wissenschaft und Politik rund um mögliche Vereinfachungen „mit großer Aufmerksamkeit“, so das Ressort. Ähnlich äußert sich das BMFSFJ. Es sieht im Gutachten wichtige Impulse, die Gegenstand einer „umfassenderen Diskussion zur zukünftigen Weiterentwicklung des Sozialstaates“ sein sollten.
Die Politik ist nicht gänzlich untätig: Seit 2018 stellt das Ministerium von Lisa Paus ein Portal mit Informationen zu Familienleistungen zur Verfügung, jenes von Hubertus Heil seit 2022 eine Plattform mit einer Übersicht zu Sozialleistungen insgesamt. Beantragen kann man die Leistungen dort allerdings nicht. Immerhin kann man in bisher elf Bundesländern einen digitalen Assistenten zur Beantragung von Elterngeld nutzen, für den Bezug von Bürgergeld gibt es „Jobcenter.digital“.
Der Normenkontrollrat hebt hervor, dass Verbesserungen in Sachen Effizienz nicht nur die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats erhöhen würden. Vielmehr gehe es auch um das Vertrauen in demokratische Institutionen. Als zentraler Bestandteil möglicher Lösungen gilt das Once-Only-Prinzip: Antragsteller sollten ihre Daten nur einmal abgeben müssen und Behörden sie dann selbstständig digital abgreifen können. Damit sich die Verwaltung auf die individuelle Beratung von Menschen und außergewöhnliche Einzelfälle konzentrieren kann, brauche es darüber hinaus eine grundlegende Bündelung der Sozialleistungen.
Der Vorschlag des NKR: Bürgergeld für den persönlichen Bedarf von Volljährigen, eine Kindergrundsicherung für Minderjährige sowie Wohngeld für Wohnkosten. Eine ähnliche Idee hatte der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums, auf den sich das Gremium bezieht, vor einiger Zeit ins Spiel gebracht. In dem Fall würden die „Kosten der Unterkunft“ aus dem Bürgergeld und eine derzeit noch geplante Wohnkostenpauschale aus der Kindergrundsicherung herausgenommen.
Eine große Sozialstaatsreform wäre nicht nur an sich eine „Herkulesaufgabe“, wie Stefan Graaf vom Bundesnetzwerk Jobcenter sagt, sondern würde noch eine Herausforderung beinhalten: die Erarbeitung von Änderungen, von deren Erfolgen die verantwortlichen Akteure selbst politisch womöglich nicht mehr profitieren.