Die deutsche Strafjustiz ist derzeit gefordert wie kaum je zuvor. Der schwindende gesellschaftliche Zusammenhalt, der Umbruch durch die Digitalisierung, neue Straftatbestände und Strafverschärfungen sowie immer komplexere Verfahren etwa in Wirtschaftsstrafsachen haben die Zahl der Fälle und damit der Aufgaben massiv erhöht. Inzwischen bringen sie Staatsanwältinnen und Strafrichter an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit.
Zugleich werden die Mahnungen lauter, rasch und entschieden zu handeln, um das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat nicht weiter erodieren zu lassen. Die Frage ist, inwieweit Richter und Staatsanwälte diesen Erwartungen mit dem derzeitigen Stand an Personal und Ausrüstung gerecht werden können. Der Deutsche Richterbund (DRB) klagt, bundesweit fehlten „mehr als 1000 Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte“. Mit teils dramatischen Folgen.
Die Regierungen, im Bund wie in den Ländern, kann das nicht mehr kaltlassen. Es geht um die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit des Staates, und es geht um die Frage, wer sich das zunutze macht, wenn der Staat gerade an der Stelle nicht liefert. Für Aufsehen sorgten jüngst Berichte, dass auch bei den Schöffen, also den Laienrichtern, akut Personal fehlt. Erkannt hat das mittlerweile vor allem die AfD; sie motiviert ihre Mitglieder und Sympathisanten, sich verstärkt auf Schöffen-Stellen zu bewerben. Überlastungen des Justizsystems schwächen nicht nur das Ansehen von Richtern, Staatsanwälten und den Beamten im Strafvollzug. Es schwächt den Staat und die Demokratie insgesamt. Aussicht auf Besserung besteht aktuell nicht. Im Gegenteil.
Drei Nachrichten aus der Welt der Strafjustiz: Am 30. Juni vergangenen Jahres werden in Frankfurt vier Männer aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie stehen im Verdacht versucht zu haben, zwei Menschen umzubringen. Einer der beiden kommt nur knapp mit dem Leben davon. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anfang 2022 Anklage wegen versuchten Totschlags. Doch im Juni 2022, die Angeschuldigten sitzen da bereits fast ein Jahr in Untersuchungshaft, hat die Hauptverhandlung vor Gericht noch immer nicht begonnen. Der Grund: Personalmangel am Landgericht Frankfurt.
Am 3. Februar diesen Jahres darf Muhamed Remmo, Mitglied eines Berliner Clans, die Justizvollzugsanstalt Moabit verlassen, obwohl er noch mehrere Jahre Haft absitzen müsste. Wegen der Drogensucht des Verurteilten hatte das Gericht jedoch angeordnet, ihn neben der Haft für bis zu zwei Jahre im Maßregelvollzug unterzubringen – also in einem Haftkrankenhaus, um sich dort einer Entziehungskur zu unterziehen. Weil es dort in angemessener Zeit keinen Platz für ihn gibt, ordnet die Strafvollstreckungskammer seine Haftentlassung an.
Zwischen diese beiden Vorfälle fällt die jüngste Silvesternacht. Dabei kommt es in Berlin zu Krawallen. Gewalttäter greifen Polizeibeamte, Feuerwehrleute und andere Einsatzkräfte an. Medien und Öffentlichkeit reagieren entsetzt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) fordert: „Ein schnelles Aburteilen dieser jugendlichen Straftäter – das ist das Maß der Dinge.“ Nur eine schnelle Strafe schaffe Respekt. Die Frage ist nur, wie überlastete Richterinnen, Staatsanwälte und Vollzugseinrichtungen diesen Forderungen gerecht werden sollen.
Der Deutsche Richterbund spielt den Ball zurück. „Die Politik, die nach den Silvesterkrawallen in Berlin erneut nach einer konsequenten, schnellen Strafverfolgung gerufen hat, muss die in vielen Bundesländern schlank gesparte Justiz dann auch schlagkräftiger ausstatten“, fordert der Bundesgeschäftsführer des DRB, Sven Rebehn. Und weiter: „Angesichts der hohen Arbeitsbelastung und stetig wachsender Aufgaben kann eine Trendwende zu schnelleren Verfahren nur mit mehr Personal gelingen.“
Der Richterbund untermauert seine Forderung mit Zahlen. Danach mussten 2022 mindestens 73 Menschen aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil ihre Verfahren zu lange dauerten. Spitzenreiter unter den Bundesländern war Bayern, wo 15 Verdächtige freikamen, weil Untersuchungshaft- oder Unterbringungsbe-fehle aufgehoben werden mussten. Auf die Bevölkerungszahlen hochgerechnet liegt Bayern im Mittelfeld der Länder. „Dennoch ist jeder Fall einer Haftentlassung ein Fall zu viel“, heißt es im Bayerischen Justizministerium.
2021 waren es bundesweit bereits 66, 2020 noch 40 Fälle. Der DRB verweist zudem auf eine aktuelle Allensbach-Befragung von mehr als 800 Richtern und Staatsanwälten für den noch nicht veröffentlichten Rechtsreport 2023 des Unternehmens Roland Rechtsschutz. Danach erklärten nur 20 Prozent der Richter und 15 Prozent der Staatsanwälte, Verfahren mit Untersuchungshaft gegen Beschuldigte durchgehend mit der rechtsstaatlich gebotenen Beschleunigung bearbeiten zu können.
Dabei waren Bund und Länder nicht untätig. Sie haben durch den so genannten Ersten Rechtsstaatspakt v on 2017 bis 2021 mehr als 2500 neue Stellen für Juristen bei der Justiz geschaffen. Der Entlastungsprozess sei jedoch, so der Richterbund, durch neue gesetzliche Aufgaben wieder aufgezehrt worden. Justizvertreter verweisen auf immer mehr Arbeit mit der Hate-Kriminalität im Internet, mit Kinderpornografie oder äußerst aufwendigen Wirtschaftsstrafsachen. Auch die Datenmengen steigen ständig weiter an. Obendrein muss die Justiz bis 2026 die elektronische Akte einführen. Auch das bindet Kräfte.
Das alles schlägt sich in der Verfahrenslänge nieder. Laut Statistischem Bundesamt dauerten erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Landgericht ab Eingang der Fälle bei der Staatsanwaltschaft im Jahr 2011 noch 17 Monate. 2021 waren es bereits 21 Monate. Auch im Bereich der Amtsgerichte stieg die Verfahrensdauer deutlich an. Die Deutschen nehmen diese Veränderungen längst wahr. Laut einer weiteren Allensbach-Umfrage im Auftrag der Roland Rechtsschutz-Versicherung halten 75 Prozent der Bevölkerung die Gerichte für überlastet. Gerade in Krisenzeiten sei aber ein gut aufgestellter Rechtsstaat für die freiheitliche Demokratie besonders wichtig, mahnt der Richterbund.
Die Probleme häufen sich nicht nur in der Strafjustiz, sondern auch bei den Zivilgerichten, die massenhaft eingereichte Klagen bewältigen müssen, etwa in Diesel-, Corona- oder Flugreisefällen. Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) fordert bereits eine Großreform des Zivilprozesses. So sei die geltende Zivilprozessordnung nur für die Papierakte, nicht aber für die elektronische Akte gemacht. „Die derzeitige Rechtslage führt zu einem unnötigen Verschleiß wertvoller Justizressourcen.“
Eisenreich fordert zudem, der Bund müsse sich an den Kosten beteiligen, die den Ländern durch neue Bundesgesetze entstehen. Dazu gehören etwa neue oder schärfere Strafvorschriften bei der Wirtschafts- oder Cyberkriminalität. Die Ampelkoalition im Bund habe zwar angekündigt, den Pakt für den Rechtsstaat zu verstetigen. Doch „die Bundesregierung möchte sich inzwischen erkennbar um die Erfüllung dieser Aufgaben drücken“.
Ähnlich lautet die Kritik des Deutschen Richterbundes. Bundesgeschäftsführer Rebehn mahnt einen zweiten Rechtsstaatspakt von Bund und Ländern an, wie ihn die Ampelparteien in Aussicht gestellt hätten. Der Bund solle den Ländern durch eine Anschubfinanzierung helfen, bis 2025 insgesamt 1000 zusätzliche Stellen bei der Strafjustiz zu schaffen. „Wer einen wehrhaften, starken Rechtsstaat verspricht, darf es nicht bei Ankündigungen belassen.“